Die 100 besten Alben der 90er im Countdown: Plätze 66-34
ROLLING STONE hat gewählt: Die 100 besten Alben der 90er-Jahre.
Die 100 besten Alben der Neunziger
Als die ersten Töne des berühmtesten Gitarrenriffs der 90er-Jahre in den Raum krachen, hält die tanzende Menge für den Bruchteil einer Sekunde inne, bevor Hunderte Fäuste in die Luft schnellen, Jubelschreie die Musik fast übertönen, Haare fliegen. Bis zu diesem Moment hatte der DJ amtliche House-Music gespielt und dann plötzlich, nach einem winzigen dramatischen Augenblick der Stille, den Track, der für uns heute die 90er-Jahre defi niert wie kein Zweiter, in seinen technoiden House-Flow sägen lassen: „Here we are now/ Entertain us.“
Der Moment 1992 im Club RoXY in Amsterdam erzählt die Geschichte des Jahrzehnts. Techno und was man bald darauf etwas hilfl os Alternative Rock taufte, defi nierten seinen Sound. Zwei Jugendkulturen, die sich wenig zu sagen hatten, prägten seine Semantik, seine Zeichen und Codes.
„Smells Like Teen Spirit“! Dabei sollte Rockmusik längst tot sein. Eine modernde Leiche. Der Roland TB-303 hatte die Gitarre als Instrument des popkulturellen Fortschritts abgelöst. In England ertrank man 1990 in den denkbar weitesten Jeans, ergab sich Ecstasy-Irrsinn und funky Grooves, und nicht nur die fröhlich mittanzenden Pet Shop Boys konstatierten, „that rock was overrated“.
Joints statt Pillen
Sogar Stones-Verehrer Bobby Gillespie ließ sich für seine Band Primal Scream einen Beat basteln, und bei der Loveparade sollten zum Ende des Jahrzehnts anderthalb Millionen Menschen durch Berlin trotten. Techno (und House) war aus den Kellern von Detroit und Frankfurt im Mainstream angekommen. Im Underground entstanden neue Mikrokosmen. DJ Pierre hatte Mitte der Achtziger R&B dekodiert und Acid House erfunden, das er Anfang der Neunziger in Samt und Soul packte. Massive Attack nahmen das Tempo raus, sie rauchten Joints, statt Pillen zu schlucken. Drum’n’Bass beschleunigte das Tempo auf bis dahin unvorstellbare Umdrehungszahlen und radikalisierte die Soundästhetik.
Das Modell Band hatte ausgedient, das Modell Album ebenso, und das Modell Rockstar erst recht. Kurt Cobain“>Kurt Cobain wollte auch nie einer sein, er war ein dysfunktionaler Antiheld. Doch mit Nirvana kehrte die vitale Leiche Rock, kaum erkaltet, zurück. Eine zweite Punk-Revolution im Flanellhemd. Dabei hatte Techno doch eben erst die Popkultur, wie wir sie kannten, weggefegt. Natürlich führte der Weg von Nirvana über Pearl Jam und Nu Metal in den Mainstream. Und gleichzeitig bildeten sich auch im Rockkosmos Mikroszenen, ein Patchwork interessanter Minderheiten. Nischenbands wie Wilco, Pavement und die Flaming Lips wurden als „Indie“ oder „Alternative“ apostrophiert und schienen zugleich zu riesigen Mainstream-Acts werden zu können (wurden sie dann natürlich nicht, aber damals schien es möglich).
Wo waren die Stars der Achtziger?
Intellektuelle Charismatiker wie PJ Harvey oder Perry Farrell, Björk oder Jochen Distelmeyer leuchteten wie echte Stars. Ein Jahrzehnt der Möglichkeiten und Irritationen, der Subgenres und Indielabels. Auch HipHop erlebte mit A Tribe Called Quest am einen und Dr. Dre am anderen Ende der Skala und der Küsten eine neue Mikrokosmen-Blütephase bei gleichzeitiger Popularisierung. Die großen Stars der Achtziger waren unterdessen abgetaucht. Michael Jackson, Prince, Bruce Springsteen machten schlechte oder gar keine Platten. Die Neunziger mussten ohne sie auskommen. Unter den Alten griff ein weiteres Mal Neil Young am unpeinlichsten nach dem Zeitgeist und tat sich mit Pearl Jam zusammen. Bob Dylan hatte endlich mal wieder ein gutes Album. Madonna auch. Clinton, Mandela, Jelzin hießen die Präsidenten, man fütterte sein Tamagotchi, trug Arschgeweih oder Trainingsjacke, und sogar Kate Moss drehte sich die Strähnen zu einem Haarigel. Alle nahmen Koks. Das Faxgerät verlor rasend schnell an Bedeutung. Am Horizont leuchtete das digitale Zeitalter.
In Deutschland regierten die Ärzte und die Hosen, aber zwei Bands aus Hamburg: erst Blumfeld und später Tocotronic, fanden eine neue Sprache für das Jahrzehnt. In Großbritannien setzte man auf Hausgemachtes. Im August 1995 rief der „NME“ auf seiner Titelseite die „British Heavyweight Championship: Blur vs Oasis“ aus. Das klang ein bisschen, als träten die Kinks gegen die Small Faces an. Amerikanischer Rock triumphierte weltweit, natürlich auch in Großbritannien, aber Britpop floppte in den USA. Blur galten als der distinguiertere Pop für die Schlauen, Oasis als die Raudaubrüder für die Bierseligen und Bedröhnten. Beide machten tolle Platten (auch schlechtere), Blur häufiger, Oasis aber „… Morning Glory?“. Pulp blieben die coolen Dritten. Am Ende spielten die Gallagher-Brüder beim Kneb Worth Festival vor 250.000 Menschen und waren die größte britische Band der 90er.
In Wirklichkeit war das natürlich Radiohead. Nicht nur weil sie im Gegensatz zu Oasis auch in den USA erfolgreich sind, sondern weil für Radiohead die Neunziger nie zu Ende gingen. In Thom Yorkes Wimmern, in seiner elektronikinformierten Rockmusik leben sie fort (manche Songs des neuen Albums stammen sogar tatsächlich aus den Neunzigern), sie leben in der Band fort, wie Bill Clintons 90er-Jahre in Hillary Clinton weiterleben. Thom Yorke versucht sich immer mal als DJ, er kann das nicht besonders, aber die Hartnäckigkeit, mit der er von Rock auf elektronische Musik weist, ist bemerkenswert. Und führt zurück nach Amsterdam, zu dem historischen und natürlich solitären Moment, in dem sich Nirvana und DJ Pierre im Moshpit eines coolen Clubs begegneten. (Die erwähnten Platten und Künstler kommen alle in unserer Liste der 100 besten Alben vor. Subjektiv und unvollständig ist sie dennoch. Wie immer.)
Sebastian Zabel