Dexys Midnight Runners – Die Rückkehr der keltischen Seelenbrüder
Sie waren eine der größten Popbands der Achtziger - aber nach drei Alben verschwanden Dexys Midnight Runners im Nirgendwo. 27 Jahre später hat Kevin Rowland seine rebellischen Soul-Genossen noch einmal zusammengerufen. Die Geschichte eines furiosen Comebacks
Dies ist die Geschichte einer Auferstehung. Es ist die Geschichte eines Mannes, der so lange unten war, dass er gar nicht mehr wusste, wie sich das Oben anfühlt.
Die Auferstehung findet an einem milden Frühsommerabend statt, im bis zum letzten Platz ausverkauften Shepherd’s Bush Empire, einem mit üppigen Balkonen und Logen bestückten Saal, in dem sich mit Bierbechern und iPhones bewaffnete Männergruppen heiser brüllen. Manche sind in Anzügen und Krawatten direkt aus ihren Londoner Citybüros herbeigeeilt, andere tragen die Frühzeit des Künstlers huldigende Wollmützen und fordern lautstark nach „Geno“, wieder andere nach „Eileen“, einige haben ihre Frauen im Arm. Es ist das letzte und wichtigste Konzert der kurzen Clubtournee, mit der sich Kevin Rowland oben zurückmeldet.
Er ist ein zierlicher Mann in einem zu großen Anzug – vom höchsten Balkon aus gesehen kaum mehr als ein stetig vom linken zum rechten Bühnenrand tänzelnder winziger Gentleman-Derwisch, dessen ausladende Gesten wie geschaffen sind für das viktorianische Ambiente. Dieser Tänzer war eine der prägenden Figuren des britischen Pops der Achtzigerjahre – und ganz bestimmt die wandelbarste, leidenschaftlichste und tragischste. Mit seiner Band Dexys Midnight Runners machte Kevin Rowland damals nur drei Alben – „Searching For The Young Soul Rebels“ (1980), „Too-Rye-Ay“(1982) und „Don‘ Stand Me Down“ (1985) – aber die bleiben in ihrer Vitalität und Dringlichkeit unerreichte Höhepunkte.
Es könnte leicht lächerlich aussehen, wie Rowland heute in seinen übertrieben weiten Hosenbeinen über die Holzdielen stakst, wie der breite Bund da so knapp unterhalb des Bauchnabels sitzt und selbst der elegante Hut zu mächtig für seinen schmächtigen Träger wirkt. Doch das tut es nicht. Der dünne Mann, der nach 27 Jahren seine Dexys Midnight Runners noch einmal reaktiviert, um die hinteren Teile ihres Namens verkürzt und in diesen theatralischen Dreißigerjahre-Look gezwungen hat, bewegt sich souverän und stilsicher durch sein Comeback, durch das wohl erstaunlichste Comeback der jüngeren Popgeschichte.
15 Songs hat die Band bereits gespielt – alle elf Stücke des neuen, zu diesem Zeitpunkt noch unveröffentlichten Albums, drei Songs der beiden ersten Platten – als die Geigerin Lucy Morgan die Melodie anzupft, auf die fast alle hier sehnsüchtig gewartet haben. „Poor old Johnny Ray… “ stimmt Rowland ein, der Rest geht im Freudengeheul des Publikums unter.
„Es macht mir nichts aus, ‚Eileen‘ zu spielen“, wird Rowland später sagen. „Ich denke, wir müssen es tun. Aber wir tun das nicht gegen unseren Willen, sondern so, dass es für alle befriedigend ist. Wir haben den Song neu arrangiert, er ist gut, so wie er jetzt ist.“
Vor allem epischer ist „Come On Eileen“ geworden – gute zehn Minuten und damit mehr als doppelt so lang wie früher – und stimmlich tiefergelegt; die in Würde gealterte Extended Version der einst himmelwärts stürmenden Hymne des Popsommers 1982, als Dexys im Zenit ihres Ruhms standen, als sie mit ihrem sexuell aufgeladenen Bekenntnis zu ewiger Jugend wochenlang die Poleposition der britischen und amerikanischen Charts blockierten. „We are far too young and clever“, das möchte man einfach wieder glauben, heute, Jahre später.
