Die 100 besten Sänger aller Zeiten: Platz 50 bis 11
Die 100 größten Sänger aller Zeiten: Platz 50 bis 11. Mit Wilson Pickett, Thom Yorke, Ronnie Spector und Dolly Parton. Jury und Texte: unter anderem Bono, Robert Plant und Van Morrison. Vorwort von Jonathan Lethem.
Rolling Stone hat entschieden: Dies sind die 100 größten Sänger aller Zeiten. Platz 50 bis 11.
Das Wahlverfahren: Gewählt haben etwa 200 von der US-Redaktion berufene Musiker, Kritiker und Experten. Von der deutschen Redaktion wurden einige Favoriten ergänzt.
Die Jurytexte stammen unter anderem von Mary J. Blige, Billy Joel, Robert Plant, Van Morrison, Jackson Browne, Alicia Keys, Bono, Lenny Kravitz und Iggy Pop.
Unter anderem in der Jury:
Alice Cooper, Chris Cornell, David Crosby, Cameron Crowe, Clive Davis, Steve Earle, Melissa Etheridge, Mick Fleetwood, Liam Gallagher, Art Garfunkel, Beth Gibbons, Merle Haggard, Albert Hammond Jr., James Hetfield, Robert Hilburn, Jimmy Iovine, Chris Isaak, Yusuf Islam, Jim James, Billy Joel, Norah Jones, Rickie Lee Jones, Alicia Keys, B.B. King, Carole King, Lenny Kravitz, Jon Landau, Jerry Leiber, Kurt Loder, Courtney Love, Mike Love, Loretta Lynn, Shelby Lynne, Ray Manzarek, Chris Martin, Paul McGuinness, John Mellencamp, George Michael, Mike Mills, Sinead O’Connor, Yoko Ono, Ozzy Osbourne, Iggy Pop, Keith Richards, Robbie Robertson, Chris Robinson, Mark Ronson, Patti Smith, Bruce Springsteen, Ringo Starr, Seymour Stein, Rod Stewart, Justin Timberlake, Steven Van Zandt, Roger Waters, Scott Weiland, Paul Westerberg, Ann Wilson, Brian Wilson, Nancy Wilson.
Der US-Schriftsteller Jonathan Lethem beantwortet für uns die Frage:
Was macht einen begnadeten Sänger aus?
Jede Stimme besitzt eine Persönlichkeit, ähnlich wie jeder menschliche Körper einen eigenen Geruch hat oder eigene Formen. Tief im Bauch zum Leben erweckt, von der Kehle in Form gepresst, durch den Blasebalg der Lungen in Fahrt versetzt, mittels Zunge und Lippen in endgültige Gestalt gebracht, ist Gesang immer eine Art hörbarer Kuss, ein spontanes Geständnis, ein Rülpser der Seele, der sich einfach nicht zurückhalten lässt auf dem Weg durchs irdische Dasein. Wie hoffnungslos ehrlich! Wie beängstigend!
Die Fähigkeit, halbwegs tonrein zu singen, ist übrigens – entgegen landläufiger Meinung – kein Hindernis, wenn man Rocksänger werden will, höchstens ein klitzekleiner Nachteil. Umgekehrt garantieren die vokalen Defizite eines Lou Reed nicht jedes Mal ein „Pale Blue Eyes“, ebenso wenig wie aus dem tapsigen Tanzbär-Gebrumm eines Tom Waits automatisch ein „Downtown Train“ entsteht. Trotzdem hat sich der von Galionsfiguren wie Bob Dylan, Jim Morrison und Jonathan Richman geprägte Antigesang als erstaunlich langlebig und stilbildend erwiesen.
