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Die 100 besten Songs von Bob Dylan
Wir fragten die größten Dylan-Experten nach ihren Favoriten - von 'Just Like A Woman' bis 'John Wesley Harding'. Mit Würdigungen von Bono, Mick Jagger, Jim James, Lucinda Williams und anderen.
100. Señor (Tales Of Yankee Power) - STREET LEGAL (1978). Dylan verriet, dass dieses gespenstische Country-Rock-Epos von einem Mann inspiriert wurde, den er auf einer Zugfahrt von Mexiko nach San Diego beobachtete:
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Michael Ochs Archives/Getty Images.
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100. Señor (Tales Of Yankee Power) – STREET LEGAL (1978). Dylan verriet, dass dieses gespenstische Country-Rock-Epos von einem Mann inspiriert wurde, den er auf einer Zugfahrt von Mexiko nach San Diego beobachtete:
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„Er muss 150 Jahre alt gewesen sein. Seine Augen schienen zu brennen, aus seinen Nasenflügeln strömte Rauch.“ Ganz schön heftig, aber hey: Zumindest hatte der Mann das Glück, Dylan kennenzulernen.
99. John Wesley Harding – JOHN WESLEY HARDING (1967). „Ich wollte eine Ballade schreiben“, erzählte Dylan Jann Wenner, „vielleicht einen dieser alten Cowboy-Songs, wissen Sie, eine richtig lange Ballade.“ Stattdessen aber wurde der Titeltrack von „John Wesley Harding“ eine Parabel über die Moralität des gesellschaftlichen Außenseiters …
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John Wesley Harding war ein Bösewicht im ausgehenden 19. Jahrhundert, doch Dylans Charakterisierung als „friend to the poor“ und „was never known to hurt an honest man“ war weniger realistisches Porträt, sondern eher die Glorifizierung einer urwüchsigen Epoche, die seiner neuen, bodenständigen Musik entgegenkam. Nur mit Drummer Kenny Buttrey und Bassist Charlie McCoy in Nashville aufgenommen, ist es ein Loblied auf Askese und Idealismus.
98. Corrina, Corrina – THE FREEWHEELIN‘ BOB DYLAN (1963). „Corrina, Corrina“ ist ein frühes Beispiel, wie Dylan Folk in einen Pop-Kontext verpflanzte – oder auch umgekehrt. Der Song war unter verschiedenen Titeln schon seit Jahrzehnten ein Blues- und Country-Standard und wurde u.a. von Blind Lemon Jefferson, Chet Atkins, Big Joe Turner und Teen-Idol Ray Peterson aufgenommen – gewöhnlich als flotte Tanznummer …
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Dylan interpretiert sie als düstere Ballade und baut eine Verneigung vor Robert Johnsons „Stones In My Passway“ ein, was das Gefühl
von Verlust und Liebeskummer nur noch verstärkt. Aber so sensibel Dylans Interpretation auch sein mag – „Corrina“ bewies ebenfalls seine Affinität zum Rock’n’Roll: Es ist eine der ersten Dylan-Aufnahmen, auf denen ein Schlagzeug zu hören ist.
97. Where Are You Tonight? (Journey Through Dark Heat) – STREET LEGAL (1978). Der letzte Track eines Dylan-Albums ist oft genug auch eine Vorschau auf das kommende – man höre nur „I’ll Be Your Baby Tonight (von „John Wesley Harding“), das auf den Country-Sound von „Nashville Skyline“ überleitet.
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Das elegische „Where Are You Tonight?“, das „Street Legal“ abschließt, deutet bereits die Hinwendung zum Christentum an, die auf „Slow Train Coming“ zum Tragen kommt. „I couldn’t tell her what my private thoughts were“, singt Dylan, offensichtlich in der Angst, dass sie ihm zu seinem „new day at dawn“ eh nicht folgen könne. Es war ein Ort, der auch vielen seiner Fans verschlossen blieb.
96. Farewell, Angelina – THE BOOTLEG SERIES VOL. 1 – 3 (1991). Der Outtake von „Bringing It All Back Home“ wartet mit einigen seiner poetischsten Kreationen auf – mit tanzenden Kobolden, King Kong, schielenden Piraten, 52 Zigeunern und Widersachern, die „nail time bombs/ To the hands of the clocks“. Gleichzeitig aber ist es auch ein liebevoll gesungener Farewell-Song an ein Mädchen – und vielleicht auch an seine Vergangenheit als folkiger Songwriter …
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Zwar basierte der Song wohl auf dem schottischen Traditional „Farewell To Tarwathie“, doch neben seinen textlichen Kapriolen fügte Dylan auch noch eine Melodie hinzu, die ebenso unheilvoll wie tröstlich klingt. Es war aber die Coverversion von Joan Baez, die „Farewell, Angelina“ unsterblich machen sollte.
„On A Night Like This“ gemahnt an eine verschneite Hütte oder eben die „Basement Tapes“-Tage in upstate New York, als Dylan und The Band in der Lage waren, auch die letzten Winkel amerikanischer Musik auszukundschaften. „We got much to talk about/ And much to reminisce“, singt er. Es war vielleicht nur eine kurze Wiedervereinigung, aber bewegend war sie in jedem Fall.
„All the young men with their young women looking so good“, singt er. „Well, I’d trade places with any of them in a minute, if I could.“ Zur Zeit der Veröffentlichung von „Time Out Of Mind“ war er gerade erst 56, doch das Thema Todesangst liegt über dem ganzen Album. Dylan behauptete, dass „Highlands“ auf einem Riff von Charlie Patton basiere, aber bis heute hat noch niemand ein Riff gefunden, das diesem auch nur entfernt ähneln würde.
93. Pay In Blood – TEMPEST (2012). Bevor er Anfang 2012 mit seiner Tour-Band Jackson Brownes Studio in L.A. aufsuchte, hatte er verlauten lassen, nach langer Pause wieder ein religiöses Album in Angriff nehmen zu wollen. Stattdessen begann er das sechste Jahrzehnt seiner Karriere mit „Tempest“, einem brutal intensiven Album, das die spezifisch amerikanische Variante von Gewalt und Tragik in den Fokus rückt …
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In dem blutrünstigen „Pay In Blood“ singt Dylan über einem „Exile“-Ära-Stones-Riff: „I’ll drink my fill and sleep alone/ I pay in blood but not my own.“ Er könnte ein Sklaventreiber sei, ein Revolverheld oder ein skrupelloser Politiker. „Man nennt es Tradition“, sagte Dylan dem ROLLING STONE. „Und genau damit beschäftige ich mich.“
Das Highlight jedoch ist „Going, Going Gone“ – inhaltlich eine vage Andeutung von Selbstmord, musikalisch aber voller Lebensfreude: Robbie Robertsons Gitarre klang nie kompakter, während Garth Hudsons Orgel sakrale Erhabenheit verströmt. Auf mehreren Tracks spürt man, wie Dylan seinem Gesang eine neue, rohe Intensität zu geben versucht. Auf einer unveröffentlichten Version versuchte er sich sogar erstmals an einem Overdub.
91. You’re A Big Girl Now – BLOOD ON THE TRACKS (1975). Gibt es einen Moment in Dylans Werk, in dem er liebeskranker klingt als hier? „I can change, I swear“, lamentiert er, um dann wie ein verletzter Hund zu heulen. Wenn ja, dann finden wir ihn später im gleichen Song, wo er die „pain that stops and starts, like a corkscrew to my heart“ beschreibt …
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Schon auf seinem ersten Anlauf, später auf „Biograph“ veröffentlicht, klingt er wie ein waidwundes Tier, doch hier ist der Schmerz noch stechender. „Ich las, dass es sich dabei um meine Frau handeln solle“, schrieb Dylan in den Liner-Notes zu „Biograph“. „Ich schreibe aber nun mal keine Bekenner-Songs. Das sieht nur so aus – so wie Laurence Olivier scheinbar Hamlet sein muss.“
Einfach perfekt! Ich wünschte, mir fiele so was ein. Aber die Leute, die ihn zu kopieren versuchten, machten sich allesamt lächerlich. Eine ganze Generation versuchte sich daran, schoss sich mit überkandidelten Wortschöpfungen aber nur selbst ins Bein. Ich versuche noch immer, mir eine Scheibe von ihm abzuschneiden, aber man fühlt sich wie ein Dieb, der in ein Haus einbricht und feststellt, dass alle Gegenstände 50 Zentner wiegen. Man fragt sich: „Scheiße, wie soll ich die Sachen bloß hier rauskriegen?“ Es geht einfach nicht. In den Achtzigern spielte ich ein paar Mal in seinem Vorprogramm. Ich saß auf der Bühne und schaute ihm beim Singen zu. Es war eine unglaubliche Erfahrung. Er sprach damals reichlich dem Alkohol zu, aber es schien ihm nichts auszumachen. Damals meinten viele auch, dass er nichts Gescheites mehr abliefern würde: „Die Produktion klingt fast wie Phil Collins“, solche Sachen. In meinen Augen hingegen waren es Volltreffer.
89. Changing Of The Guards – STREET LEGAL (1978). Es gibt reichlich Bizarres in Dylans Repertoire, aber kaum etwas, das so kryptisch ist wie der Opener des ‘78er Albums „Street Legal“. „They shaved her head“, singt Dylan über ein dichtes Soundbett aus R&B-Vocals und neonnächtlichem Saxofon. „She was torn between Jupiter and Apollo.“ Es wimmelt nur so vor Anspielungen auf Tarot-Karten – was einige Dylanologen als Hinweis verstanden, dass der Meister hier seine Lebensphase aufarbeite, in der er nach New York zog und seinen Namen in Dylan änderte …
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Wie dem auch sei: Die Nummer ist einer seiner vergessenen 70’s-Meisterwerke, gerade viel sie offen ist für alle nur denkbaren Interpretationen. Eine beeindruckende Deutung lieferte Patti Smith, als sie sich 2007 an einer beißenden, politisch aufgeladenen Version von „Changing Of The Guards“ versuchte.
Die Atmosphäre unkontrollierter Brutalität und angeborener Bösartigkeit durchzieht diesen Song, in dem Johannes der Täufer den Folterknecht spielt, während Jack the Ripper zum Chef der Handelkammer aufgestiegen ist. Gitarrist Michael Bloomfield untermalt Dylans sintflutartigen Wortschwall mit einem spröden Chicago Blues, der nicht minder bösartig klingt wie Dylans verbaler Furor.
87. Most Of The Time – OH MERCY (1989). „Most Of The Time“ war nicht der einzige Song auf „Oh Mercy“, dessen Geburt problematisch verlief. Dylan sah in ihm einen simplen, reduzierten Folk-Song, während ihn Lanois seiner vollfetten Swamp-Sound-Behandlung unterziehen wollte. Dylan zog den Kürzeren und veröffentlichte seine Ur-Version erst 2008 auf „The Bootleg Series 8: Tell Tale Signs“ …
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Der Song thematisiert Verlust und Verarbeitung einer alten Liebschaft („Don’t even remember what her lips felt on mine/ Most of the time“), wobei beide Versionen durchaus ihren Charme haben: Während Dylans gedrosselte Fassung unmittelbar ins Mark geht, arbeitet Lanois‘ langsam anschwellende Klangkulisse den Schmerz so plastisch heraus, als säße man bei dem emotionalen Drama in der ersten Reihe.
Seine Live-Premiere erlebte der Songs erst 2007 in Nashville, als Jack White auf die Bühne kam und beim Gesang aushalf. Einen praktisch identischen Song namens „Call Letter Blues“ hatte Dylan fast gleichzeitig aufgenommen (s. „The Bootleg Series Vol. 1 – 3“) und damit bewiesen, dass die zugrunde liegende Idee auch für zwei Songs gut genug war.
Im Januar 1966 versuchten sich Dylan und The Band 19 Mal an dem Track, doch die meisten Aufnahmen wurden gelöscht, als sich Dylan entschloss, die Aufnahmen nach Nashville zu verlegen. Mit den dortigen Sessions-Profis unternahm er keinen weiteren Versuch, doch das verbleibende New Yorker Demo liefert genau die Kombination aus Lässigkeit und Biss, die der Song braucht.
84. The Man In Me – NEW MORNING (1970). Manchmal hilft ein ungewöhnlicher Film, die Qualitäten eines Songs ins rechte Licht zu rücken. Vor „The Big Lebowski“, dem Kult-Klassiker der Coen-Brüder von 1998, war „The Man In Me“ ein halbvergessener Track von „New Morning“. Aber der Einsatz in der langen Traum-Sequenz des Films brachte den schäbigen Charme des Songs optimal zur Geltung …
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Noch heute grölen kostümierte „Lebowskis“ auf den Fan-Conventions den Text begeistert mit – und Jeff „The Dude“ Bridges, inzwischen auch Country-Sänger, hat ihn natürlich in seinem Repertoire. Dylan klang selten so enthusiasmiert wie im Intro mit seinem „La-la-la“ – und die gospelnden Back-up-Vocals passen perfekt zu einem Song, der von der befreienden Erlösung in schweren Zeiten erzählt.