Dass es möglich ist, grenzt an ein Wunder.
Zwei Wochen nach seinem mitreißenden Auftritt balanciert Kevin Rowland eine Porzellantasse durch ein doof-geschmackvolles Hotelzimmer und natürlich schwappt der Tee auf den Unterteller, bevor sich der 58-jährige Künstler sanft fluchend an den Tisch setzt. Er trägt eine Gene-Kelly-Mütze und von tiefen Furchen eingerahmte, ernst herabfallende Mundwinkel. Er ist zufrieden.
Kevin Rowland war der große verlorene Sohn der britischen Popkultur. Sohn irischer Einwanderer auch, ein raubeiniger Anarchist, der 13-mal verhaftet wurde, seinem Plattenlabel die Masterbänder klaute, als er sich übervorteilt fühlte und vielzitierte Songzeilen dichtete wie: „the only way to change things /is to shoot people who arrange things“. Und ein Herzchen. Einer, der sich immer gern von seinen eigenen Gefühlen überwältigen ließ, der seine besten Freunde und Bandmitglieder vergraulte, dessen in wunderbaren Songs dokumentiertes Schluchzen stets große Kunst und authentische Empfindungsäußerung zugleich war. Einer, bei dem man mitlitt, als er ein bloß mittelmäßiges Soloalbum machte wie 1988 „The Wanderer“. Bei dem man mitlitt, wenn er in den schlimmen Neunzigerjahren mit leerem Blick nachts am Tresen des Wag Clubs hing, betrunken oder bedröhnt oder beides. Bei dem man mitlitt, als er dafür verspottet wurde, Frauenunterwäsche zu tragen.
Es war schließlich immer noch Kevin Rowland, der geniale Neurotiker, der in einer stylebeschwippsten Zeit seinen Stil mit jeder neuen Platte veränderte. Und der den heute gern ins Kultische überhöhten Popsommer ’82 mehr als andere geprägt hat. Soft Cell? Kajal, Nietenarmbänder, Electro-Pop. Human League? Seitenscheitel, hautenge Hosen, Electro-Pop. Haircut 100? Norwegerpulli, hochgeschnürte Gitarren, angebarjazzter Gitarrenpop. Orange Juice? Toupierte Haare, hochgeschnürte Gitarren, göttlicher Gitarrenpop. ABC? Glodlamé-Anzüge, Geigenhimmel, köstlichster Mary-Poppins-Pop… (ach ja, später dann Lederjacken und – ähm – so was wie Rock).
Und Dexys? Als sie 1980 in den Nachwehen des Punkrocks die Bühne betraten, sahen sie aus wie eine Mischung aus Scorseses Mafiaschlägern in „Hexenkessel“ und linksradikalen Doc-Martens-Hafenarbeitern und spielten den explosivsten, euphorischsten, geschmackvollsten Bastard aus Northern Soul und Van Morrison, den die Welt bis heute gesehen hat. Ihr Debutalbum begann mit der Ansage: „for god’s sake burn it down“ – und das taten sie dann auch. Eine alles wegpustende Bläsertruppe, eine dynamische Hammod-Orgel und Soulboy Rowlands Over-the-top-Gesang, seine zwischen Sarkasmus und Sentimentalität oszillierenden Texte, sein Jaulen, Vibrieren, Croonen – so etwas hatte es noch nicht gegeben.
Zwei Jahre später trugen die neu formierten Dexys Latzhosen, Lederwesten, Lockenköpfe, und Kevin Rowland posierte mit seiner Muse und Geigerin Helen O’Hara wie einst Bob Dylan mit Suze Rotolo. Dazu gab es den durch ein Streichtrio und dynamisches Folkgehopse aufgedonnerten keltischen Soul, der Dexys für eine Saison in die Weltberühmtheit katapultierte.