Für mich sind Bob Dylan und Patti Smith, um nur zwei zu nennen, nach jedem Maßstab, der in meinen Augen je relevant sein könnte, grandiose Sänger – Ausdruck, Überraschung, Gefühl, Struktur, Humor, Horizont. Diese zwei, eine Handvoll weiterer: Ihre Seelenrülpser sind für mich die Seelenrülpser der Götter. Die Stimme des Sängers, ihre Schönheit, berührt uns an einem Ort, der so persönlich ist wie der Ort, an dem sie entsteht. Seltsam ist nicht nur, zu welch ekstatischer Unterwerfung uns Sänger verführen können, sondern auch, welche Ernüchterung mitunter folgt, sobald wir unserer Sinne wieder mächtig sind – als hätten sie uns mit Tricks dazu gebracht, sie zu lieben, an unseren Schaltungen herumgefummelt und eine Schwachstelle entdeckt, die wir längst für zugelötet hielten. Wer sich in einen Sänger verliebt, wird wieder zum Teenager, jedes Mal.
Sänger sind Schwindler. Hin und wieder fragen wir uns, ob man sie nicht doch eher als Schauspieler betrachten sollte, und beschließen dann, die „echten“ R.E.M. seien Buck, Berry und Mills, nicht dieser spinnerte Frontmann Stipe, oder die „echten“ Rolling Stones nur Richards-Wood-Watts-Wyman statt des nervenden Geldsacks Jagger. Doch aufgepasst – weiter in diese Richtung gedacht, und man beginnt zu spekulieren, wie die Doors ohne „Mr. Mojo Risin’“ klingen würden oder ob jemand Dylans knorrige Silben besser rüberbringen könnte als Dylan selbst. Und gegen beides gibt es knallharte Beweise. Tatsächlich sind Bands wie die Stones oder R.E.M. oft gerade deshalb so einmalig und imponierend, weil die Instrumentalisten es schaffen, den perfekten Rahmen zu zimmern für die nicht hundertprozentig musikalische Herangehensweise ihres Vokalisten an einen Song: das Pathos oder das Genuschel, die gesprochenen Zwischenbemerkungen oder die überzähligen Silben, die Rhythmus und Taktmaß as we know it stören, die-
se Filmstar-Allüren, für die wir Sänger bewundern und die wir ihnen gleichzeitig übelnehmen.
Das Lustige an dieser Poser-Phobie ist, dass auch Sänger darunter leiden – so sehr, dass sich manche von ihnen auf der Bühne eine vorher sorgsam ausgestöpselte Gitarre umhängen. Und es erklärt die „rockige“ Vorliebe für Sänger, die ihre Songs selbst schreiben. Wenn eine Gesangsdarbietung, die unsere Herzen rührt, an einen Drahtseilakt erinnert, atemberaubend und grotesk zugleich, dann können wir uns damit beruhigen, dass Neil Young oder Gillian Welch oder Joe Strummer zumindest die Fundamente für die Masten selbst gegraben und den Draht eigenhändig gespannt haben. Wohingegen Sänger, die auf vorhandenes oder für sie maßgeschneidertes Material angewiesen sind – wie Janis Joplin, Rod Stewart und Whitney Houston – vielleicht nur Vögel sind, die auf anderer Leute Draht landen. Wenn wir Sängern zuhören, die wie prachtvolle Tiere durch eine Karaoke-Maschine streifen, mag uns die Frage einen gewissen Kick verschaffen, ob sie in den Texten wohl den Sinn entdecken, den der Verfasser beabsichtigt hatte, oder überhaupt irgendeinen Sinn.