83. Nettie Moore – MODERN TIMES (2006). „Ich ließ den Lyrics einfach freien Lauf … und irgendwie schienen sie Vergangenes in die Gegenwart zu spülen“, sagte Dylan dem ROLLING STONE 2006, als er über die eigentümliche Bodenständigkeit von „Modern Times“ sprach …
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In „Nettie Moore“ greift er auf das Folk-Traditional „Moonshiner“ zurück wie auch auf Zeilen aus „Gentle Nettie Moore“, einem Lied von Marshall Pike und James Lord Piermont aus dem Jahr 1857 – und schaffte es trotzdem, daraus einen seiner persönlichsten Songs zu formen: Dylan ist der desillusionierte Kopf eine „cowboy band“, der die Heimkehr seiner Liebsten ungeduldig erwartet, um endlich einen Schlussstrich unter Sünden, persönliche Altlasten und die „bad-luck women“ zu ziehen. „I’d walk through a blazing fire“, schmachtet er, „if I knew you were on the other side.“
82. One Of Us Must Know (Sooner Or Later) – BLONDE ON BLONDE (1966). Für einen seiner grimmigsten „Verpiss dich“-Songs brauchte Dylan neun Stunden, 24 Anläufe und mehrere personelle Konstellationen (aus Sessionmusikern und The Band-Mitgliedern), bis er ihn endlich festgenagelt hatte …
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81. Series Of Dreams – THE BOOTLEG SERIES VOL. 1 – 3 (1991). Nach dem absoluten Tiefpunkt seiner Karriere setzte er sich mit Daniel Lanois zusammen, um 1989 mit „Oh Mercy“ sein kreatives Comeback zu feiern. Dass er dabei eins der Highlights wieder vom Album nahm, konnte bei Dylan nicht wirklich überraschen. In den „Chronicles“, seinen Memoiren von 2005, schrieb er:
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„Lanois mochte die bridge mehr als den Rest und meinte, der ganze Song müsse so sein … Es war einfach nicht machbar … Es war nicht dienlich, den Song in diesem Licht zu sehen.“ Zwei Jahre später wurde die Aufnahme doch veröffentlicht und war, wie im Titel angedeutet, ein Strom visueller Fragmente („In one, the surface was frozen/ In another I witnessed a crime“), die Dylan aber mit der Klarheit eines Mannes abliefert, der gerade aus einem Traum erwacht.
80. Someone’s Got A Hold Of My Heart – THE BOOTLEG SERIES VOL. 1 – 3 (1991). Dylan nahm diese zarte Nummer für „Infidels“ auf, entsorgte sie aber, um Platz für deutlich schwächeres Material („Union Sundown“ und „Neighborhood Bully“) zu schaffen …
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Zwei Jahre später nahm er sie mit Produzent Arthur Baker für „Empire Burlesque“ erneut auf, diesmal mit kitschigen Synths, peinlichen Backup-Vocals, minderen Lyrics und einem neuen Titel: „Tight Connection To My Heart“. Als die Originalversion endlich auftauchte, erhielt man einen Einblick in die spirituelle Richtungslosigkeit dieser Jahre: Er stand an einem Scheideweg seiner Karriere – und wusste nicht, welche Richtung er wählen sollte.
Und das ist schwerer, als es sich ein Nicht-Musiker vielleicht vorstellen kann. Dylan war in der Lage, sich mit Herz und Seele in diese spezifische Situation hineinzuversetzen: Er ist ein einsamer Outlaw in der Wüste, der Versuchungen und gefährliche Prüfungen bestehen muss. Man nimmt ihm dieses maskuline Gebaren einfach ab, weil er die Rolle so überzeugend spielt.
Vor ein paar Jahren hatten wir die Ehre, „Maggie’s Farm“ bei den Grammys zu spielen – mit Dylan zusammen. Ich konnte beim Spielen einfach nicht aufhören zu grinsen. Er war unglaublich freundlich, aber bei den Proben auch sehr direkt und geradeaus – es blieb keine Zeit für Spielchen. Unser Freund Donnie Herron, der in Dylans Band spielt, erzählte uns, dass Dylan im Tourbus unablässig spielt. Die Leute haben überhaupt keine Vorstellung, wie viele Songs er tatsächlich drauf hat. Wie schauen zu ihm auf, weil er ein weiser Mann ist, weil er uns auf seiner Reise so weit voraus ist. Aber in gewisser Weise sehen wir in ihm auch einen Kameraden.
Dylan selbst wartete über 20 Jahre, bevor er ihn in sein Live-Repertoire aufnahm, auch wenn er zu diesem Zeitpunkt schon regelmäßig gecovert wurde – von den frühen Garage-Punkern The Flamin‘ Groovies bis zu den Alt-Country-Vorreitern Jason and the Scorchers. Als er 1991, zum 25. Jubiläum des Songs, einen Blick zurück warf, klopfte sich Dylan wohlgefällig auf die Schulter: „Er ist erstaunlich gut gereift. Wie alter Wein.“
77. Tonight I’ll Be Staying Here With You – NASHVILLE SKYLINE (1969). „Ich war fast fünf Jahre lang unterwegs – und es hat mich mürbe gemacht. Ich hab Drogen genommen, alle möglichen Sachen … Ich möchte so nicht mehr weiterleben“, sagte er dem ROLLING STONE 1969 …
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Auf dem letzten Track „Nashville Skyline“ (einem Blutsbruder von „I’ll Be Your Baby Tonight“ auf „John Wesley Harding“) macht er den Eindruck, als suche er nun das häusliche Glück. Dass er den Song durchaus wilder interpretieren konnte, bewies er aber Jahre später auf der „Rolling Thunder Revue“. Und selbst heute noch, auf seiner „Never-Ending Tour“, nimmt Dylan die Nummer gerne noch einmal in die Set-List auf.
Den „savage soldier“, die „motorcycle-black Madonna“ oder die „gray-flannel dwarfs“. Sie alle warten darauf, in den Garten Eden eintreten zu dürfen – doch dann stellt sich heraus, dass das vermeintliche Paradies nur ein Ort ohrenbetäubender Stille ist. Es ist ein Angriff auf die landläufige Vorstellung der himmlischen Erlösung. „Viele Leute warten so lange, bis sie am Ende der Schlange stehen“, sagte Dylan Jahre später. „Man muss nicht so lange warten. Die Erlösung beginnt hier und heute.“
75. Sweetheart Like You – INFIDELS (1983). Er ist frauenfeindlich („A woman like you should be at home“), er ist ein textliches Konvolut aus romantischen und religiösen Motiven („They say in your father’s home, there’s many mansions/ Each of them got a fireproof floor“), aber mit seinen abschließenden Worten macht Dylan deutlich, dass „Sweetheart Like You“ letztlich ein Song voller Zuneigung und Zärtlichkeit ist …
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Viele Dylan-Exegeten interpretieren ihn als den Schlusspunkt seiner christlichen Phase und vermuten im Refrain („What’s a sweetheart like you doing in a dump like this?“) eine Metapher für Jesus, der von einer korrupten Kirche verleumdet wurde. Sollte das zutreffen, wäre es allerdings ein sehr unorthodoxes Lebewohl.
74. All I Really Want To Do – ANOTHER SIDE OF BOB DYLAN (1964). Mit „The Times They Are A-Changin‘“ hatte sich der junge Dylan den Ruf erworben, die zornige Stimme einer rebellierenden Generation zu sein. Dylan wäre nicht Dylan, hätte er das nächste Album nicht mit einem leichtgewichtigen Kontrapunkt eröffnet,
der gleichzeitig das modische Gerede von der „männlichen Sensibilität“ aufs Korn nimmt …
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Er erstellt eine absurde Liste von Dingen, die er nie tun würde („fight with you“, „tighten you“, „drain you down“, „bring you down“), um die Zuneigung der angebeteten Frau zu gewinnen. Sein Jodler in bester Jimmie Rodgers-Manier und das Gelächter, das in der Mitte des Songs zu hören ist, verleihen der Nummer einen unbeschwerten Optimismus – ein Charakteristikum, das die Byrds mit ihrer elektrischen Version von 1965 nur noch unterstrichen.
73. I’m Not There – I’M NOT THERE (2007). Im Rahmen der „Basement Tapes“-Sessions 1967 aufgenommen, war „I’m Not There“ jahrzehntelang ein gefundenes Fressen für Bootlegger. Erst 2007 wurde die Aufnahme im Soundtrack zum gleichnamigen Dylan-Film offiziell veröffentlicht …
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Durch den Kunstgriff, die ersten Sekunden des Songs zu kappen, entsteht der Eindruck, als werde man ungewollt Zeuge eines privaten Zusammenseins. Die Lyrics verstärken diesen Effekt nur noch, da sie ein Gefühl extremer Verlassenheit beschreiben, das wohl nur der Sänger plausibel erklären könnte. Mit Dylans desperaten Vocals und den atemberaubenden Orgel-Passagen von Garth Hudson ist es der einzige Track der „Basement Tapes“-Sessions, der dem Sound von „Blonde On Blonde“ nahekommt.
72. Rainy Day Women # 12 & 35 – BLONDE ON BLONDE (1966). Auch wenn es fast schon ein Gassenhauer war (mit dem ursprünglichen Titel „A Long Haired Mule And A Porcupine“), konnte Dylan auf eine biblische Anspielung natürlich nicht verzichten. (In der englischen Übersetzung von Salomos „Buch der Sprüche“ heißt es: „A continual dropping in a very rainy day and a contentious woman are alike.“) …
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Die augenzwinkernde Zeile „they’ll stone you“ (für deine Sünden) bekam dadurch einen doppelten Boden. Der Vorschlag von Produzent Bob Johnston, die Nummer in „Heilsarmee-Manier“ aufzunehmen, trug zu dem religiösen Subtext nur noch bei. „Rainy Day Women“ war einer der sechs Songs, die in der 13-stündigen Marathon-Session eingespielt wurden, die „Blonde On Blonde“ komplettierten.
71. Most Likely You Go Your Way And I’ll Go Mine – BLONDE ON BLONDE (1966). Die Nummer wäre wohl weitaus fader ausgefallen, wenn Bassist Charlie McCoy nicht zur Trompete gegriffen hätte. Er fragte, ob er Dylans Mundharmonika-Passage nicht auf der Trompete begleiten solle …
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70. To Ramona – ANOTHER SIDE OF BOB DYLAN (1964). Von JACKSON BROWNE: Die Bürgerrechts-Bewegung wird mit keinem Wort erwähnt, und doch liegt das Thema auf der Hand – so faktisch und plastisch wie ein Roman von James Baldwin. Ich sah in dieser Ramona immer eine junge, farbige Frau, die auf einer Party in New York gelandet ist und sich höchst deplatziert fühlt. Dylan tritt auf und stärkt ihr den Rücken, beschreibt aber auch ihre erotische Anziehungskraft. Ich sehe dieses wundervolle schwarze Gesicht mit den „cracked country lips“ geradezu vor mir. Aber er charakterisiert sie in einer Weise, die über diese Szene weit hinausweist …
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Es geht letztlich um den Kampf für individuelle Freiheit und die Gefahr gegenseitiger Abhängigkeit. Es war nun mal die Zeit, in der die Leute nach einem Führer und Sprachrohr suchten. Aber Dylan bügelt das Ansinnen umgehend ab: „I’d forever talk to you/ But soon my words/ They would turn into a meaningless ring.“ Er macht sich immer dafür stark, dass jeder seinen eigenen Weg finden muss.
Das Problem mit jeder Form von Polemik ist, dass die Welt nicht so schwarz-weiß ist, wie es uns die Parolen glauben machen wollen. Das ist der Kern des Grundes, dass sich Dylan immer wieder entzieht. Er sagt Ramona: „You’ve been fooled into thinking/ That the finishin‘ end is at hand.“ Ist es aber nicht. Diese Kämpfe werden immer weitergehen.
69. One More Cup Of Coffee (Valley Below) – DESIRE (1976). Am 24. Mai 1975 (seinem 34. Geburtstag) besuchte Dylan den Maler David Oppenheim in Süd-Frankreich, der ihn zu einem Zigeuner-Festival mitnahm. Dort, erzählte Dylan später, wurde er „mit einem anderen Mann verwechselt“ – und traf einen weiteren Mann, „der 16 oder 20 Frauen und über 100 Kinder hatte“. Dylan blieb für eine Woche und bat, als er abreiste, um einen Kaffee für die Fahrt. „Ich war mir nicht sicher, ob ich sonst noch was sagen sollte, denn es war gefährliches Terrain.“ …
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Es war in jedem Fall eine gute Geschichte – und möglicherweise die Initialzündung für „One More Cup Of Coffee“. Der Song ist eine gespenstische Hommage an eine Frau mit Augen „like two jewels in the sky“ und einem reichen, mächtigen Vater. Das mystische Raunen ist allgegenwärtig und wird durch die zusätzlichen Vocals von Emmylou Harris nur noch verstärkt. Die eigentliche Zigeuner-Assoziation aber liefert Scarlet Rivera mit einer beklemmenden Geigen-Melodie.