Wiederum drei Jahre später waren es Nadelstreifenanzüge, Budapester Schuhe, Seitenscheitel (Rowland trug gelegentlich sogar weiße Socken zu weißem Poloshirt) und genialische, von Sprechpassagen unterbrochene, mitunter etwas unkonturierte und natürlich völlig unkommerzielle, singleformatsprengende Songs. Rowland wandelte nun vollends auf den Spuren seines irischen Übervaters Van Morrison, katholische Inbrunst und eine insgesamt runtergepitchte Stimmung prägen das Werk. Große Musik, sie kam bloß nicht groß an. Rowland landete dann über den Umweg Latin-Lover (aufgeknöpftes Hemd, Siegelring, Schnauzer, schlechte Soloplatte) und Crossdresser (Abendkleid, Damenstrümpfe, Perlenkette, großartige Soloplatte) beim Gene-Kelly-trifft-großen-Gatsby-Look der Jetztzeit.
Wow, oder?
„Je häufiger man seinen Look ändert, desto besser wird man darin“, kommentiert Rowland (Lieblingsschneider: Mark Powell). „Mein neuer Look ist einer, den jemand in meinem Alter gut tragen kann, ohne den Eindruck zu erwecken, er wolle jung aussehen. Ich will mich nicht anziehen wie ein Teenager. Aber auch nicht wie ein Vorortheini. Ich liebe Kleidung und ich suche immer nach besonderer Kleidung.“
Am besondersten war wohl jene zur Jahrtausendwende, als der Künstler in samtenem Kleid und halterlosen Strümpfen nicht nur auf dem Cover seiner seelenvollen Coverversionenplatte „My Beauty“ sondern auch auf der Bühne des Reading Festivals posierte, wo er Whitney Houstons „The Greatest Love Of All“ intonierte und von wildgewordenen Indierockspießern mit Bierbechern bombardiert wurde. Was für eine beschämende Demütigung! Er sei damals ein bisschen meschugge gewesen, sagt der zerknirschte Künstler heute. Aber vielleicht war er einfach bloß tapfer. „Ich wünschte, ich wäre in der Vergangenheit nicht so abhängig vom Urteil anderer gewesen. Heute, so hoffe ich, denke ich bloß ‚Leck mich!‘, wenn einem unser neues Album nicht gefällt. Denn ich weiß ja: jeder Song ist gut. Wir haben einen Groove, wir haben eine Performance, alles passt.“
Rowland nippt am Tee. Er lauscht einer Frage nach, nickt, holt Luft. Über das, was in den vergangenen 27 Jahren schiefging, spricht er nicht gerne. Lieber erzählt er von den 18 Monaten, in denen das vierte Dexys-Album entstand, an das er selbst nicht mehr wirklich geglaubt hatte.
„Ich wollte die Platte ja schon seit langer Zeit machen“, sagt er. „Aber ich war nicht bereit dafür. Manche Songs sind schon vor zwanzig Jahren entstanden, manche habe ich im Laufe der Jahre bis zu fünfmal neu aufgenommen. Zufrieden war ich nie. Ich wusste, es sind gute Songs, aber ich konnte sie nicht umsetzen.“
Drei Menschen halfen ihm schließlich dabei. Zum einen Mick Talbot, bekannt als Paul Wellers bessere Hälfte bei Style Council, weniger bekannt als Mitglied der frühen Dexys Midnight Runners. Er wurde zum Rückgrat der neuen Besetzung, zum verlässlichen Pingpong-Partner im Studio. Zum zweiten Big Jim Paterson, Posaunist und Alkoholiker im Ruhestand, als einziger Midnight Runner an allen Dexys-Alben beteiligt, häufig auch als Co-Autor. Als Kevin Rowland ihn anrief, musste er sein Instrument erst vom Speicher holen und grundreinigen, Tauben hatten darin genistet. Zum dritten Kevin Rowlands Yoga-Lehrer. Er schickte den nervösen und stressgeplagten Sänger in einen indischen Ashram, als ihm sechs Wochen vor der ersten Aufnahmesession die Stimme versagte. „Es war ein Ort jenseits von irgendwo, es gab bloß einen Eimer und ein Waschbecken und dreimal am Tag Curry“, erzählt Rowland. „Dann sitzt du den ganzen Tag im Garten, darfst kein Handy und keinen Computer benutzen und machst Stimmübungen. Es half. Mir wurde klar: Wenn ich zurückkehre, mache ich dieses Album. Es gibt kein Davonlaufen mehr.“
Die Aufnahmen müssen eine Tortur gewesen sein. Rowland trommelte seine Truppe für zwei Tage zusammen, nahm vier Stücke mit ihr auf, gab der Band dann drei Wochen frei, zog sich mit Mick Talbot zurück um jede Sekunde Sound zu analysieren, suchte anschließend die Bandmitglieder einzeln auf, besprach Korrekturen mit ihnen, scheuchte sie wieder ins Studio, wo die Songs neu aufgenommen wurden. So ging es Monat für Monat. Rowland nennt es Rotationssystem. Und erklärt seinen Perfektionswahn mit Van Morrison. „Mein Lieblingsalbum ist „Too Late To Stop Now“, es ist das beste, das ich je gehört habe. Und es ist live. Die Musiker kennen diese Songs so genau, sie sind derart auf sie eingestimmt, dass eine große Intimität entsteht“, erläutert der empfindsame Kontrollfreak. „Diese Intimität, diesen Live-Klang wollte ich auch für das Dexys-Album. Und die Art wie das Schlagzeug nach einigen Versuchen schließlich klang, das war es dann, das war der Sound.“
Und wie zufrieden ist er nun mit „One Day I’m Going to Soar“?
