Die 10 besten TV-Serien im Herbst und Winter 2016/2017
Einschalten: Dies sind die Top-Serien des Herbstes und Winters
10. Luke Cage
In der neuen Comicverfilmung wird der Hoodieträger aus Harlem, der als Nebenfigur bei „Jessica Jones“ anfing, zum unverwundbaren Übergutmenschen mit Kung-Fu-Tricks und bösem Blick, der nebenbei auch noch das weiße Marvel-Universum aufrollt.
Bei den Dreharbeiten nannten wir es immer ,Smack Fu‘ “, sagt Mike Colter, als er auf seine extremen Kung-Fu-Attacken zu sprechen kommt. Der Mann, der vor der Kamera den unkaputtbaren Superhelden mimt, kann sich einen Lachanfall nicht verkneifen – und fällt damit natürlich aus der Rolle: Den Großteil der 13 Folgen absolviert der Star der Netflix-Serie „Luke Cage“ mit todernster Miene. Wenn man das Schicksal der ganzen Erde auf seinen Schultern trägt, ist einem eben nicht mehr zum Lachen zumute.
Während er seine tägliche Routine als Übergutmensch beschreibt, sucht Colter in einer Dose mit Zuckerwürfeln nach dem passenden Stück – was den Gegensatz zu seiner brachialen Filmrolle nur noch grotesker macht. „Wir wollten es absichtlich wüst und chaotisch halten“, sagt der 40-jährige Schauspieler. „Wie eine Schlägerei auf der Straße eben, nur ein bisschen heftiger. Okay, erheblich heftiger. Luke will niemanden umbringen, macht aber auch kein Geheimnis daraus, dass er sein Gegenüber konsequent außer Gefecht setzen will. Also klatscht er ihn eben in hohem Bogen auf den Boden.“
Mäßigung!
Er findet in der Dose endlich das, was er gesucht hat: ein paar Bröckchen braunen Zucker, die sich unter den weißen Würfeln versteckt haben. Er wirft sie in seinen Cappuccino, rührt um und bemüht sich wieder um einen sachlichen Tonfall. „Trotzdem, der zugrunde liegende Tenor ist letztlich Mäßigung und Selbstkontrolle. Denn wenn Luke wollte, könnte er ihm natürlich den Kopf abreißen.“
„Mäßigung“ ist nicht unbedingt das Attribut, das man mit einem Superhelden in Verbindung bringt, selbst wenn man bedenkt, dass Netflix dafür bekannt ist, seine Marvel-Adaptionen mit nüchternem Understatement zu inszenieren – man denke nur an den doch sehr freudlosen „Daredevil“. Wenn man allerdings erst einmal ein Binge-Wochenende mit dem schwarzen Superhelden aus Harlem verbracht hat – von Mastermind Cheo Coker höchst unterhaltsam in Szene gesetzt –, weiß man ohnehin, dass „Luke Cage“ nicht der durchschnittliche Comicstoff ist. Ursprünglich als Nebenfigur in der zweiten „Jessica Jones“-Staffel eingeführt, war Colters charismatischer Held nicht nur Jessicas moralische Stütze, sondern auch ihr leidenschaftlicher Lover.
Inzwischen wieder solo und zur Hauptfigur befördert, zeigt Luke Cage vor allem eines: Die afroamerikanische Herkunft, die in Comicverfilmungen so gern weißgewaschen wird, ist diesmal ein grundlegender Aspekt. In keiner anderen Serie würde man über die literarischen Meriten von Chester Himes und Walter Mosley diskutieren oder die Folgen nach Gang-Starr-Songtiteln benennen. In keiner anderen Serie würde der „swearing jar“ aus dem schwarzen Barbershop überhaupt eine Erwähnung finden. (Für jedes Mal Fluchen muss der Mann mit dem losen Mundwerk eine Geldstrafe zahlen und den Schein in den entsprechenden Behälter stecken – Red.) Fans von „Power Man“, dem „Luke Cage“-Vorläufer aus den 70er-Jahren, werden jedenfalls glauben, dass Weihnachten vorgezogen wurde.
„Wir kamen immer wieder auf den Begriff ,inclusively Black‘ zu sprechen“, erinnert sich Cheo Coker. „Vom Showrunner bis zur Besetzung: Letztlich erinnert dich jedes Detail daran, dass dies eine schwarze Serie ist. Was aber nicht bedeutet, dass man sie nur verstehen und genießen kann, wenn man selbst Teil dieser schwarzen Kultur ist – im Gegenteil. Aber unabhängig davon, ob man zu einer positiven oder einer negativen Einschätzung gelangt: Wohlfeile Plattitüden über ,the Black experience‘ sollte man sich von dieser Serie nicht erwarten.“
Cage ist nicht käuflich
Der 43-jährige Coker, ein ehemaliger Mitarbeiter des ROLLING STONE, HipHop-Journalist, TV-Veteran und Comicnerd, ging in das Meeting mit Marvel und umriss seinen Pitch mit einer popkulturellen Gleichung: „ ,Belly‘ (ein schwarzer, stylischer Gangsterfilm mit HipHop-Größen wie Nas und DMX – Red.) meets ,City Of Gods‘, wobei das Drehbuch allerdings von den Schreibern von ,The Wire‘ stammt.“ Er bekam den Zuschlag, musste aber mit einer Vorgabe leben, an der er zunächst zu kauen hatte: Anders als in den frühen Comics, so die Marvel-Leute, dürfe der neue Luke Cage auf keinen Fall käuflich sein.
