Die 100 besten Musiker aller Zeiten: Van Morrison – Essay von Peter Wolf

Einmal mehr bewunderte ich seine mysteriöse Gabe, alles Chaos zu transzendieren, alle Verzweiflung, die ihn so leicht hätte lähmen können

1968 war das The Boston Tea Party die erste Adresse für Rockbands. Meine Band, die Hallucinations, probte in dem Club, wann immer er zur Verfügung stand. Wir hatten alle das Kunststudium abgebrochen, schworen auf R&B und Chicago-Blues und spielten eine sehr ruppige, ungehobelte Musik. Einmal waren wir gerade beim Proben, bereiteten uns auf einen Auftritt im Vorprogramm des großen Howlin’ Wolf vor, als ich einen Fremden in der Tür stehen sah. Ich hatte keine Ahnung, wer das war und was er wollte, also ging ich rüber und sprach ihn an. In breitem irischem Akzent fragte er, wo man denn in Boston spielen könne.

Als mir aufging, wer da in der Tür stand, war ich erstens ganz aufgeregt und zweitens perplex. Aufgeregt, weil ich Vans Musik von seinem Chartdebüt mit der Band Them kannte und bewunderte. Perplex, weil der Junge so verloren wirkte. Er hatte es trotz seines jüngsten Top-40-Erfolgs mit „Brown Eyed Girl“ nicht leicht, sich als Solokünstler zu etablieren, aber das war ja kein Grund, so schlecht drauf zu sein.

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Nachdem wir uns eine Weile unterhalten hatten, stellten wir fest, dass wir eine Leidenschaft für dieselbe Art von Musik teilten. Van taute allmählich auf, und wir schmiedeten Pläne, wann wir uns wieder treffen würden. Wir sahen uns dann regelmäßig bei dem Radiosender, bei dem ich damals eine All-Night-Show moderierte. Wir hingen viel zusammen ab, zechten die Nächte durch, trieben jede Menge Unfug und gerieten manchmal in mehr Schwierigkeiten, als uns lieb war.

Gene Chandlers Liveversion von „Rainbow ’65“ legte er so oft auf, dass ich eine neue Nadel für meinen Plattenspieler kaufen musste

Van lebte in einer winzigen Wohnung im Erdgeschoss eines alten Hauses in der Green Street in Cambridge. Er, seine Frau und ihr kleiner Sohn. Sie waren völlig pleite. Die Wohnung wirkte trist, kahl, sie hatten nur eine Matratze auf dem Boden, einen Kühlschrank, eine akustische Gitarre und ein Tonbandgerät. Er lebte im Exil, hatte eine Familie zu ernähren, kein Geld, keine Band, keinen Plattenvertrag und keine konkreten Aussichten auf einen legalen Ausweg aus der Misere. Warum er überhaupt nach Boston gekommen war, blieb mir ein Rätsel.

Immer wenn Van aus beruflichen Gründen telefonieren musste, lief er einige Blocks weit zu mir. Ich glaube, für ihn war das immer auch eine kleine Flucht aus seinem problembeladenen Leben. Stundenlang stöberte er in meiner Plattensammlung. Immer wieder lauschten wir „dem Gospel“, wie er es nannte, von Jackie Wilson, Hank Williams, Louis Jordan, Billy Stewart, Elvis und John Lee Hooker. „Das sind die wahren Könner“, sagte Van. Gene Chandlers Liveversion von „Rainbow ’65“ legte er so oft auf, dass ich eine neue Nadel für meinen Plattenspieler kaufen musste.

Wir schauten uns alle möglichen Clubs an, Abend für Abend, aber kaum jemand kannte Van. Manchmal kam er zu den Gigs meiner Band. Einmal, als wir das Intro zu seinem Song „Gloria“ spielten, rief ich ihn auf die Bühne. Er zierte sich, aber dann kam er und legte einen brillanten Auftritt hin. Leider gefiel es dem Publikum nicht, dass da so ein „unbekannter“ Sänger einen vertrauten Song einfach abwandelte.

Nur eine Handvoll Leute hörten zu, aber nach dem letzten Song war wohl allen klar, dass sie gerade etwas ganz Besonderes miterlebt hatten

Schließlich bekam Van eine akustische Zweimannband zusammen und organisierte sich einen Termin in einem Jazzclub, den ich nur als unterirdisch bezeichnen kann. Er lag drei Stockwerke unter einem Billardsalon, war feucht und dunkel. Der Name des Ladens passte: The Catacombs. Ägyptische Muster zierten die gelben, von Rauchflecken verschmutzten Wände. Ich lieh mir eine Bandmaschine, um das Konzert aufzunehmen. Was er dann an diesem Abend spielte, war der Songzyklus, aus dem das bahnbrechende Album „Astral Weeks“ werden sollte. Nur eine Handvoll Leute hörten zu, aber nach dem letzten Song war wohl allen klar, dass sie gerade etwas ganz Besonderes miterlebt hatten.

Letzten Sommer stand ich am Bühnenrand und sah Van vor mehreren Tausend Fans spielen. Mit derselben urwüchsigen Kraft und Leidenschaft, die er vor über 30 Jahren in den lang vergessenen Catacombs demonstriert hatte. Einmal mehr bewunderte ich seine mysteriöse Gabe, alles Chaos zu transzendieren, alle Verzweiflung, die ihn so leicht hätte lähmen können. Er wurde ein Meister seiner Kunst und schuf ein Werk, das reflektiert, nie imitiert. Erhebende Songs. Es ist Vans Gospel: „Turn it up, a little bit higher/ You know it’s got soul“ und „It’s too late to stop now!“

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