„Hundertprozentig“, sagt Kevin Rowland ohne jedes Lächeln.
Er ist nicht unbedingt ein rasend humorvoller Mann. Früher hat er Kritiker verprügelt, Interviews verweigert und Gegenanzeigen geschaltet, wenn sie seine Musik nicht mochten. Das dürfte heute kaum mehr nötig sein, denn er hat ja recht: Zweifellos ist „One Day I’m Going To Soar“ nicht nur ein großartiges Comeback-Album und die großartigste Platte über die Liebe in Zeiten des Alterns seit Leonard Cohens „Death Of A Ladies‘ Man“. Sie ist außerdem schon jetzt eine der besten Platten des Jahres. Und beinhaltet alle bekannten und so lange vermissten Dexys-Zutaten: die gegeneinander geschobenen Streicher und Bläser, die überspannte Dramatik, der Melodienüberfluss, die atemberaubenden Breaks, Kevin Rowlands Stimme. Alles bloß um ein paar Jahrzehnte gereift, einen Hauch musealer und überwiegend in Midtempo gehalten, so wie es nur ältere Männer richtig können oder Willie Mitchell, wenn er Al Green produziert. Am schönsten vielleicht bei „She Got A Wiggle“, wo das Schlagzeug mächtig und satt und stoisch den Sound bestimmt und tatsächlich klingt, wie es Rowland beschrieben hat: live, so als stünde man im Raum.
Und wie immer sind es die großen Gesten, die stets zu spürende Unbedingtheit und Wahrhaftigkeit, die bewegen. Alles zu dick aufgetragen und zwischen zwei Temperaturen pendelnd: besoffen vor Glück und am Boden zerstört. Also: zum Heulen schön. Eine Art Konzeptalbum (was Kevin Rowland gar nicht gerne hört) über das Aufwachsen, die Liebe und ihr Scheitern, das inhaltlich und in Fragen epischer Songlängen an „Don’t Stand Me Down“ anknüpft (was Kevin Rowland noch weniger gerne hört), dem damals irritierenden, heute als Meisterwerk gefeierten dritten Dexys-Album, das 1985 Kevin Rowlands Karriere zerstörte.