Was einen Hinweis darauf gibt, was großartigen Gesang in der Rock-und-Soul-Ära ausmacht: dass in der Distanz zwischen Sänger und Lied eine unterschwellige Spannung existiert. Eine Brücke wird gebaut, die eine große Leere überspannt, und wir wissen nie, ob der Sänger in der Lage sein wird, sie zu überqueren. Die Kluft mag zwischen der Beschaffenheit der Stimme und der eigentlichen Bedeutung der Worte bestehen oder zwischen Sänger und Band, musikalischem Genre, Produktionsstil oder den Erwartungen des Publikums. Auf jeden Fall liegt dem Gesangsstil, der das Pop-Zeitalter geprägt hat, ein wunderbares Gefühl von Unbehagen zugrunde. Das einfachste Beispiel entstammt dem Moment seiner Entstehung, also Elvis Presley: Die ersten Zuhörer dachten, der weiße Typ wäre ein schwarzer Typ. Man übertreibt nur unwesentlich, wenn man feststellt, dass in dem Moment, als Ed Sullivans Fernsehshow diese Disjunktion in jedermanns Wohnzimmer beförderte, die amerikanische Kultur fasziniert, aber auch ein wenig verwirrt war – ein Gefühl, das wir bis heute nicht so recht überwunden haben. Dass seither nur wenige Gesangsstile dasselbe revolutionäre Potenzial besaßen, liegt nicht an mangelndem Bemühen. Als die Doors probierten, wie Rock’n’Roll mit einer Fassade aus mürrischem Pathos klingt oder die Ramones oder Modern Lovers den Soundtrack zu infantilen Zuckungen lieferten, hätte der Hörer im ersten Augenblick denken können: Soll das ein Witz sein? Doch der Witz ist in Klang verwandelte Veränderung – etwas ändert sich an der Art, wie ein Song auf uns wirkt. In dem Café, in dem ich dies schreibe, kam gerade Morrissey aus den Lautsprechern, und er kam ganz eindeutig durch die Türen, die Jim Morrison geöffnet hat.
Letztlich ist die Rolle des Gesangs in der populären Musik, nach Elvis, nach Sam Cooke, nach Ray Charles, dieselbe wie die des Instrumentalsolisten im Jazz. Das heißt, wenn er nicht wenigstens ein bisschen gegen die Begrenzungen seiner Form anrennt, passiert eigentlich gar nichts. Ganz gleich ob die gesungenen Zeilen vom Sänger selbst geschrieben oder in einem Labor Marke Brill Building oder Motown zusammengebraut wurden oder ob sie aus einem anderen Genre stammen, aus Blues oder Bluegrass oder Musical: Ein Rock-, Soul- oder Pop-Sänger muss damit etwas Unaussprechliches tun, das den gegebenen Kontext zu sprengen versucht. Etta James, Ray Davies, Mama Cass, Mark Kozelek, Levi Stubbs Jr. – sie alle mögen sich nicht wie Protestsänger anhören, aber sie singen immer gegen etwas an, ob in sich selbst, der Band in ihrem Rücken, der Welt, in der sie leben, dem Material, das man ihnen zu singen gegeben hat, oder allem auf einmal.
Wir beurteilen Gesang vor der Rock-Ära danach, wie perfekt die Texte serviert werden. Das ist der Standard, für den beispielhaft Frank Sinatra steht. Seit 1956 beurteilen wir Gesang danach, ob der Sänger in einem Song etwas entdeckt, das dieser selbst nie ausdrücken konnte. Das erklärt, warum Stimmen wie Joan Baez oder Emmylou Harris oder Billy Joel nie wirklich im zeitgenössischen Idiom zu singen scheinen, egal wie sehr sie Material oder Begleitung gegen den Strich bürsten, und warum Elvis – ebenso wie Dylan – immer Rock ist, selbst wenn er „Blue Moon“ singt. Es liefert auch die Erklärung, warum so virtuose Kehlen wie Aretha Franklin oder, jawohl, Karen Carpenter in der neuen Tradition funktionieren. Kein Text, von wem auch immer geschrieben, hätte je ausdrücken können, was ihre Stimmen ausdrücken mussten, und sie warteten nicht darauf, dass ein Solo oder ein paar säuselnde Streicher es für sie transportierten. Sie packten es in ihre Stimme, ihre Stimme schickte es in den Äther, und von dort wanderte es in unsere Körper.
Wie können wir ihnen jemals genug danken?
Dieser Text entstammt der Ausgabe 2/2009.
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Eine Leseprobe: