Deutscher Musiktrend des Jahres 2017: Unwohlsein
Kettcar, Joy Denalane, Slime und Casper hatten 2017 eines gemeinsam: politische Texte, die zumindest vom Unwohlsein berichten
Etwas hat sich verändert in diesem Land, und um zu verstehen, worin diese Veränderung liegt, muss man nicht auf Wahlergebnisse schauen oder politische Talkshows einschalten. Es sind gerade auch die Details des alltäglichen Lebens, in denen sich die politische Verschiebung zeigt. „Ich traf heute Freunde, und sie sprachen über mich/ Ich glaub, sie merkten es nicht“, singt Joy Denalane auf ihrem wunderbaren Album „Gleisdreieck“ vom vergangenen März. „Und die leisen Satzgewalten und die Worte brachten mich aus meinem Gleichgewicht/ Und du hast mich immer bewahrt, hast mich vor diesem Blick gewarnt, doch ich merkte es nicht.“ Sie singt über die Blicke weißer Menschen auf ihre farbige Haut und darüber, wie diese Menschen mit ihr und über sie reden. Sie singt davon, wie diese Blicke und diese Worte immer fremder werden und wie sie sich immer fremder fühlt in dem Land, in dem sie geboren wurde und doch eigentlich zu Hause ist.
Das – und vor allem das – hat sich verändert, seit die deutsche Gesellschaft nach rechts zu driften begann: dass immer mehr selbst ernannte Vertreter des „Volkes“ glauben, sie hätten das Recht, anderen ihre Heimat streitig zu machen. Die wichtigen deutschen (und 2017 erstaunlich politischen) Pop-Platten des Jahres erzählen davon, indem sie von der Unsicherheit erzählen, die all jene ergriffen hat, die bislang glaubten, in einer offenen, liberalen, diversen Gesellschaft zu leben. Sie erzählen vom Verlust des Halts und der Zuversicht – und dem trotzigen Aufbegehren gegen die Depression, in die man angesichts all dessen nun stürzen könnte.
Das gilt für Joy Denalane ebenso wie für Casper, der mit „Lang lebe der Tod“ sein bisher bestes Album herausgebracht hat, ein ebenso verzweifeltes wie zorniges Werk, das sich mit den Denkblasen der AfD-Bürger und ihrer Abkapselung von der Realität ebenso befasst wie mit dem Wunsch, vor all diesen „Scheißnazis“ aus der Welt zu flüchten – um dann aber doch noch zum Rave gegen die Apokalypse zu rufen. Verzweiflung und Zorn findet man auch auf „Ich vs. Wir“, dem neuen Album der lyrisch ungewohnt entschlossenen und reflektierten Hamburger Pathos-Rocker von Kettcar.
Und natürlich bei den großen Punk-Veteranen von Slime, deren fast vier Jahrzehnte umspannendes Gesamtwerk plötzlich wieder so wirkt, als ob es aus dem „Hier und Jetzt“ kommt. So auch der Titel des neuen Albums. „Sie wollen wieder schießen dürfen/ Sie wollen wieder Zäune ziehen/ Sie wollen wieder schreien dürfen/ Die Jugend neu zum Hass erziehen“, heißt es in „Sie wollen wieder schießen dürfen“, eine zweifellos zutreffende Beschreibung der Lage. Das dazugehörige Video wurde von YouTube gleichwohl wegen der Verbreitung von „Hassreden“ entfernt. Die gesammelten Hassreden jener Politiker, von denen dieser Song handelt, sind hingegen weiterhin zugänglich.