Dylan verlässt das gemeinsame Schlafzimmer und geht auf die Straße, um noch einmal versöhnlich zurückzuschauen: „You’re right from your side/ I’m right from mine.“ Das Potenzial des Songs schien mit der ersten Aufnahme noch nicht ausgereizt: Auf der ‘66er Tour transformierte Dylan das delikate Lied in ein Punkrock-ähnliches Monster, während Johnny Cash die Nummer gleich vier Mal aufnahm – zwei Mal mit Dylan, einmal mit Waylon Jennings, einmal allein.
Etwa in „just like a mattress balances on a bottle of wine“, das wohl eine beschwipste Romanze andeutet, dann in der Einladung, gemeinsam dem Sonnenaufgang zuzuschauen, gleich gefolgt von der Zeile „We’ll both just sit there and stare“. Doch wer war die Dame, über die Dylan sich da lustig machte? Gerüchten zufolge handelte es sich um die modische Hutträgerin Edie Sedgwick, mit der er kurz zuvor mehrfach ausgegangen war. Als ihn der ROLLING STONE auf die Quelle seiner Inspiration ansprach, antwortete Dylan gewohnt mürrisch, dass es sich nur um einen banalen Hut handele, „den ich vielleicht in einer Schaufenster-Dekoration gesehen habe“.
65. Tough Mama – PLANET WAVES (1974). Einer von Dylans sexuell aufgeladenen Rockern wurde im November 1973 mit The Band aufgenommen, die einen mörderisch groovenden Boogie aufs Parkett legten. Die Liste der Charaktere könnte auch aus „Workingman’s Dead“ stammen:
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„Jack the Cowboy“, „The Lone Wolf“ und eben die im Titel verewigte heiße Mama, die alternativ auch „Dark Beauty“, „Sweet Goddess“ oder „Silver Angel“ genannt wird. Die poetische Verfremdung hingegen ist typisch Dylan: „Today on the countryside it was a-hotter than a crotch/ I stood alone upon the ridge and all I did was watch.“ Der durchgeknallte Text mag der Grund gewesen sein, warum „Tough Mama“ nur selten von anderen Musikern gecovert wurde. In punkto Kauzigkeit macht man Dylan nun mal so schnell nichts vor.
64. Abandoned Love –
BIOGRAPH (1985). Ein entsorgter Track aus den Mitt-Siebzigern, auf dem Scarlet Riveras Fiddle die Melodie über ein lockeres Country-Tänzchen legt. Die Lyrics hingegen haben mit Tanzvergnügen wenig am Hut: Eine Reihe von Vers-Paaren, die immer dichter und dringlicher werden, beschwört den Zerfall einer Beziehung in schonungsloser Eindringlichkeit:
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„Everybody’s wearing a disguise/ To hide what they got left behind their eyes“, lamentiert Dylan. „But me, I can’t cover what I am/ Wherever the children go I’ll follow them.“ Der Track wurde 1975 für „Desire“ aufgenommen, dann aber gegen „Joey“ ausgetauscht. Zehn Jahre später tauchte er auf „Biograph“ wieder auf – und zählt heute zu den resignativsten Aufnahmen, die Dylan je machte.
63. If You See Her, Say Hello – BLOOD ON THE TRACKS (1975). Auf dem wohl quälendsten Track von „Blood On The Tracks“ leckt Dylan seine noch frischen Wunden: „To think of how she left that night, it still brings me a chill.“ Der Text wurde mehrfach umgeschrieben:
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Die Zeile „If you’re making love to her, kiss her for the kid“ etwa wurde abgemildert in „If you get close to her, kiss her once for me“, doch auch die finale Fassung geht noch immer ins Mark. Hört man Dylans Geständnis („either I’m too sensitive or else I’m gettin‘ soft“), zeigen die Zeilen nicht weniger Wirkung als seine giftigsten Invektiven.
62. Queen Jane Approximately – HIGHWAY 61 REVISITED (1965). Joan Baez nannte „Highway 61 Revisited“ einmal „a bunch of crap“. Vielleicht meinte sie ja den rohen Sound, vielleicht aber auch diesen Song, der eine Frau dafür attackiert, sich hinter ihrer Schönheit und Wohlgeborenheit zu verschanzen …
Copyright: Jan Persson/Redferns
Der Text ist manchmal beißend („When all the clowns that you have commissioned have died in battle or in vain“), manchmal aber auch zärtlich („Won’t you come to see me, Queen Jane?“), während der Track musikalisch zu den Highlights des Albums zählt. Handelt der Song von Baez? Als ihn ein Journalist auf die Identität der Queen ansprach, knurrte Dylan nur: „Queen Jane ist ein Mann.“
61. It Takes A Lot To Laugh, It Takes A Train to Cry – HIGHWAY 61 REVISITED (1965). Dieser sinnliche Schieber war noch ein peppiger Blues namens „Phantom Engineer“, als ihn Dylan 1965 in Newport vorstellte. Wenig später war es der erste Song, den er bei den „Highway 61“-Sessions festzunageln versuchte …
Copyright: Michael Ochs Archives/Getty Images
60. Buckets Of Rain – BLOOD ON THE TRACKS (1975). Von CAMERON CROWE: Eine seiner großen Gaben besteht darin, uns auf einem Album eine ganz persönliche Offerte zu machen – einen Titel, der nicht nach Aufmerksamkeit heischt, aber trotzdem hängen bleibt. Im Falle von „Blood On The Tracks“ ist das für mich „Buckets Of Rain“ – ein melancholischer, verhaltener, bittersüßer Song, der sich nur langsam heranschleicht, dann aber eine erstaunliche Wirkung entfaltet. Jeder Raum, in dem ich ihn spielte, war anschließend nicht mehr derselbe. Manchmal ist es eben das scheinbar nebensächliche Motiv eines Songs oder eines Films, das sich am Ende als zentrales Element herauskristallisiert. Dylan war in seiner „mittleren Periode“, als er ihn schrieb. Er war zurück nach Minnesota gezogen und lebte auf einer Farm. Er hatte sein Notizbuch dabei und nahm sich die Zeit, an den Texten von „Blood On The Tracks“ zu feilen …
Copyright: Jeffrey Mayer/WireImage
Es sollte eine persönliche Platte werden – auch wenn das Ergebnis vielleicht schmerzhafte Wunden aufreißen würde. Tatsächlich legte er die Karten so offen auf den Tisch, wie es sich seine Hörer immer gewünscht hatten – und wie er es auch danach nie wieder tun sollte. Natürlich baute er reichlich Stolpersteine und Sackgassen ein, aber keine Frage: „Blood On The Tracks“ ist sein „Blue“, seine Lebensbeichte zum Thema Beziehungen. Und ohne „Buckets Of Rain“ würde ein entscheidendes Mosaik in diesem Puzzle fehlen. Die Substanz dieser Songs ist so zeitlos, dass sie auch nachfolgenden Generationen als Leuchtfeuer dienen können. Ein Song wie „Buckets Of Rain“ atmet eine simple Wahrheit, die uns viel über die Realitäten des Lebens lehrt. Nach einem brennenden Schmerz kommt immer der lindernde Regen.
59. Million Dollar Bash – THE BASEMENT TAPES (1975). Es könnte das Leitmotiv der „Basement Tapes“ sein: „Million Dollar Bash“ ist eine Wundertüte mit sinnfreien Lyrics und einer schrulligen Melodie, die den Geist der spontanen Sessions perfekt widerspiegelt. Dylan nahm den Track im Juli 1967 mit Garth Hudson, Richard Manuel und Rick Danko in „Big Pink“ auf – und das Fehlen der Drums unterstreicht nur noch den unbeschwerten, flatternden Rhythmus …
Copyright: Larry Hulst/Michael Ochs Archives/Getty Images
Letztlich waren die gesamten „Basement“-Sessions nicht anderes als ein „Million Dollar Bash“: eine vergnügliche, erholsame Unterbrechung von dem galoppierenden Wahnsinn, dem sich Dylan zunehmend ausgesetzt sah. „So sollte man eigentlich immer aufnehmen“, sagte er 1969 dem ROLLING STONE, „in entspannter Atmosphäre, irgendwo in einem Basement. Die Fenster sind geöffnet, der Hund liegt auf dem Boden …“
58. Percy’s Song – BIOGRAPH (1985). „Percy’s Song“, vielleicht am besten bekannt durch Joan Baez‘ brillante Performance in „Don’t Look Back“, war ursprünglich für „The Times They Are A-Changin‘“ geplant, schaffte es aber nicht in die endgültige Auswahl …
Copyright: Ebet Roberts/Redferns
Nichtsdestotrotz muss sich dieser empathische Aufschrei neben Dylans besten Arbeiten aus dieser Phase nicht verstecken. Er singt von einem Freund, der sich nach einem tödlichen Autounfall wegen Totschlages vor Gericht verantworten muss. „He ain’t no criminal, and his crime it is none“, protestiert der Erzähler, doch seine Einwände werden vom Richter ungerührt abgeschmettert.
57. Just Like Tom Thumb’s Blues – HIGHWAY 61 REVISITED (1965). War Dylan überhaupt jemals in Mexiko, als er die Geschichte eines ausschweifenden Trips nach Juárez schrieb? Spielt es eine Rolle? In Dylans Darstellung ist die Grenzstadt jedenfalls ein gefährlicher, faszinierender Ort, in dem es vor Drogen, Korruption und „hungry women“ nur so wimmelt …
Copyright: Michael Ochs Archives/Getty Images
56. You’re Gonna Make Me Lonesome When You Go – BLOOD ON THE TRACKS (1975). Von JIM JAMES: „Blood On The Tracks“ war immer eine meiner liebsten Dylan-Platten – es ist das klassische tough love-Album, das man auflegt, wenn man mal wieder den Beziehungs-Blues bläst. Und „You’re Gonna Make Me Lonesome When You Go“ schießt dabei den Vogel ab. Ich weiß nicht, ob es an diesem Zusammenspiel von Akustikgitarre und Bass liegt und wie sie rhythmisch ineinandergreifen, aber wenn ich den Song höre, transportiert er für mich einfach die Essenz von Liebe …
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Es trifft mich tief im Innern, wie Dylan seine Eindrücke vermittelt. Ich kann die Bäume fast riechen, die Blumen, die Sonnenstrahlen, die Menschen, denen ich im Lauf der Jahre begegnet bin – alles erscheint in einem anderen Licht, wenn man verliebt ist. Umgekehrt natürlich auch: Muss man die geliebte Person verlassen oder geht die Beziehung zu Ende, scheint die Welt zusammenzubrechen. All das kann Dylan in wunderbarer Weise vermitteln, wenn er seiner Frau sagt, dass sie immer Teil seiner selbst bleiben wird, dass er sie in allem sieht, was ihm begegnet.
55. If Not For You – NEW MORNING (1970). Nach dem vernichtenden Urteil über „Self-Portait“ („What is this shit?“, hieß es im ROLLING STONE) fragten sich Dylan-Fans, ob er den kreativen Löffel abgegeben habe. Sie sollten nicht lange bangen. Vier Monate später erschien „New Morning“ und lieferte mit dem Opener gleich eine gelungene Country-Rock-Nummer …
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„Ich dachte an meine Frau, als ich den Song schrieb“, erklärte Dylan – und tatsächlich dreht sich alles um Dankbarkeit und häusliche Freuden. Dass der bissigste Songschreiber seiner Generation auch einmal so etwas wie Demut bewies, war durchaus eine willkommene Abwechslung.
54. 4th Time Around – BLONDE ON BLONDE (1966). Es bleibt sein Geheimnis, was genau ihn zu diesem Song inspirierte. Melodie und Story sind eine Referenz an den Beatles-Song „Norwegian Wood“, der wiederum offenkundig von Dylan beeinflusst war. War die Zeile „I never asked for your crutch, now don’t ask for mine“ eine Warnung, ihn nicht weiter zu kopieren? Dylan sollte sich zu dem Vorfall nie äußern …
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53. When I Paint My Masterpiece – BOB DYLAN’S GREATEST HITS VOL. II (1971). Die Studioversion des Songs – eine Reflexion über das Leben auf Tour – tauchte 1971 neben bislang unveröffentlichtem Material auf den „Greatest Hits Vol. II“ auf …
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52. Tears Of Rage – THE BASEMENT TAPES (1975). Die bewegende Ballade sah erstmals das Licht der Welt, als sie The Band als Opening-Track ihres meisterlichen Debüts „Music From Big Pink“ verwendeten. Dort wird sie mit elegischem Schmelz von Keyboarder Richard Manuel vorgetragen (der den Song gemeinsam mit Dylan 1967 in „Big Pink“ schrieb), während auf den „Basement Tapes“, offiziell erst 1975 veröffentlicht, Dylan die Leadvocals übernimmt …
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51. Things Have Changed – WONDER BOYS (SOUNDTRACK) (2000). Als Dylan 2001 den einzigen Oscar seiner Karriere in Empfang nahm (für seinen Beitrag zum „Wonder Boys“-Soundtrack), dankte er „den Mitgliedern der Academy für ihren Mut, einen Song auszuzeichnen, der Klartext redet und die menschliche Natur nicht ignoriert“. So konnte man’s auch ausdrücken …
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„Things Have Changed“ ist einer der bösesten Songs in Dylans gesamtem Repertoire, gleichzeitig auch eine Abrechnung mit vielen seiner politischen Songs, die soziale Gerechtigkeit und den Fortschritt in der Gesellschaft propagierten. „I used to care“, singt er mit aller Deutlichkeit, „but things have changed.“ Wie schon der Titel andeutet, ist „Things Have Changed“ der böse Zwillingsbruder von „The Times They Are A-Changin‘“.