„Nein, ich denke nicht, dass es da anknüpft. Aber manche Kritiker sagen das. Sie empfinden es als Fortsetzung. Mir geht es nicht so. Und, Mann, das ist lange her, 27 Jahre! Es gibt stilistische Ähnlichkeiten, aber das war nicht beabsichtigt. Und, ehrlich, ich hab ‚Don’t Stand Me Down‘ lange nicht mehr gehört“, seufzt Kevin Rowland. „Ich bin heute ein anderer Mensch. Heute weiß ich, dass mich die negativen Reaktionen auf ‚Don’t Stand Me Down‘ tief verletzt haben. Damals konnte ich das nicht verstehen. Stattdessen habe ich Journalisten verhauen. Aber entscheidend war, dass ich mein Vertrauen verlor, mein Vertrauen in das, was ich tat. Niemand sagte, das Album sei großartig, alle machten Einschränkungen, nannten es selbstbezogen oder gar selbstzerstörerisch. Ich traute meinem Urteil nicht mehr, ich ging irgendwie verloren, denn ‚Don’t Stand Me Down‘ ist absolut mein Ding gewesen, meine Vision.“
In Wirklichkeit war es ein Flop. Danach: Haus weg, Freunde weg, Frau weg, Ruhm weg, Geld weg. Der „Guardian“ schreibt, Rowland habe in den Jahren nach dem Dexys-Desaster vier Gramm Koks pro Nacht verputzt und praktisch auf der Straße gelebt. Zumindest für seine ständige Geldnot ist er Ende der Achtziger-, Anfang der Neuzigerjahre berüchtigt. So kommt es zu einem gescheiterten Comebackversuch 1993, so kommt es dazu, dass er im Jahr zuvor auf dem Debutalbum des Londoner Drum’n’Bass-Duos Shut Up & Dance Gitarre spielt. „Sie gaben mir Bargeld“, erzählt Kevin Rowland, „und ich brauchte es. Na, die Platte ist ja auch ganz ok.“
An jenem Frühsommerabend in London spielen Dexys drei ausufernde Zugaben, bevor das Publikum mit dem epischen „This Is What She Is Like“ vom Mythen umrankten 1985er-Flop-Album in die rachitische britische Nachtluft entlassen wird. Es ist der Song, den Rowland bis heute für seinen wichtigsten hält. Es ist die zwölfeinhalb Minuten lange Liebeserklärung an Helen O’Hara, die damalige Dexys-Geigerin. Ihre Nachfolgerin Lucy Morgan, das muss man sagen, sieht Helen verdammt ähnlich. Doch „One Day I’m Going To Soar“ huldigt einer anderen Frau, das Album ist ganz um Madeleine Hyland gebaut. Sie wird überlebensgroß an die Bühnenwand geworfen, sie stolziert im bodenlangen Kleid über die Bretter, singt und schimpft mit Rowland, kommt zum Finale noch einmal dazu, als neue Helen O’Hara.
„Ja“, nickt Rowland. „Madeleine ist ganz, ganz wichtig. Deswegen singt sie auch ‚This Is What She Is Like‘ mit.“
Und sie singt nicht mal besonders gut. Madeleine Hyland ist eine 29-jährige Schauspielerin, Shakespeare ihr Fach, und sie ist Rowlands Gegenstück, Projektionsfläche, Muse. Erst das live aufgeführte Singspiel erschließt „One Day I’m Going to Soar“ wirklich. In den fünf mittleren Songs des Albums (und der Live-Show) wird zwischen dem älteren Mann und der jungen Frau um die Liebe gerungen, hier tritt Madeleine Hyland auf, hier singt, ruft, meckert die braunhaarige Mimin, hier antwortet, schimpft und rechtfertigt sich Kevin Rowland. Saftige Soul-Dialoge, ein Call-and-Response-Drama, das sich bis zum euphorischen „Free“ steigert, dem Vorfinale.
„One Day I’m Going to Soar“ ist Lebensbeichte, Liebesgeschichte und Fazit. Es klingt wie ein letztes Album. Es beginnt mit dem programmatischen Aufschlag „Now“, der an „Celtic Soul Brothers“ erinnert und den Teppich für „Lost“ ausrollt – einer tiefromantischen Kindheitsballade, in der Kevin Rowland davon singt, dass er von einer Welt „full of music, girls and clothes“ geträumt habe, am Ende aber – und da kommt die theatralischste Pause vor dem theatralischsten Ausbruch seit dem des Vesuvs – er doch immer nur „lost inside“ war. Ein Song, der einen rechts ranfahren und am Straßenrand verharren lässt, bis sich die Gänsehaut gelegt hat.
„Das freut mich zu hören“, lacht Kevin Rowland. Denn nichts weniger erwartet er von seinen Songs. „Speziell dieser Song macht mich verlegen. Als ich ihn der Band vorstellte, fragte ich mich, was sie wohl über meine Verse denken?“
Und, was denken sie darüber?