„Der Fan in mir musste ein bisschen schlucken“, gibt Coker zu. „Als ich in meiner Jugend die Luke-Cage-Storys las, war gerade das eine seiner hervorstechenden Eigenschaften: Der gute Mann lässt sich bezahlen, um einen Superhelden zu spielen. Wie kriegen wir jetzt die Kurve und machen aus dem bezahlten Söldner einen zaudernden Kreuzritter, ohne dass er wie ein Weichei rüberkommt? Doch dann sah ich den Antoine-Fuqua-Film ,The Equalizer‘ mit Denzel Washington und dachte mir: Ja, das sollte funktionieren.“
Die zweite Frage war, wie man ihn ins moderne Harlem transportiert. Wie würde ein Mann, der von keiner Kugel getroffen werden kann, in diese Gegend passen? Wie reagiert die Polizei, wie verhalten sich die Gangster ihm gegenüber? Coker und Colter entwickelten Ideen, wie das Leben von Luke Cage außerhalb des „Jessica Jones“-Universums aussehen könnte. Zunächst hält Luke seine übermenschlichen Kräfte geheim. Er arbeitet für den kriminellen Clubbesitzer Cornell „Cottonmouth“ Stokes (Mahershala Ali, der in „House Of Cards“ den aalglatten Remy Denton spielt) als Tellerwäscher und putzt auch den Fußboden des örtlichen Friseursalons. Die Umstände, Revierkämpfe und ein korrupter Politiker führen schließlich dazu, dass Cage sein wahres Gesicht zeigen muss und die einfachen Leute der Gegend unter seine Fittiche nimmt. Maschinenpistolenfeuer und besagte „Smack Fu“-Szenen sind die Konsequenz daraus.
„Ich sah in der Serie einen modernen HipHop-Western“, sagt Coker. „Der Club ist der Saloon, Cottonmouth die Gene-Hackman-Figur aus ,Unforgiven‘ – und Cage der ,Man With No Name‘, der auf der Flucht vor seiner Vergangenheit ist. Die Parallelen sind wirklich frappierend.“ Er erwähnt auch, dass die Blaxploitation-Filme der frühen Siebziger eine nicht unbeträchtliche Rolle spielen, und nennt vor allem „Black Caesar“, „Coffy“ und „Shaft“. „Die Blaxploitation-Filme entstanden aus dem Wunsch heraus, einer schwarzen Figur die gleichen Attribute zu geben wie einem weißen Clint Eastwood oder Lee Marvin.“
Er trägt einen modischen Hoodie
Ein weiterer Erklärungsversuch, den Coker bei der Comic-Con in San Diego machte, sollte in den USA für einiges Aufsehen sorgen: Er stellte die Frage in den Raum, ob Amerika für einen „bulletproof Black man“ bereit sei. Coker wie Colter war wohl bewusst, dass es ein gewagtes Unterfangen war, die Hautfarbe in den Mittelpunkt eines Marvel-Comics zu stellen. Sie wussten auch, dass es ein politisches Signal zu einer prekären Zeit war: In den letzten Monaten tauchten immer mehr Smartphone-Videos auf, in denen Afroamerikaner von US-Polizisten erschossen werden. Selbst der modische Hoodie, den Cage in der TV-Serie trägt, ist ein Wink mit dem Zaunpfahl.
„Es ist sicher kein Zufall“, sagt Coker, als ich ihn auf das Detail anspreche. „Man will damit ausdrücken: Ein Schwarzer in einem Hoodie ist nicht – wie es in den Medien gern dargestellt wird – automatisch ein Krimineller, sondern kann auch ein Held sein. Aber ich muss zugeben, dass ich wohl etwas naiv war, was die Wirkung bestimmter Symbole angeht. Erst als der Trailer veröffentlicht wurde, spürte ich an den Reaktionen, dass ich in ein Wespennest gestochen hatte. Die Szene, in der Mike durch einen Gang geht, während die Kugeln von ihm abprallen, war in meinen Augen eine kleine Verneigung vor der ähnlichen Sequenz im ,Terminator‘. Doch alle, die unsere Version sahen, dachten offensichtlich an einen kugelsicheren Trayvon Martin. (Der 17-jährige Schwarze wurde 2012 von einem Mitglied einer privaten Bürgerwehr grundlos erschossen. Der Vorfall sorgte in den USA für anhaltendes Aufsehen – Red.) Erst als wir die Produktion abgeschlossen hatten, wurde uns klar, wie viel Sprengstoff sich hinter diesen Bildern verbarg. Vor allem angesichts der Tatsache, dass seitdem alles noch viel schlimmer geworden ist.“
„Wir hatten zu Beginn der Dreharbeiten keine politische Agenda“, sagt auch Colter. „Als wir diese Folgen aufnahmen, hatte die Black-Lives-Matter-Bewegung noch lange nicht die heutige Dringlichkeit erreicht. Was mich angeht, so wollte ich keine militante Perspektive in unserer Serie. Nichts gegen militantes Engagement, aber in diesem Rahmen hätte es einfach nicht gepasst. Was aber nichts daran ändert, dass wir die gegenwärtigen Phänomene reflektieren wollten. Man kann keine TV-Serie mit einem schwarzen Superhelden machen, wenn man nicht auf die realen Umstände eingeht, in denen die Menschen heute leben.“
David Fear