50. Not Dark Yet – TIME OUT OF MIND (1997). Ein paar Monate vor Veröffentlichung von „Time Out Of Mind“ 1997 lag er mit einer lebensgefährlichen Herzinfektion im Krankenhaus und war überzeugt, „schon bald Elvis zu begegnen“. „Not Yet Dark“ war zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen, doch die wunderbar geheimnisvolle Ballade schien die Ereignisse vorwegnehmen zu wollen …
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Vor dem Hintergrund von Daniel Lanois‘ gewohnt „swampy“ Produktion singt Dylan mit gebrochener Stimme von einem Mann, der ins Zwielicht seines Lebens eintritt. „I was born here and I’ll die here against my will“, sang er. „I know it looks like I‘m moving, but I’m standing still.“ Seit seinem ersten Album hatte sich Dylan immer wieder mit dem Tod beschäftigt. Inzwischen war er 55 Jahre alt und befand sich mitten in seiner „Never Ending Tour“. Man kann jedes einzelne dieser Jahre in seiner Stimme hören
49. Up To Me – BIOGRAPH (1985). Einer der überdurchschnittlichen Songs, die Dylan wieder von dem ursprünglichen Album (in diesem Fall „Blood On The Tracks“) entfernte – aus Gründen, die nur ihm bekannt sind. In seinen sparsamen Arrangements „Shelter From The Storm“ nicht unähnlich, wäre „Up To Me“ ein idealer Kandidat für „Blood On The Tracks“ gewesen, auf dem er das Ende seiner Ehe mit Sara Lowndes verarbeitete …
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Durchaus möglich, dass ihm der Song zum damaligen Zeitpunkt zu persönlich war. „And if we never meet again, baby, remember me“, singt er in der letzten Strophe. „How my lone guitar played sweet for you that old-time melody.“ Natürlich bestritt er diese Deutung. „Ich sehe mich selbst nicht als Bob Dylan“, sagte er einmal Cameron Crowe. „Rimbaud sagte es treffend: ,Ich bin ein anderer.‘“
48. Sara – DESIRE (1976). Der persönlichste Song, den Dylan jemals schrieb, richtet sich direkt an seine – inzwischen entfremdete – Frau. „Sara“ ist ein Lovesong, der vorwiegend in Erinnerungen schwelgt – Fotos ihrer Kinder beim Spielen oder ein flüchtiger Blick über einem „white rum in a Portugal bar“ …
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Dylan erweist sich als gestandener Charmeur und nennt Sara in diesem Walzer „sweet love of my life“ und bittet um Vergebung, klingt aber auch wie ein Mann, dem seine Frau fremd geworden ist („Serpico Sphinx in a calico dress“). Die Dylans versöhnten sich für eine Weile, doch im nächsten Jahr löste sich die Ehe dann endgültig auf. Auf seiner „Rolling Thunder Revue“ ersetzte Dylan „Sara“ mit dem weit weniger schmeichelhaften „Idiot Wind“. 1977 wurden sie offiziell geschieden.
47. Spanish Harlem Incident – ANOTHER SIDE OF BOB DYLAN (1964). Nur einmal brachte Dylan die flüchtige Songskizze über seine Begegnung mit einer Wahrsagerin auf die Bühne. Der im Titel angesprochene „incident“ schien tatsächlich so beiläufig gewesen sein, wie es Zwischenfälle nun mal sind:
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Das „gypsy gal“ nimmt seine Hände in die ihren – und löst damit eine Flut von Assoziationen aus. „Spanish Harlem Incident“ ist einer der wenigen Dylan-Songs, in dem Sex offen und unmissverständlich angesprochen wird – inklusive Anspielungen auf ihre „rattling drums“ und seine „restless palms“.
Mick Taylor und Mark Knopfler spielten die Gitarren, Sly & Robbie brachten diesen dezenten Reggae-Vibe mit ins Boot. Der Song scheint 87 Minuten zu dauern – als hätten sie endlos weitermachen können, wenn nicht gerade das Abendessen reingebracht worden wäre. Ich brauche acht Wochen, um zwei Zeilen zu Papier zu bringen. Ich stelle mir nicht die Frage, wer dieser „Jokerman“ ist und ob sich nun Gott, der Teufel oder Dylan dahinter versteckt. Der Reiz liegt in der Andeutung. Ich liebe Zeilen wie: „The book of Leviticus and Deuteronomy/ The law of the jungle and the sea are your only teachers.“ Und dann dieser schräge Chorus mit seinem „Oh, Oh, Oh“ … Der einzige andere Mensch, der so eine Nummer durchziehen kann, ist Jay-Z. Es klingt einfach so völlig mühelos – im besten Sinne des Wortes.
45. It Ain’t Me, Baby – ANOTHER SIDE OF BOB DYLAN (1964). „It Ain’t Me, Babe“ zählt zu denjenigen Songs, auf denen sich Dylan dem unerwünschten Zugriff der holden Weiblichkeit zu entziehen sucht. Er zählt zunächst die unbegründeten Erwartungen auf, mit denen die Verflossene an seine Ehre und Treue appelliert …
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Die erste Zeile („Go ’way from my window“) ist eine poetische Floskel, die auf das 16. Jahrhundert zurückgeht, aber „It Ain’t Me, Babe“ – vermutlich in einem Londoner Hotel geschrieben – greift auch auf zeitgenössische Elemente zurück: Das „no, no, no“ scheint das „yeah, yeah, yeah“ der Beatles in „She Loves You“ zu parodieren. „Acht Singles in den Top 10“, kommentierte Dylan kopfschüttelnd die damalige Pop-Dominanz der Fab Four. „Ich hatte den Eindruck, als wollten sie wirklich Nägel mit Köpfen machen.“
44. Stuck Inside Of Mobile With The Memphis Blues Again – BLONDE ON BLONDE (1966). „Oh, Mama, can this really be the end?“, jammert er in diesem siebenminütigen Epos immer und immer wieder.
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Dylan manövriert die alten Nashville-Cats Strophe um Strophe durch surreale Blues-Visionen – und die Band klingt so, als würde sie die Herausforderung dankbar annehmen. Inhaltlich scheint sich alles um Sex, Drogen, Versuchung und Paranoia zu drehen – und den poetischen Abstraktionen zum Trotz gelingt es Dylan, auch gesanglich eins der sinnlichen Highlights des Albums zu liefern.
43. Gotta Serve Somebody – SLOW TRAIN COMING (1979). Von SINÉAD O‘CONNOR: Ich war 13 Jahre alt, als mein älterer Bruder Joseph „Slow Train Coming“ nach Hause brachte – und meine Welt auf den Kopf stellte. Es heißt – und ich hoffe, es trifft nicht zu –, dass sich Dylan von dem Album distanziert habe. Dabei ist es ein Album, das für jeden Musiker ein Meilenstein wäre, vor allem aber für ihn. „Gotta Serve Somebody“ war der Song, der mich am meisten packte. Wenn man in einer katholischen Familie in Irland aufwuchs, wurde man mit religiöser Musik konfrontiert, die einfach scheußlich und furchtbar langweilig war …
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Dass man dort plötzlich diesen Song hören konnte, war wie eine Erleuchtung. Und es war keine Predigt, die er da vom Stapel ließ. Im Sound der Gitarre und der anderen Instrumente konnte man fast so etwas wie Sexualität ausmachen. Und die Lyrics waren einfach brillant. Was immer du mit deinem Leben anfängst, sagte er uns: Du bist verloren, wenn du nicht für irgendetwas stehst. Eine bessere Lektion, dazu noch von einem meisterlichen Lehrer, kann man gar nicht bekommen – als Künstler wie als Mensch. Was er letztlich sagt, ist doch: „Leg dich nicht ins Bett und verkriech dich unter der Decke. Du musst deinen Arsch schon hochkriegen.“
42. I Threw It All Away – NASHVILLE SKYLINE (1969). Nach sieben Jahren höchst eigenwilliger Dylan-Songs war es ein Schock, ihn eine konventionelle Komposition singen zu hören, die im Aufbau durchaus an die Tin Pan Alley erinnerte – ganz zu schweigen davon, dass er nun in bester Cowboy-Manier Zeilen knödelte wie: „Love is all there is, it makes the world go ’round.“ …
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Doch keine Frage: Auch bei diesem eher bodenständigen Country-Rocker bewies er seine Qualitäten. Die melancholischen Lyrics legen die Vermutung nahe, dass er sich bei alten Fans für die erneute Kehrtwende entschuldigen wollte. Aus dem unnahbaren, unablässig tourenden Pop-Orakel war jedenfalls ein gepflegter Stubenhocker geworden, der im Schoß der Nashville-Familie seinen Frieden fand.
41. I’ll Keep It With Mine – BIOGRAPH (1985). Dylan nahm den Song 1965 auf, veröffentlichte ihn aber erst viele Jahre später – und nahm ihn auch nie in sein Live-Repertoire auf. Was Außenstehende (Judy Collins, Nico und Fairport Convention) nicht daran hinderte, sich selbst an dieser Ballade über echte Freundschaft zu versuchen …
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„Dylans Version – nur er und sein Piano – ist einfach hypnotisch“, meint Cameron Crowe. „Seine Stimme hat fast schon etwas Heroisches.“ Als er einmal über unveröffentlichte Songs wie „I’ll Keep It With Mine“ sprach, sagte Dylan mit philosophischer Gelassenheit: „Vielleicht klang er ja nur für mich wie eine unfertige Aufnahme. Wenn die Leute ihn mögen, mögen sie ihn halt.“
40. I Dreamed I Saw St. Augustine – JOHN WESLEY HARDING (1967). Die inhaltlich kaum dechiffrierbare Hymne greift auf den Ausgangspunkt von „Joe Hill“ zurück – einem Folk-Klassiker über einen Gewerkschaftler und Songschreiber, der wegen Doppelmordes hingerichtet wurde (auch wenn ihm der Mord vermutlich in die Schuhe geschoben worden war) …
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39. Hurricane – DESIRE (1976). 1975 engagierte sich Dylan für Rubin „Hurricane“ Carter – einen farbigen Boxer, der 1966 wegen dreifachen Mordes zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden war. „Ich spürte, in ihm einen echten Bruder zu haben“, sagte Carter über Dylan, der ihn auch im Gefängnis besuchte. Dylan organisierte zwei Benefiz-Konzerte und schrieb mit Theaterregisseur Jacques Levy einen flammenden Appell, der Carters Unschuld beschwor …
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„Hurricane“ beginnt wie ein Film-Script („Pistol shot ring out in the bar-room night“) und endet acht Minuten später mit Carter im Gefängnis. Das Medienecho, das Dylan auslöste, führte zu einer Wiederaufnahme des Prozesses, aber keiner Begnadigung. Erst 1985 wurde das Urteil rückgängig gemacht, drei Jahre später auch die Klage auf Mord für nichtig erklärt.
38. My Back Pages – ANOTHER SIDE OF BOB DYLAN (1964). Es war der Song, mit dem sich der größte Protestsänger der Sixties von der Politik verabschiedete – eine gleichermaßen wehmütige wie giftige Ballade, in der sich Dylan über den heiligen Ernst seiner Polit-Folkie-Tage lustig macht: „I was so much older then/ I’m younger than that now.“ …
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Dylan wollte sich von seiner Vergangenheit lösen, indem er das Album „Another Side Of Bob Dylan“ nannte. „My Back Pages“ war seine unwiderrufliche Resolution. „Es gibt hier keine Schuldzuweisungen mehr“, beschrieb er das Album. „Ich will nicht mehr für andere Leute sprechen müssen – dieser ganze ,Sprachrohr‘-Spuk ist vorbei.“
36. With God On Our Side – THE TIMES THEY ARE A-CHANGIN‘ (1964). Von TOM MORELLO: Ich bin vermutlich der letzte Mensch auf diesem Planeten, der Dylans elektrischen Auftritt in Newport tatsächlich für einen Ausverkauf hält. Auf seinen Schultern lastete der Druck, einer „Bewegung“ seine Stimme zu geben – was etwas war, auf das er keinerlei Bock hatte. Aber er verpasste damit auch eine große Chance – nämlich herauszufinden, was Musik leisten kann, um eine radikale politische Agenda voranzutreiben. Mit „God On Our Side“ kam er dem zumindest sehr nah. Mir war nie bewusst, wie politisch Dylan wirklich war, bis ich „The Times They Are A-Changin‘“ hörte …
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Er war damals 22, klang aber wie ein weiser 80-Jähriger, der sein Leben lang die Welt kritisch verfolgt hat und auch unangenehme Wahrheiten ungeniert aussprechen kann. Wobei „With God On Our Side“ kein historisches Dokument ist, sondern auch die Kriegsverbrechen der Gegenwart und Zukunft thematisiert. Dylan legt den Finger auf die Heuchelei, mit der Kriege rechtfertigt werden, er schreibt über die Leute, die vom Krieg profitieren – und die Familien, die ihre Kinder wegschicken, um im Krieg zu sterben. „You don’t count the dead when God’s on your side“, singt er, „and you never ask questions when God’s on your side.“ Von George W.‘s „shock and awe“ über Abu Ghraib bis zum Debakel in Afghanistan – diese Zeilen beschreiben auch unsere heutigen Vergehen nur allzu gut.