„Ich weiß es nicht. Ich hab sie nicht gefragt. Na, gut, ich frage schon mal Mick (Talbot – Red.) oder Pete (Williams, Dexys-Bassist und Mitsänger der ersten Stunde), was sie von dieser oder jener Formulierung halten, aber ich frage sie nie nach ihrer Meinung zu den wirklich persönlichen Sachen, zu Songs wie ‚It’s O.K. John Joe‘. Es geht ja auch nicht darum, ob es gute oder schlechte Verse sind, es geht um Wahrheit.“
Nun, in „It’s O.K. John Joe“ geht es um alles. Zumindest um fast alles. Es ist das ergreifende Lamento eines Mannes, der erkennt, dass er in der Liebe versagt hat. Er wispert „I do believe in love, Johnny, I just don’t know anything about it“, er seufzt, er singt samtweich, dass es O.K. so ist und nicht das Ende der Welt, und dann zitiert Kevin Rowland Marvin Gaye, er zitiert das Zeilenfragment „millions never will“ aus „If I Should Die Tonight“, er zitiert, er singt es im Marvin-Gaye-Stil, um anschließend gelassen resignierend festzustellen: „He was discussing a different subject to some point“. Und das alles in einem Vers eines Songs. Große, ganz große Verweiskunst.
„It’s O.K. John Joe“ ist der Übersong des Albums. Er dockt an einen zweiunddreißig Jahre alten Dexys-Song an, „Love Part One“ auf „Searching For The Young Soul Rebels“. Hier lamentiert Rowland bereits über die Vergeblichkeit und Verlogenheit der Liebe, ein wütendes Stück spoken word poetry. Heute ist er gelassener und croont sogar wunderschön zwischen den gesprochenen und geseufzten Betrachtungen zum ewigen Thema.
„Ich versuche immer, Wahrheit in die Songs zu legen. Und ich weiß heute besser, was Wahrheit ist. Als ich jung war, wusste ich das nicht. Ich bin heute sicherer in dem was ich tue, aber das allein ist es nicht“, sinniert Kevin Rowland, „es geht auch um Inspiration. Sie kommt einfach durch dich hindurch. Das ist dann ein großes Glück. Wenn du ein Stück Musik hast oder eine Zeile und sie ist inspiriert, sie ist ein Stück Wahrheit, dann musst du niemanden fragen, was er davon hält. So etwas ist nicht diskutierbar.“
Das Konzert ist aus. Die Männergruppen, Freundescliquen, Bürogemeinschaften, vereinzelten Paare und jüngeren Menschen haben sich längst auf Nachtbusse und Taxen verteilt, geeint im weihevollen Gefühl etwas Besonderem beigewohnt zu haben. „I’ll hum this tune forever“, zumindest bis der Wecker klingelt. Im Pub gegenüber dem Shepherd’s Bush Empire singt eine junge Frau Songs von Tanita Tikaram und Joan Armatrading. Ihre Stimme hat ein nicht unangenehmes, mitunter etwas kippelndes Timbre. Sie trägt eine Gitarre und einen weiten Rock. Auf den Stühlen rund um die winzige Bühne sitzen ihre Mitstudenten, sie klatschen, einer steht auf und bewegt sich wie Disneys Schlenkerpferd zum Takt der Musik. Es wirkt nicht unbedingt erschütternd, aber ernüchternd schon.
Mit seinem Auftritt sei er nur zu 95 Prozent zufrieden gewesen, wird Kevin Rowland zwei Wochen später in diesem pastellfarbenem Hotelzimmer sagen. „Es gab keine Fehler, aber ich habe etwas vermisst, ich war nervös während der ersten Songs. Ich sang, aber mein Verstand fragte dauernd: Ist alles in Ordnung? Ich bereite mich ja immer sehr gut vor, bevor ich auf die Bühne gehe, ich meditiere, entspanne, ich strecke mich, ich tanze ein wenig, mache mein Gesangs-Warm-up. Wenn auf der Bühne alles gut läuft, dann passiert etwas, das Magie ist. Dann sind es 100 Prozent.“
Puh. Die 95 waren schon – ganz ehrlich – beeindruckend. Rowland zupft sich den in den vergangenen Tagen schütter gewachsenen, smarten Bart. Ein Lächeln rutscht über sein Gesicht, eine Windböe bauscht die Gardine vor dem offenen Fenster, er sei ein erschöpft, aber zufrieden, sagt er und schaut aus unfassbar tiefen dunklen Augenhöhlen über den Tisch. „Is there a new life at the end of some journey? I’d like to think so“ – das Album endet mit einer Frage und einer Hoffung. Und, was immer da in Sachen Liebe läuft oder nicht läuft bei ihm – alles andere läuft jedenfalls super. Konzert der Saison, Platte des Sommers, Comeback des Jahrzehnts. Auferstanden, wieder oben.