37. Maggie’s Farm – BRINGING IT ALL BACK HOME (1965). Er war der Song, mit dem er seinen elektrischen Set beim Newport Folk-Festival eröffnete und in eine neue Persona schlüpfte. Dabei war es de facto ein Folksong, nämlich eine Variation des alten „Down On Penny’s Farm“, in dem die Ausbeutung von Farmarbeitern angeprangert wird. In der Studioversion war „Maggie“ ein swingender Country-Rocker, doch in Newport intonierte ihn Dylan erheblich bissiger:
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35. The Lonesome Death Of Hattie Carroll – THE TIMES THEY ARE A-CHANGIN‘ (1964). Die schaurige Mörder-Ballade „basiert auf einer wahren Begebenheit, auch wenn ich die Perspektive des Beobachters etwas verändert habe“. In seinem favorisierten Folk-Magazin „Broadside“ hatte Dylan die Geschichte von Hattie Carroll gelesen, einer farbigen Hotelangestellten und neunfachen Mutter aus Baltimore, die von dem weißen Tabak-Farmer William Zantzinger angeblich erschlagen wurde. (Zantzinger wurde wegen Totschlags zu sechs Monaten Haft verurteilt, auch wenn später Zweifel an seiner Schuld laut wurden.) …
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34. Isis – DESIRE (1976). Sara Dylan befand sich im Studio, als ihr Mann „Isis“ aufnahm – was wohl mehr war als eine bloße Parallelität der Ereignisse: Der Song konnte sehr wohl als Allegorie auf ihre Ehe, Trennung und kurzfristige Wiedervereinigung verstanden werden – dargestellt anhand eines epischen Abenteuers, in dem sich der Erzähler durch Eistürme kämpft, Pyramiden besteigt und einen Grabraub begeht, bevor er seine Braut, ein „mystical child“ namens Isis, zurückgewinnt.
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Dylan schrieb große Teile des Textes in einer nächtlichen Session mit dem Theaterregisseur Jacques Levy – und war auf das Ergebnis so stolz, dass er es seinen Freunden im New Yorker Club „Bitter End“ vortrug. „Bob las ein paar Leuten an der Bar den Text vor“, so Levy, „und alle waren von der Story spontan fasziniert.“ Wenig später wurde eine extravagante Version von „Isis“ Bestandteil von Dylans „Rolling Thunder Revue“: Weiß geschminkt wie ein Schamane betrat Dylan die Bühne und setzte nur seine Stimme, Mundharmonika und Hände ein, um die Fabel von Isis zu illustrieren. Es war das erste Mal, dass die Zuschauer ihn auf einer Bühne ohne seine Gitarre erlebten.
33. Idiot Wind – BLOOD ON THE TRACKS (1975). Die ursprüngliche Version war eine reumütige Ballade, doch nachdem Dylan die Hälfte von „Blood On The Tracks“ in letzter Minute neu aufgenommen hatte, erwies sich die bearbeitete Version von „Idiot Wind“ als einer seiner bösesten Songs – eine vernichtende Abrechnung mit seiner Frau im Besonderen und der Dummheit im Allgemeinen. „You’re an idiot, babe/ It’s a wonder that you still know how to breathe“, heißt es im Refrain – und das ist noch nicht mal der Gipfel des Affronts. Zumindest stellt Dylan sicher, dass er sich in das Urteil miteinbezieht:
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„It’s a wonder we can even feed ourselves“, singt er in der letzten Zeile. Bei der Live-Version auf „Hard Rain“ (mit seiner künftigen Ex-Frau im Publikum) legte Dylan sogar noch nach und steigerte sich in eine wütende Tirade. „Ich hatte nicht den Eindruck, dass er zu persönlich war“, sagte Dylan von seinem Song, „aber als Außenstehender mochte man womöglich diesen Eindruck gewinnen. Was unterm Strich vielleicht dasselbe ist.“
32. Chimes Of Freedom – ANOTHER SIDE OF BOB DYLAN (1964). Der ambitionierteste Song, den Dylan bis dahin geschrieben hatte – ein Gewitter symbolisiert das Leuchtfeuer, das die Outlaws, Künstler und „every hung-up person in the whole wide universe“ vereint – entwickelte sich angeblich aus einem kurzen Gedicht, das er Ende 1983 nach John F. Kennedys Ermordung schrieb. Dylans Talent für sublime Vers-Rhythmik kam hier ebenfalls zum Tragen wie seine Liebe für frappierende Wortschöpfungen:
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„starry-eyed an’ laughing“, „midnight’s broken toll“, „chained an’ cheated by pursuit“. Er nahm ihn im Juni 1964 für „Another Side Of Bob Dylan“ auf (und brauchte sieben Anläufe, um die zwölf Strophen fehlerfrei einzusingen), verbannte ihn aber umgehend (bis 1987) aus seinem Repertoire. Andere Musiker griffen dafür umso dankbarer zu: Die Byrds spielten ihn 1965 für ihr Debütalbum ein – und Bruce Springsteen verwandte ihn 1988 als Titeltrack einer EP.
31. Can You Please Crawl Out Your Window – SINGLE (1965). Es ist Teil der Dylan-Legende, dass der Meister den Folkie Phil Ochs aus dem Auto warf, nachdem der sich abschätzig über „Can You Please Crawl Out Your Window“ geäußert hatte. Sinnigerweise ist es einer von Dylans bisswütigsten Songs – und in diesem Punkt eine Fortsetzung von „Like A Rolling Stone“ …
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Dort während er dort dem Schwall seiner Invektiven freien Lauf ließ, komprimiert er sie hier auf dreieinhalb Minuten konziser Gehässigkeit. Die druckvolle, ungekünstelte Begleitung stammte von Levon and the Hawks, die nach ein paar gemeinsamen Gigs erstmals mit ihm im Studio waren. Doch der plattenkaufenden Öffentlichkeit ging es genauso wie Phil Ochs: „Can You Please Crawl Out Your Window“ schaffte es in den Billboard-Charts nur bis auf Platz 58.
30. Girl From The North Country – THE FREEWHEELIN‘ BOB DYLAN (1963). Von KEITH RICHARDS: Als die „British Invasion“ Richtung Amerika rollte, war er der Mann, der die amerikanische Perspektive wieder zurück in den Fokus rückte. Gleichzeitig ließ er sich aber auch von anglo-keltischen Folkliedern inspirieren – was auf „Girl From The North Country“ mit Sicherheit zutrifft. Der Song hat all die Elemente, die ein wundervoller Folksong braucht, ohne deswegen gestelzt und hüftsteif zu wirken. Die Bissigkeit, die Bob in späteren Jahren auszeichnete, fehlt hier noch völlig – im Text wie in der Musik. Kein Groll, keine Bitterkeit. Er nahm den Song später noch einmal mit Johnny Cash auf, doch in meinen Augen ist er für ein Duett nicht geeignet. In der ursprünglichen Version traf Bon den Nagel auf den Punkt. Ich habe „Girl From A North Country“, „Boots Of Spanish Leather“ und „To Ramona“ immer als Trilogie verstanden. Ist Ramona vielleicht das Girl aus dem North Country? Ist sie das gleiche Mädchen, das die Boots mit dem Spanish Leather schickt? …
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Irgendwie gibt es jedenfalls eine Verbindung – selbst die Gitarren-Licks in „Boots Of Spanish Leather“ und „Girl From The North Country“ sind fast identisch. Sie klingen wie Variationen ein und desselben Songs.
Bevor er sich die E-Gitarre umschnallte und der Disziplin einer Rhythmussektion unterwerfen musste, hatten Bobs Songs diesen wunderbaren Flow, den man eigentlich nur mit der nackten Stimme und einer Gitarre erreichen kann. Er konnte Takteinheiten abschleifen oder bestimmte Töne dehnen – alles war erlaubt, weil’s nun mal songdienlich war. Er ist der produktivste Songschreiber, den man sich vorstellen kann, und hat vermutlich mehr Songs geschrieben, als ich ein warmes Abendessen hatte. Also Bob, lass sie weiter rollen! Er ist für uns alle eine Inspiration, weil er stets auf der Suche nach Orten ist, wo er noch nie war. Ich liebe den Mann – auch weil er im Herzen ein Rock’n’Roller ist.
29. You Ain’t Going Nowhere – BOB DYLAN’S GREATEST HITS VOL. 2 (1971). Wie verbrachte Dylan den „Summer of Love“? Indem er sich in einen Keller in upstate New York verkroch, mit seinen Freunden von The Band seltsame Demos einspielte und vor der ungewissen Zukunft warnte: „Strap yourself to the tree with roots/ You ain’t goin‘ nowhere.“ Außenstehende hörten den Song zum ersten Mal in der orthodoxen Country-Version, die die Byrds 1968 für „Sweetheart Of The Rodeo“ einspielten. Als Dylan ihn 1971 (als einen der neuen Tracks) auf seinen „Greatest Hits Vol.2“ veröffentlichte, transformierte er ihn in einen jovialen Banjo-Shuffle und baute noch einen Wink an Roger McGuinn von den Byrds mit ein:
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„Gonna see a movie called ,Gunga Din‘/ Pack up your money, and pull up your tent, McGuinn.“ Die später veröffentlichte „Basement Tapes“-Version ist geheimnisvoll, abgründig und doch feierlich. In einem Outtake macht Dylan daraus ein bekifftes Wiegenlied, mit dem er sich offenbar an seine Hausgenossen wendet: „Look here, dear soup, you’d best feed the cats/ The cats need feeding and you’re the one to do it.“ In späteren Versionen nahm er die Katze wieder heraus, beließ es aber beim locker-verspielten Ambiente des Songs.
28. The Times They Are A-Changin‘ – THE TIMES THEY ARE A-CHANGIN‘ (1964). Als man ihn noch die „Stimme seiner Generation“ nannte, dachte man unwillkürlich an den Mann von „The Times They Are A-Changin‘“. Auch wenn Dylan diese Beschreibung später energisch zurückwies, so forderte er sie mit dieser leidenschaftlichen Hymne doch geradezu heraus. Es ist ein Meisterwerk des politischen Songs, auch wenn Dylan auf Feindbilder und konkrete Aktionen verzichtet, sondern eine chaotische, gewalttätige Welt nur beschreibt …
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(Dass John F. Kennedy wenige Monate zuvor erschossen worden war, gab dem Song sicher zusätzlichen Nachdruck.) Dylan singt mit der Stimme eines Propheten und wählt Formulierungen, die sich biblischer Assoziationen bedienen – oder, wie er es selbst formulierte: „kurze, prägnante Verse, die sich zu einem hypnotischen Ganzen zusammenfügten“.
27. Sad-Eyed Lady Of The Lowlands – BLONDE ON BLONDE (1966). In seinem autobiografischen Song „Sara“ erklärte Dylan selbst, dass er „Sad-Eyed Lady“ tatsächlich für die Frau geschrieben habe, die er kurz vor den Aufnahmen zu „Blonde On Blonde“ heimlich geheiratete hatte. „Staying up for days in the Chelsea Hotel“, singt er dort, „writing ,Sad-Eyed Lady Of The Lowlands‘ for you.“ Wie so viele Details aus Dylans Privatleben, ist die „Sara“-Anekdote zwar faszinierend, aber leider nicht zutreffend. Er schrieb den Song für Sara Dylan, tat dies aber bei einer nächtlichen Session in Nashville …
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Während die Sessionmusiker Karten spielten, zog sich Dylan zurück, um die zärtlich-surrealen Verse zu Papier zu bringen. „Es war anfangs keine große Sache“, erklärte er 1969, „aber plötzlich konnte ich nicht mehr aufhören.“ Nach acht Sunden Arbeit trommelte Dylan die Musiker um vier Uhr morgens zusammen und gab ihnen nur minimale Vorgaben. Sie hatten keine Ahnung, dass der Song elf Minuten lang dauern würde – und waren nicht minder erstaunt, als ihnen Dylan sagte, dass sie bereits mit dem ersten Take den Nagel auf den Kopf getroffen hatten.
26. Masters Of War – THE FREEWHEELIN‘ BOB DYLAN (1963). Es ist Dylans grimmigster Protestsong. Der Ausgangspunkt scheint die Angst vor einem atomaren Holocaust zu sein, doch Dylan wäre nicht Dylan, wenn er dem damals populären Thema nicht einen unerwarteten Dreh geben würde. Stellten Anti-Kriegs-Lieder gewöhnlich Politiker oder Generäle an den Pranger, so nahm Dylan die ganze Militärindustrie aufs Korn: Schlichte Gier sei die Motivation der „masters of war“, nicht ihre Ideologie.
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„Is your money that good?“, spuckt Dylan ihnen entgegen, nachdem er ein globales Massaker beschreibt, „will it buy you forgiveness?“ Zum Song-Ende wünscht er den Bombenbauern selbst den Tod und schwört, an ihren Gräbern auszuharren, „till I‘m sure that you dead“. „Normalerweise singe ich ja keine Lieder, in denen man anderen Menschen den Tod wünscht“, sagte er damals, „aber in diesem Fall musste ich einfach eine Ausnahme machen.“
25. Knockin‘ On Heavens Door – PAT GARRETT & BILLY THE KID (1973). Dylan – immer ein Fan von Western und anderen Outlaw-Epen – schrieb eine Handvoll Songs für Sam Peckinpahs Film „Pat Garrett & Billy The Kid“. Der Filmkomponist Jerry Fielding wurde konsultiert, um Dylan unter die Arme zu greifen. Fielding, vom Entwurf dieser ergreifenden Ballade über einen sterbenden Sheriff wenig begeistert, beschrieb seine Reaktion später so: „Es war einfach Scheiße …
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Ich stieg umgehend aus dem Projekt wieder aus.“ Er blieb mit seiner Meinung ziemlich allein: „Knockin‘ On Heaven’s Door“ erreichte Platz 12 in den US-Pop-Charts und wurde einer von Dylans meist gecoverten Songs. Er ist musikalisch auch einer seiner einfachsten: Wer sich vier Akkorde und sieben Textzeilen merken kann, ist im Spiel. Was vermutlich auch der Grund ist, dass dieser Song gerne gewählt wird, wenn Dylan zum Ende eines Auftritts einen Gast-Star auf die Bühne holt.
24. Lay, Lady, Lay – NASHVILLE SKYLINE (1969). Von LENNY KRAVITZ: Zum ersten Mal hörte ich den Song, als ich sechs oder sieben Jahre alt war. Ich saß hinten im alten VW-Käfer meiner Eltern, die gerade durch New York kurvten und WABC eingeschaltet hatten. Es war die erste Dylan-Nummer, in die ich mich spontan verliebte. Als ich später andere Songs hörte, fragte ich mich: „Wo ist denn diese tiefe, sonore Stimme geblieben?“ Auf „Lay, Lady, Lay“ klang seine Stimme jedenfalls ganz anders – und ich war davon ausgegangen, dass dieser Typ immer so singen würde …
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Es ist eigentlich ein „schwarzer“ Song – sehr beseelt und sinnlich. „Lay across my big brass bed“ könnte eine Zeile sein, wie sie auch ein Isaac Hayes schreibt. Das Wundervolle an Dylan ist nun mal die Tatsache, dass er dieses unglaubliche Chamäleon ist: Er vereint so viele unterschiedliche Charaktere in sich – wie ein Maler, dem eine unbegrenzte Auswahl an Farben zur Verfügung steht. Ich liebe den Gesang, ich liebe die absteigende Akkordfolgen, ich liebe die kleinen Schlenker des Schlagzeugs. Es ist einfach ein schlichter, wunderschöner Lovesong, an dem einfach alles stimmt.
23. Forever Young – PLANET WAVES (1974). Dylan nahm dieses volksnahe Stoßgebet mit der Band gleich zweimal auf: als gefühlvolle Ballade, mit der die erste LP-Seite beendet wird – und als krachenden Country-Rocker, der Seite 2 eröffnet. Lyrics wie „May you have a strong foundation/ When the wind of changes shift“ sind so positiv und verbindlich, wie sie Dylan nur selten schrieb …
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Sie waren vielleicht auch ein ermutigender Appell an eine Generation, die nach den Sixties mit einem dicken Kultur-Kater aufgewacht war. Dylan erwähnte, dass er den Song für seinen Sohn Jesse geschrieben habe; andere sehen in ihm eine Referenz an Neil Young, der 1972 mit „Heart Of Gold“ einen überraschenden Nummer-eins-Hit gelandet hatte.
22. Don’t Think Twice, It’s All Right – THE FREEWHEELIN‘ BOB DYLAN (1963). Dylan leckte seine Wunden, als ihn Suze Rotolo, seine erste ernsthafte Freundin, 1962 verließ und zu einem zeitlich unbegrenzten Trip nach Italien aufbrach. In dieser Situation entstand eine klassische Trennungs-Ballade, in der er zwischen Enttäuschung und bitteren Vorwürfen („You just wasted my precious time“) hin- und hertaumelt. „Es ist kein Lovesong“, schrieb er in den Liner-Notes zu „The Freewheelin‘ Bob Dylan“, „sondern nur eine Aussage, die man vielleicht macht, um sich nachher besser zu fühlen. Es ist so, als würde man mit sich selbst sprechen.“ …
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Dylan borgte sich die Melodie von dem Folksänger Paul Clayton (der sie selbst aus einem Lied namens „Scarlett Ribbons For Her Hair“ übernommen hatte) und stimmte einem außergerichtlichen Vergleich zu, als ihn Clayton verklagen wollte. Ein Geflügel-Großhändler in der Nähe von Dylans Apartment lieferte hingegen kostenlos die Kulisse des Songs: „When your rooster crows in the break of dawn/ Look out your window, and I’ll be gone.“ Wie sich Rotolo in ihren Memoiren von 2008 erinnerte, „blieben Bob und ich die ganze Nacht auf … Wenn der Morgen kam, konnten wir das Krähen der Hähne hören.“
21. Mississippi – LOVE AND THEFT (2001). Von SHERYL CROW: Ich veröffentlichte „Mississippi“ noch vor Bob Dylan auf meinem Album „The Globe Sessions“ – und es veränderte das komplette Album. Es gibt kein Gramm Fett in diesem Song, jede Zeile erfüllt ihre Funktion. Er sagte einmal, dass er die Vorstellung liebe, mit jeder Zeile einen neuen Song anfangen zu können. Auf „Mississippi“ trifft das definitiv zu. Es ist ein philosophischer Song über das Altern, über die Erlösung und die Wege, die einem Menschen offenstehen – und die Worte klingen fast so, als stammten sie aus der Bibel:
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„Well, my ship’s been split to splinters and it’s sinkin‘ fast/ I’m drownin‘ in the poison, got no future, got no past/ But my heart is not weary, it’s light and it’s free.“ Es ist der Dylan, der auch ein Short Story-Schreiber wie John Steinbeck oder Mark Twain sein könnte: Er reißt eine Geschichte an, macht aber gleichzeitig auch diese zeitlosen, fundamentalen Statements. „Missisippi“ ist unsere Einführung in den Dylan, der seiner Sterblichkeit mit Gelassenheit entgegensieht. Er mag vor einigen Jahren seinen 70. Geburtstag gefeiert haben, aber für mich scheint er einfach nicht mehr zu altern. Aber das ist eine Eigenschaft, die mythologische Gestalten nun einmal haben.
20. Blowin‘ In The Wind – THE FREEWHEELIN‘ BOB DYLAN (1963). Der Song, der seinen Ruf als „Prophet“ begründete, stellt neun Fragen – und gibt keine Antworten. Dylan behauptet, er habe nur 20 Minuten gebraucht, um diese Meditation über die menschliche Unmenschlichkeit herauszuhauen – basierend auf dem Spiritual „No More Auction Block“, in dem die instituierte Sklaverei angeprangert wurde …
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Die Version, die zunächst im Radio gespielt wurde, war aber das Cover von Peter, Paul & Mary, das 1963 immerhin Platz 2 der amerikanischen Pop-Charts belegte. Egal, welche Version es war – die Worte waren so simpel, als seien sie ihm auf einer Steintafel aus dem Himmel gereicht worden. „Es sind absolut wundervolle Worte“, sagte Merle Haggard. „Sie waren damals zeitlos – und sind es noch immer.“
19. Blind Willie McTell – THE BOOTLEG SERIES VOL. 1 – 3 (1991). „Infidels“-Produzent Mark Knopfler war angeblich schockiert, als Dylan dieses Highlight wieder vom Album entfernte. Selbst Jahrzehnte später ist Dylans Entscheidung nicht nachvollziehbar: „Blind Willie McTell“ ist eins der wenigen Meisterwerke, die er Anfang der Achtziger ablieferte …
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Nur von sparsamer Instrumentierung begleitet, begibt er sich auf eine Reise in die Südstaaten, zu den Sträflingskolonnen in Ketten, den Friedhofsglöckchen und den „charcoal gypsy maidens“. Es ist eine desillusionierende Verneigung vor dem wirklichen Willie McTell, der für seine nie endenden Tourneen ebenso berüchtigt war wie Dylan selbst. „I was born to be a rambler“, sang der verstorbene Bluesmann einst. „I’m gonna ramble till I die.“
18. Ballad Of A Thin Man – HIGHWAY 61 REVISITED (1965). Er schrieb bösartige Songs en masse, aber es gibt nur wenige, die gleichzeitig auch so lustig sind wie die Geschichte des Mannes, der einfach nichts geschnallt kriegt. Dylan serviert einige rätselhafte Zeilen („You should be made to wear earphones“), nur um dann den perplexen Hörer dafür anzumachen, dass er den Witz nicht kapiert …
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Es gibt auch zahlreichende homoerotische Anspielungen – von dem nackten Mann über den Schwertschlucker bis zum einäugigen Zwerg –, die vermutlich nur deshalb ihre Existenzberechtigung haben, weil sie biedere Zeitgenossen wie „Mr. Jones“ in Verlegenheit bringen. Dylan hat die Frage nach der Identität des wahren Mr. Jones im Laufe der Jahre mehrfach beantwortet, doch seine überzeugendste Aussage lieferte er 1985: „Es gab damals eine Menge Mr. Joneses … Man dachte nur: ,Oh Scheiße, hier kommt schon der 1000. Mr. Jones.‘“
17. This Wheel’s On Fire – THE BASEMENT TAPES (1975). Man kann so ziemlich alles in diese brodelnde Beschwörung des Chaos‘ hineininterpretieren – den Vietnamkrieg wie Dylans Motorradunfall 1966. Tatsächlich aber ist es Dylans grimmiges Versprechen, dass der Verrat, der in den ersten Zeilen angesprochen wird („You’re the one/ That called on me to call on them/ To get your favors done“), mit gleicher Münze heimgezahlt werden wird. Es muss Dylan schwergefallen sein, diesen Furor in Tönen zu komprimieren. Jedenfalls bat er Rick Danko von The Band, die passende Musik vorzuschlagen …
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Die langsame, richtungslose Melodie trug ihren Teil dazu bei, eine Atmosphäre von Verzweiflung und Verlassenheit zu kreieren. „Ich brachte mir damals gerade das Klavierspielen bei“, erinnerte sich Danko. „Einige der Sachen, die ich schrieb, schienen perfekt zu Dylans Lyrics zu passen.“ Im Vergleich zur „Basement Tapes“-Version von 1967 bekam die Nummer eine Adrenalinspritze (und ein funky Keyboard-Element), als The Band sie 1968 für ihr Debütalbum „Music From Big Pink“ aufnahmen. Die definitive Coverversion aber spielten die Byrds 1969 auf „Dr. Byrds & Mr. Hide“ ein: Die sägende Fuzz-Gitarre von Clarence White klingt, als sei die Apokalypse bereits eingetreten.
16. Positively 4th Street – BOB DYLAN’S GREATEST HITS (1967). Von LUCINDA WILLIAMS: Ich liebe einfach das Sujet des Songs: Eifersucht kontra künstlerischer Erfolg. Ich hab‘s am eigenen Leib erfahren. „You see me on the street, you always act surprised/ You say: ,How are you? Good luck!‘ But you don’t mean it.“ Ich machte die gleiche Erfahrung, als ich zurück nach Austin kam. 1974 hatte ich dort als Straßensängerin angefangen, war dann aber nach Los Angeles gezogen. Als ich wieder nach Austin zurückkam, war plötzlich alles anders. Bei einem Konzert traf ich eine Freundin, eine andere Musikerin, die ich schon von früher kannte. Als ich in den Tourbus stieg, wollte sie noch ein bisschen rumhängen und meinte:
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„Lucinda, manchmal wünschte ich mir, du hättest keinen Erfolg gehabt.“ Was zum Teufel soll das bedeuten? Jesus! Aber genau das ist das Thema von „Positively 4th Street“. Vor allem liebe ich das Ende des Songs: „I wish that for just one time, you could stand inside my shoes/ You’d know what a drag it is to see you.“ Es ist einfach ein wundervolles Gefühl, diese Zeilen zu singen. Dylan schrieb diese Zeilen wohl, als er noch im Greenwich Village lebte, aber gerade berühmt wurde. Niemand mag zugeben, dass solche Geschichten wirklich passieren – und natürlich weiß niemand, was es bedeutet, Bob Dylan zu sein. Es gibt diese Person nur einmal. Und er spielt seine Rolle verdammt gut.