Celtic Soul Rebels
Mit Fiddeln und Posaunen, in sechs verschiedenen Besetzungen und 32 Jahren: ANDREAS BANASKI über die vier Dexys-Alben und Kevin Rowlands zwei Solo-LPs
Searching For The Young Soul Rebels
1980
Der Ex-Punk und Emotionsdramatiker Rowland wütet über Existenzialistendünkel, feiert dagegen den literarischen Aufruhr irischer Hitzköpfe und provoziert im Dockarbeiter-Look Modeverweigerer. Der Beat von Englands bester Inbrunst-Band stammt aus dem Northern-Soul-Tanzschuppen, die posaunenlastigen Bläser erinnern an Ska und Rowland erfindet dazu sein Markenzeichen, das er „that ‚crying‘ voice“ nennt.
Too-Rye-Ay
1982
Poppigere Fortsetzung von Rowlands Euphorie-Parole „Platz da, jetzt kommen die hingebungsvollen Seelenbrüder“. Der neue Einfluss irische Folklore sorgt mit Geige, Banjo und Flöte für fast unbeschwerte Lebensfreude. Punk- und Soul-Rebel-Ex-Kumpel Kevin „Al“ Archer wirft Rowland vor, ihm nicht nur die Geigerin, sondern auch das Soundmodell Celtic Soul geklaut zu haben. Rowland reagiert übertrieben zerknirscht.
Don’t Stand Me Down
1985 1/2
Im Dress eines Business-Herrenausstatters steckt ein „zorniger Junge“, der auf kommunistischen Gewerkschaftsdemos marschiert und gegen die „liberale Elite“ ätzt. Textlich didaktisch, für die Beziehungsdialoge wird Schauspielunterricht genommen. Musikalisch eher getragen, aber mit einem der himmlischsten Momente der ganzen 80er: dem Break im epischen „This Is What She’s Like“ mit anschließender Klavier- und Violin-Ekstase.
The Wanderer
1988 1/2
Solo-Debüt im charmanten Crooner-R’n’R-Retrostil, selbst vom Urheber unterbewertet: Rowland spricht heute verächtlich über die „leichtgewichtigen“ Wegwerf-Popsongs, die er angeblich in jeweils einer halben Stunde geschrieben hat. Die pseudo-moderne Polter-Produktion des brasilianischen Star-Arrangeurs Eumir Deodato klang bereits damals so hoffnungslos altbacken, dass das schon wieder seinen Reiz hat.
My Beauty
1999
Rowland genießt Narrenfreiheit bei dieser rührenden, eigensinnigen, verschwenderisch am Plüsch entlangschlingernden Coverversionenplatte, die es wegen der erratischen Songauswahl aus dem Oldie-Radio-Repertoire auch ohne sein irritierendes Outfit schwer gehabt hätte. Für Fans natürlich eine Delikatesse. Leider fehlt Springsteens „Thunder Road“, weil den Boss Rowlands Textanpassung störte.
One Day I’m Going To Soar
2012 1/2
Gereiftes Alterswerk, in dem Rowland eine Bilanz seiner Leidenschaften zieht. Dieses von ihm besungene obskure Objekt der Begierde aus „Come On Eileen“ oder „This Is What She’s Like“ bekommt Stimme und Gesicht: Im Herzstück darf eine junge Shakespeare-Dramen-Schönheit gegen den zerknitterten Beziehungskrüppel Rowland ansingen, der auch im wirklichen Leben immer ein Auge auf attraktive Damen wirft.