15. Simple Twist Of Fate – BLOOD ON THE TRACKS (1975). Dylan observiert, wie sich eine harmonische Beziehung in Luft auflöst, ohne dass die beiden Protagonisten für die Trennung verantwortlich sind. Seinerzeit vermutete man zwar, dass er vom Ende seiner Ehe mit Sara sprach, doch sein Notizbuch zu „Blood On The Tracks“ enthüllte eine andere Version:
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Ursprünglich hatte der Song den Untertitel „4th Street Affair“ – eine Anspielung auf das Apartment in 161 W 4th Street, wo er mit Freundin Suze Rotolo wohnte, nachdem er in New York angekommen war. Der Erzähler des Songs hat sich in eine Reihe belangloser One-Night-Stands geflüchtet (wie Dylan Anfang 1975 vermutlich auch), doch seine Gedanken wandern noch immer in die Vergangenheit zurück.
14. Highway 61 Revisited – HIGHWAY 61 REVISITED (1965). „Ich hatte immer das Gefühl, auf ihm losgefahren zu sein, ihn nie verlassen zu haben – und von ihm aus all meine Ziele erreichen zu können.“ Dylan sprach vom Highway 61, der von seiner Heimat Minnesota runter nach New Orleans führt. Auf „Highway 61 Revisited“ konnte er beweisen, wie weit ihn diese Straße führte. Der Track entstand in einer Marathon-Session, die auch „Just Like Tom Thumb‘s Blues“, „Ballad Of A Thin Man“ und „Queen Jane Approximately“ abwarf. Doch es war das frenetische Titelstück seines elektrischen Durchbruch-Albums, auf dem ein hochgradig maliziöser Dylan wirklich Gas gibt …
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Er lädt einige zweifelhafte Figuren (nicht zuletzt: Gott und Abraham) auf Amerikas „blues highway“ ein – und geht gleichzeitig mit lieb gewonnenen Exzessen (dem hohlen US-Patriotismus, der krassen Kommerzialisierung) hart ins Gericht. Sessionmusiker Al Kooper verriet später, dass er es war, der Dylan die Polizeipfeife in die Hand drückte, die man am Anfang und Ende des Songs hört. Dylan könne sie doch vielleicht statt seiner angestammten Mundharmonika einsetzen. „Etwas Abwechslung für dein Album“, sagte er Dylan. „Passt auch besser zu den Lyrics.“
13. Subterranean Homesick Blues – BRINGING IT ALL BACK HOME (1965). Der „amerikanische Traum“ sah für Dylan wie folgt aus: „Twenty years of schooling and they put you on the day shift“ – und das auch nur, wenn du Riesen-Dusel hast, Kid. „Subterranean Homesick Blues“ war Dylans erster elektrischer Stromstoß und wurde im März 1965 als Single veröffentlicht. Mit einem Sperrfeuer aus Einzeilern, die fast schon den Rap vorwegnehmen, macht er sich über die kollektive Konfusion in Amerika lustig …
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„Look out, kid/ You’re gonna get hit“, warnt Dylan die Kids, die vor Cops, Lehrern, der Armee, ja sogar Meteorologen Reißaus nehmen. (Was die radikale Politgruppe „The Weathermen“ nicht davon abhielt, trotzdem ihren Namen aus diesem Song abzuleiten.)
„Es ist kein Folk-Rock, es sind einfach nur Instrumente“, sagte Dylan 1965 der „Chicago Daily News“. „Ich hab mich nun schon lange genug auf den unterschiedlichsten Straßen herumgetrieben, um so was machen zu können.“ Nach „Subterranean Homesick Blues“ klangen Amerikas Straßen jedenfalls noch gefährlicher – wenn auch aufregender – denn je zuvor.
12. Desolation Row – HIGHWAY 61 REVISITED (1965). Von MICK JAGGER: Die Musik ist simpel – gerade mal drei Akkorde für elf Minuten, dazu minimale Begleitung –, und doch ist sie unglaublich effektiv. Wir haben Dylan, einen Bassisten und Charlie McCoy, den Studio—Gitarristen aus Nashville, der einen hübschen Kontrapunkt zur Melodie liefert. Selbst heute noch klingt dieser leicht spanische Touch einfach wundervoll. Aber er lenkt auch nicht davon ab, was nun mal der eigentliche Programmpunkt ist: der Gesang und die Lyrics. Es ist fast schon so etwas wie ein Rezitativ, das Dylan hier mit unbewegter Miene vorträgt, und doch zieht es dich unwillkürlich in seinen Bann. Was mir besonders gefällt, sind all diese Charaktere, mit denen er unsere Fantasie herausfordert …
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Bekannte Zeitgenossen, einige real, einige mythisch, tauchen in einem surrealistischen Kontext auf: das Phantom der Oper, Ezra Pound und T. S. Eliot, Cinderella, Bette Davis, Kain und Abel … Ich mag die Stelle über Einstein, der als Robin Hood verkleidet ist: „You would not think to look at him, but he was famous long ago/ For playing the electric violin on Desolation Row.“ Man kann sich Einstein plastisch vorstellen: wie ihm die Haare zu Berge stehen, wie er zur Geige greift – die Einstein ja tatsächlich gespielt hat. Jemand behauptete mal, „Desolation Row“ sei Dylans Version von Eliots „The Waste Land“. Ich kann das nicht verifizieren, aber es ist in jedem Fall eine wunderbare Sammlung geistreicher Metaphern – eine fiktive „Bowery“ –, die deine Fantasie wirklich auf Trab bringt.
11. It’s All Over Now, Baby Blue – BRINGING IT ALL BACK HOME (1965). Im Film „Don’t Look Back“ sitzt Dylan in einem Zimmer des piekfeinen Londoner Savoy-Hotels. Er ist gelangweilt, greift zur Gitarre und spielt für die anwesenden Rumhänger einen neuen Song, den er gerade geschrieben hat. Er hat ein teuflisches Grinsen im Gesicht, doch schon nach den ersten zwei Versen ist er der Einzige, der überhaupt noch grinst. Allen anderen Anwesenden ist das Lachen vergangen. Die Party ist zu Ende …
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Der Song ist ein giftiges Adieu – von der früheren Unschuld, einem Mädchen namens „Baby Blue“ oder vielleicht auch der gesamten Folk-Szene. Als seine elektrischen Songs beim Newport Folk-Festival ausgebuht worden waren, kehrte Dylan mit der Akustik-Gitarre zurück und spielte genau diesen Song. Es war ein symbolischer Stinkefinger. „Baby Blue“ sollte umgehend einer seiner meist gecoverten Songs werden, aber niemand konnte „Strike another match, go start anew“ mit einem derartigen Ingrimm singen wie Dylan selbst.
10. Every Grain Of Sand – SHOT OF LOVE (1981). „Der Song könnte auch einer der großen David-Psalmen sein“, sagte Bono über die hypnotische Ballade, die Dylans explizit christliche Phase abschloss. Teils Mystizismus à la William Blake, teils noch biblischer Nachhall, verabschiedet sich Dylan hier jedenfalls von der Selbstgerechtigkeit, die seine religiösen Songs überschattet hatte. Auf dem verzweifelten Ruf nach Erlösung wird er von der Gospel-Sängerin – und Dylans damaliger Herzensdame – Clydie King begleitet …
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(„Mir läuft es kalt den Rücken herunter, wenn ich sie nur atmen höre“, sagte er einmal.) „Every Grain Of Sand“ überrascht mit einer bewegenden Demut (Sometimes I turn, there’s someone there, other times it’s only me“) oder, wie Bono es ausdrückt: „Dylan hört auf, die Welt anzuklagen, richtet das Licht auf sich selbst und sinkt auf die Knie.“
Dylan beschrieb „Every Grain Of Sand“ später als „einen beseelten Song, der einfach über mich kam. Ich hatte das Gefühl, nur die Worte auszusprechen, die von einem anderen Ort kamen.“
9. Visions Of Johanna – BLONDE ON BLONDE (1966). „Visions Of Johanna“ ist eine Tour de Force – ein Durchbruch nicht nur für Dylan, sondern für die Profession des Songschreibers generell. Es ist die impressionistische Erinnerung an eine beschwipste Nacht in New York, reich an visuellen Details und erotischen Wünschen, wobei die Verse zwischen der präzisen Beschreibung der einen Frau (der anwesenden und verfügbaren Louise) und seinem heimlichen Verlangen nach einer abwesenden Frau oszillieren. Johanna mag nur eine Vision sein, aber sie ist in jedem Fall seine Droge. „Es ist paradox“, sagte Bono einmal. „Er schreibt den ganzen Song über dieses eine Mädchen und beschreibt sie bis ins Detail, aber am Ende stellt sich heraus, dass er eigentlich an ein ganz anderes Mädchen denkt.“
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Dylans meisterliche Beschreibung einer Obsession (die er sinnigerweise kurz nach seiner Hochzeit 1965 schrieb) entwickelte sich für ihn selbst zur Droge. Im Dezember 1965 stellte er den Song erstmals bei einem Konzert vor (Im Publikum befand sich seine ehemalige Flamme Joan Baez, die sich fälschlicherweise angesprochen fühlte), um ihn dann auf seiner anschließenden Welt-Tournee jeden Abend zu spielen – stets aber allein auf der Akustik-Gitarre. Ein Versuch, mit The Hawks eine elektrische Version einzuspielen (noch unter dem bissigen Titel „Seems Like A Freeze Out“) war im November 1965 nach 14 Anläufen ergebnislos abgebrochen worden. The Hawks waren zu diesem Zeitpunkt wohl noch zu sehr eine Bar-Band, um Dylans komplexe Konfession nuanciert umsetzen zu können.
Bei den Aufnahmen in Nashville gelang die Umsetzung indes gleich mit dem ersten Take. Die gestandenen Session-Profis, durch Robbie Robertsons Gitarre verstärkt, lieferten für das poetische Feuerwerk und Dylans vokale Stimmungswechsel offenbar die gewünschte, musikalisch entspannte Grundlage.
„Ich spiele die Nummer noch immer dann und wann“, sagte er 1985. „Sie spricht mich eigentlich genauso an wie damals. Auf unerklärliche Weise vielleicht sogar noch mehr.“
8. Mr. Tambourine Man – BRINGING IT ALL BACK HOME (1965). Von DAVID CROSBY: Wenn ich mich recht erinnere, war die Byrds-Aufnahme von „Mr. Tambourine Man“ die erste Aufnahme mit einem wirklich anspruchsvollen Text, die man je im Radio hören konnte. Die Beatles waren noch nicht so weit, „Eleanor Rigby“ oder „A Day In The Life“ schreiben zu können, sondern sangen immer noch ihr „Ooh, baby“. Aber Bobs Lyrics waren einfach superb. „To dance beneath the diamond sky with one hand waving free“ – das war die Zeile, die mich wirklich packte. Ich denke, er war gerade dabei, seine Stimme als Dichter zu finden.
Ich hatte ihn ein paar Jahre zuvor in „Gerde’s Folk City“ in New York erstmals gesehen. Alle schwärmten sie damals von ihm …
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Ich dachte mir nur: „Scheiße, ich kann besser singen als der. Warum machen sie nur so einen Bohei um ihn?“ Dann fing ich an, ihm genauer zuzuhören – und war drauf und dran, die Flinte wieder ins Korn zu werfen. Ich glaube, dass die Byrds Bobs ideale Dolmetscher waren. Bob hatte nicht die Vision, den Song so zu bearbeiten, wie wir es dann taten. Als er ins Studio kam und unsere Version hörte, war er Feuer und Flamme. Ich glaube sogar, dass unsere Version mit ein Grund war, dass Dylan sich danach zum Rock’n’Roll orientierte. Er dachte sich wohl: „Moment mal, das ist ja mein Song“ – und konnte mit eigenen Ohren hören, wie man ihn auch ganz anders spielen konnte.
7. It’s Alright, Ma (I’m Only Bleeding) – BRINGING IT ALL BACK HOME (1965). „Ich weiß nicht mehr, wie ich so einen Song schreiben konnte“, sagte Dylan 2004. „Setz dich hin und versuch’s mal. Ich hab’s einmal geschafft und hab mir inzwischen auch andere Sachen draufgeschafft, aber das kann ich beim besten Willen nicht mehr.“
Dylan schrieb ihn 1964 in Woodstock, als seine Folk-Freunde Joan Baez und Richard & Mimi Farina bei ihm zu Besuch waren. „It’s Alright, Ma“ markiert den Übergang von den politischen Statements, die kurzzeitig sein Trademark waren, zu einer universellen Vision „of life, and life only“. Anstatt mit dem Finger auf konkrete kulturelle Defizite zu zeigen, rammt er das gesamte Konstrukt in Grund und Boden und behauptet nun, dass alles Eitelkeit sei und Heuchelei und durchsichtige Propaganda …
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Die Lyrics verarbeiten Verneigungen vor Arthur Koestler (und seinem Roman „Sonnenfinsternis“), dem Buch der Ekklesiasten und dem von ihm so geliebten Elvis Presley. (Der Songtitel gemahnt sogar an Presleys „That’s allright now, Mama.“) Dylan hatte immer Probleme, den Song auf der Bühne zu singen, da er nur eine Momentaufnahme in seiner Entwicklung war – ein kleines Juwel, auf das er durchaus stolz war, dessen innere Mechanik ihm aber selbst fremd blieb. Als er 1980 einmal über „That’s Alright, Ma“ sprach, beschrieb er die Schwierigkeit, „mit der Person Kontakt aufzunehmen, die ich beim Schreiben des Songs war. Nichtsdestotrotz kann ich ihn noch immer singen – und ich bin dankbar, ihn geschrieben zu haben.“
6. I Shall Be Released – BOB DYLAN’S GREATEST HITS VOL. 2 (1971). Mit der schlichten Geschichte eines Gefangenen, der sich zurück nach der Freiheit sehnt, machte Dylan einen bewussten Versuch, die wuchernden Assoziationen seiner Mitt-Sechziger-Songs hinter sich zu lassen. „1968 erzählte er mir, dass er inzwischen kürzere Verse schreibe – und dass jede Zeile eine konkrete Funktion habe“, sagte Allen Ginsberg einmal. „Aus dieser Zeit stammen Sachen wie ,I Shall Be Released‘. Er wollte seine Worte nicht mehr so verschwenderisch einsetzen wie früher.“ Das Resultat ist einer von Dylans populärsten Lovesongs, den er erstmals 1967 auf den „Basement Tapes“-Sessions mit The Band verewigte …
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Die Gitarre und eine kirchenähnliche Orgel umrahmen Dylans näselndes Stoßgebet – und erst wenn im Refrain Richard Manuels leidenschaftlicher Harmoniegesang dazustößt, strömt das Sonnenlicht durch die schweren Bleiglasfenster. Mitte der Achtziger pflegte sich David Crosby (der wegen eines Drogenvergehens neun Monate in einem texanischen Gefängnis verbrachte) diesen Refrain selbst vorzusingen: „Any day now, any day now/ I shall be released.“ „Ich ritzte die Zeilen auf meine Zellenwand“, erinnerte sich Crosby. „Ich brauchte Stunden dafür, aber ich ließ mich nicht abbringen. Und ich weiß noch, wie viel Mut es mir machte.“
5. All Along The Watchtower – JOHN WESLEY HARDING (1967). Man könnte die These vertreten, dass der „Joker“ und der „Thief“ zwei polare Konstanten in Dylans Werk sind – und dieses kleine, gerade mal zwölfzeilige Bravourstück über einen Joker (der glaubt, beraubt worden zu sein) und einen Dieb (der glaubt, dass alles ein Joke sei) dringt tatsächlich bis in den Kern des Dylanschen Kosmos‘ vor. Mit Sicherheit ist „Watchtower“ eine seiner unheimlichsten Aufnahmen: Karg arrangiert und von Dylans Sprechgesang dominiert, glaubt man zunächst, eine Ballade zu hören, die sich nun endlos fortsetzen wird …
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Doch kaum haben die beiden Protagonisten ihre einführenden Statements gemacht, endet der Song in einer geheimnisvollen Metapher („two riders were approaching“), die es dem Hörer anheimstellt, die Assoziationen frei wuchern zu lassen.
Die Coverversion von Jimi Hendrix ist eine der wenigen Interpretationen, die Dylans eigene Performance nachhaltig prägten. Hendrix nahm seine Version bereits kurz nach Veröffentlichung von „John Wesley Harding“ auf und gab dem Song dabei eine ungeahnte Intensität. Dylan wusste sich artig zu bedanken: „Er spielte meine Songs genau so, wie ich sie gespielt hätte, wenn ich er gewesen wäre.“
4. Just Like A Woman – BLONDE ON BLONDE (1966). Sie mag Dylans gefühlvollste Ballade sein – ein Lovesong ist sie nicht. „Just Like A Woman“ ist eine komplexe Kreuzung aus Bewunderung und Enttäuschung, Rache und Reue. Dylan äußerte sich nie, ob es eine reale Vorlage für diese Person gegeben habe (Dylanologen verweisen gerne auf Edie Sedgwick, den problematischen „Superstar“ aus Andy Warhols Factory), doch tatsächlich thematisiert Dylan hier primär das Chaos seiner eigenen Liebes-Lektionen (das Geben und Nehmen und Loslassen) …
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Gleichzeitig war es Dylans erster erfolgreicher Ausritt ins Country-Rock-Terrain. Auch wenn er gerade erst mit The Hawks für Schlagzeilen und Begeisterung gesorgt hatte, nahm er den Song mit Sessionmusikern in Nashville auf, die seine Melange aus Entrückung und Verzweiflung kongenial umsetzten. „Man braucht ein ganzes Leben, um all die Details verdauen zu können“, sagte Songschreiber Jimmy Webb. „Noch heute komme ich aus dem Staunen nicht heraus. Es ist handwerklich ein absolut atemberaubender Song.“
3. Tangled Up In Blue – BLOOD ON THE TRACKS (1975). „Ich brauchte zehn Jahre, um diesen Song zu leben“, pflegte er auf der Bühne gerne zu sagen, „und zwei Jahre, um ihn zu schreiben.“ Seine Ehe lag bereits in Scherben, als er seine bislang intimste Reflexion über Verlust und Sehnsucht verfasste (die dann als Opener für „Blood On The Tracks“ verwendet wurde). Schwankend zwischen Selbstvorwurf und Anschuldigung, entwirft er ein Bild der „Sixties“, das im Rückblick wie ein Jahrzehnt utopischer Träume und enttäuschter Verheißungen wirkt. Sein klagender Gesang und die bodenständige Gitarrenarbeit der Sessionmusiker aus Minneapolis rufen eher ein Sentiment aus der Vergangenheit in Erinnerung:
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den Herzschmerz und die anschließende geistige Wiedergeburt, wie wir sie aus den Folk-Balladen der Appalachen kennen. Für seine Konzerte wählte Dylan die unterschiedlichsten Interpretationen, entfernte sich dabei aber nie von der emotionalen Unverfälschtheit dieser Aufnahme. Es war der Ort, wo individuell empfundene Wahrheiten Zuflucht und Trost im Schoß des amerikanischen Folksongs fanden.
2. A Hard Rain‘s A-Gonna Fall – THE FREEWHEELIN‘ BOB DYLAN (1963). Der größte Protestsong von dem größten Protestsänger seiner Zeit: ein siebenminütiges Epos, das vor der kommenden Apokalypse warnt, gleichzeitig aber die Horrorvisionen (Waffen-schwingende Kinder, ein Baum, aus dem Blut fließt) mit alttestamentarischem Furor beschreibt. „Jede Zeile ist eigentlich der Anfang eines neuen Songs“, sagte Dylan damals. „Als ich die Nummer schrieb, ging ich davon aus, in meinem Leben nicht genug Zeit zu haben, um all diese Songs zu vollenden. Also packte ich sie alle in einen.“
Die Bedrohung durch einen Atomkrieg lag damals in der Luft – wie auch andere „Freewheelin‘“-Songs („Talkin‘ World War III Blues“ und „Let Me Die In My Footsteps“) dokumentieren. Aber der „rain“ war in diesem Fall eher ein symbolischer: „Es geht nicht um radioaktiven Niederschlag“, kommentierte Dylan. „Ich dachte eher an ein gottgegebenes Ende, wie es ohnehin stattfinden wird.“ …
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„A Hard Rain’s A-Gonna Fall“ (das „a-gonna“ ist eine Verneigung vor Woody Guthrie) war zunächst ein Gedicht, das Dylan auf der Schreibmaschine seines Greenwich Village-Freundes Wavy Gravy heraushaute. Der Song feierte seine Premiere im September 1962, als Dylan Teil einer Folk-Revue in der Carnegie Hall war, bei dem jedem Musiker nur zehn Minuten zur Verfügung standen. „Bob hob die Hand“, erinnerte sich Pete Seeger, der das Konzert veranstaltete, „und meinte: ,Wie soll ich das machen?‘ Einer meiner Songs ist allein schon zehn Minuten lang.‘“ Mit „A Hard Rain“ greift Dylan erstmals das Thema der Apokalypse auf, das von nun an seine Arbeit bestimmen sollte. Aber die Wort-Kaskaden münden diesmal nicht in einer Katastrophe, sondern in der Einsicht des Künstlers, gegen jede Form von Finsternis ansingen zu müssen. „to tell it and think it and speak it and breathe it“ – bis seine Lungen bersten. „Der Song ist schon jenseits von Genie“, meinte Bob Weir von den Grateful Dead. „Ich glaube, dass sich der Himmel öffnete und eine übernatürliche Eingebung zu ihm hinunterschickte.“
1. Like A Rolling Stone – HIGHWAY 61 REVISITED (1965). Von Bono: Dieses höhnische Lächeln – man kriegt es einfach nicht aus dem Kopf. Sicher, auch Elvis war rotzig und arrogant – und die Rolling Stones nicht minder –, aber es war Dylans provokative Anmache auf „Like A Rolling Stone“, die den Wein wirklich in Essig verwandelte.
Es ist ein wahrer Leberhaken von einem Pop-Song. Die verbalen Hiebe öffneten einer ganzen Songwriter-Generation neue Türen, während der Zuhörer betäubt auf der Ringmatte zurückbleibt. „Like A Rolling Stone“ ist die Geburtsstunde eines Bilderstürmers, der die Provokation zur Sprache des Rock’n’Roll macht – Dylan als biblischer Jeremia, der gegen die Kleingeister und Mitläufer die Peitsche erhebt. Nachdem er zuvor gegen die politischen Heuchler gewettert hatte, zieht er nun gegen Feinde zu Feld, die aus seiner näheren Umgebung stammen: die „Szene“, die High Society, die „pretty people“, die von sich glauben, „they’ve got it made“. Er setzt sich noch nicht mit seinen eigenen Dämonen auseinander – das folgt erst später –, aber die Trennlinie zwischen dem „wir“ und „den anderen“ wird schon nicht mehr so rigoros gezogen wie noch auf seinen frühen Alben. Er fletscht die Zähne in Richtung der Hipster, die von sich glauben, ein gültigeres Wertesystem zu besitzen, nur weil sie die richtigen Boots tragen. Für die einen waren die Sixties eine befreiende Revolution, aber es gab auch andere, die im Greenwich Village die Guillotine installierten – nicht etwa für die politischen Gegner, sondern für die Pharisäer in den eigenen Reihen. Und Bob Dylan freundete sich mit dieser Idee zunehmend an, auch wenn er mit seinen wüsten Korkenzieher-Haaren (die Jimi Hendrix kopieren sollte) optisch noch die angesagte Hipness symbolisierte. Die Sturzflut aus Worten, Bildern und heiligem Zorn macht „Rolling Stone“ zu einer Vorform musikalischer Ausdrucksformen, die sich erst zehn oder 20 Jahren später manifestieren sollten – wie Punk, Grunge oder HipHop. Es muss schwer gewesen sein, sich damals in Dylans Nähe aufzuhalten: Sein sezierender Blick nahm alles und jeden aufs Korn …
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Aber die eigentliche Boshaftigkeit steckt in diesem abgrundtiefen Humor. „If you ain’t got nothing, you got nothing to lose“ – der perfekte Slogan für das imaginäre T-Shirt. Die Zeile, die mir am besten gefällt, ist aber: „You never turned around to see the frowns on the jugglers and the clowns/ When they all did tricks for you/ You never understood that it ain’t no good/ You shouldn’t let other people get your kicks for you.“
Die Instrumentalarbeit auf diesem Track – von Leuten wie Gitarrist Mike Bloomfield und Keyboarder Al Kooper – ist so plastisch und physisch greifbar, als würde man beobachten, wie gerade Farbe auf eine Leinwand gepinselt wird. Wie so oft, wussten die Musiker im Studio nicht, um was es sich beim nächsten Song eigentlich handeln würde. Es ist wie eine erste Berührung: Sie lernen den Song kennen – und man kann die Freunde des Entdeckens mit Händen greifen.
Wenn der Wunsch nach Kommunikation mit dem nicht minder starken Antrieb kollidiert, dabei keine Kompromisse einzugehen – dann wird Rock’n’Roll geboren. Und genau das ist es, was Dylan mit „Rolling Stone“ glückte. Ich bin nicht sonderlich daran interessiert, wer in dem Song angesprochen wird – auch wenn ich diverse Leute traf, die von sich behaupteten, sie seien gemeint gewesen (obwohl einige 1965 nicht mal geboren waren). Die eigentliche Faszination geht von der Tatsache aus, dass ein derart radikaler Song im Radio gespielt werden konnte. Die Welt war plötzlich nicht mehr dieselbe – weil es jemanden gab, der eine unerwiderte Liebe zum Anlass nahm, eine derart giftige Tirade in die Welt zu setzen.
Ich mag grundsätzlich Songs, die unser Leben auf den Kopf stellen. Dies sind die Gründe, aus denen ich in einer Band spiele: David Bowies „Heroes“, Arcade Fires „Rebellion (Lies)“, Joy Divisions „Love Will Tear Us Apart“, Marvin Gayes „Sexual Healing“, Public Enemys „Fight The Power“. Aber an der Spitze dieses missratenen Stammbaums sitzt unser feuerspuckender König selbst, der Mann, der mit Schönheit und Wahrheit jongliert wie kein anderer, unser eigener Willy Shakespeare. Er ist der Grund, warum alle nachfolgenden Songschreiber ihm nicht mal das Wasser reichen können – und warum dieser niedere irische Barde stolz darauf wäre, auch nur sein Gepäck tragen zu dürfen. Heute und bis in die Ewigkeit.
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