Der Weltverweigerer

Sein halbes Leben lang flüchtete J.D. Salinger vor dem ungeheuren Ruhm des "Fänger im Roggen". Es bleibt ein schmales, ebenso radikale skurriles wie wunderbares Werk.

Als die Nachricht von seinem Tod vermeldet wurde, war unsere letzte Ausgabe soeben abgeschlossen worden. Aber J. D. Salinger, der große Pate der Jugend- und Gegenkultur, soll hier nicht unbesungen bleiben. Seine Geschichten spielen in einer Kindheitswelt, in der Phase des größten amerikanischen Wohlstands, in den späten 40er und 50er Jahren. Es gibt Luxus, jedermann fährt ein Auto, die Familien beschäftigen Dienstmädchen und Putzfrauen, die Wohnungen sind sagenhaft geräumig, man hat ein Sommerhaus und ein Boot auf dem See, die Kinder spielen Tennis und fahren in Taxis, und alle trinken Martini und rauchen jederzeit und überall Zigaretten. Die Welt des Jerome David Salinger, der 1919 in eine wohlhabende New Yorker Familie geboren wurde, ist eine Hölle der Prosperität, des hohlen Genusses, der wohlgesetzten Phrasen und der nichtssagenden Unterhaltung. An dieser Gesellschaftsordnung leidet Holden Caulfield, der keine Chance hat außer seiner scharfen Beobachtungsgabe, die er gegen Spießer und Heuchler richtet.

Ein großer Teil des Spaßes am „Fänger im Roggen“ ist Caulfields schnodderige Sprache, ist die Bezichtigung, die Anklage. Der junge Rebell ist natürlich selbstgerecht – aber er hat ja auch recht. Er hat so recht wie nur je ein 16-Jähriger, der seine Lehrer verachtet und seine Eltern und seine Mitschüler, der den Unterricht hasst und die banalen Vergnügungen und die Konventionen der Alten und das heimliche Gefummel in Kinosälen, vor allem, wenn das Mädchen immer mit dem Schmierlappen ausgeht, und die Arroganz der Sporttypen und ihre Sprüche und ihre aufdringliche Körperlichkeit. J. D. Salinger schrieb in diesem, Heinrich Böll hätte übersetzt: umwerfenden Jugend-Jargon, den vorher nur Ernest Hemingway beherrscht hatte. Und Hemingway war es, der bei seinem Marsch auf Paris den jungen Salinger kennenlernte, der sich freiwillig zur Armee gemeldet hatte – und ein glückliches Schicksal überlieferte uns Papas Diktum: „a hell of a talent“.

Und das blieb Salinger auch nach dem Krieg, als seine Kurzgeschichten gedruckt wurden, und bis zu seinem Verstummen nach der letzten Erzählung im Jahr 1965. Hätte er weitergeschrieben, so wäre er als idiosynkratischer, dem Zen-Buddhismus zugeneigter und ziemlich verschrobener Autor notorisch geworden, dessen Kosmos fast ausschließlich aus langen Dialogen und Briefen besteht. Im Mittelpunkt fast all seiner Texte agieren die hochbegabten Kinder der Familie Glass, die bei der zeittypischen Radiosendung „Das kluge Kind“ mitwirken durften und entsprechend eingebildet und verblasen reden.

Nie werde ich vergessen, wie ich an einem Frühlingstag des Jahres 1985 die erste der „Neun Erzählungen“ las, „Ein herrlicher Tag für Bananenfisch“. Seymour Glass – der älteste Sohn der Familie – liegt am Strand und sucht dann mit dem Mädchen Sybil im seichten Wasser nach Bananenfischen, während sich seine Frau im Hotelzimmer langweilt, ein Ferngespräch mit Mutter führt und sich die Fußnägel lackiert. Seymour fährt in Aufzug, wirft einem Gast vor, sie starre auf seine Füße, betritt das Zimmer, schaut auf seine schlafende Frau, setzt sich aufs Bett und schießt sich mit einem Revolver in den Kopf.

Es ist ja einfach, nach einer solchen Geschichte zu weinen, aber ich war nur gelähmt, und plötzlich spürte ich, was sich hinter den Ritualen und Floskeln der Erwachsenen verbirgt und dass die Zärtlichkeit eines Mannes einem Kind gelten kann, mit dem er etwas vollkommen Imaginärem hinterherjagt, und dass gegen große Traurigkeit keine Sonne hilft. Später las ich oft, dass man solche Gefühle „das Ende der Kindheit“ nennt.

Es mildert die Unbegreiflichkeit nicht, dass Seymour Glass durch die Schrecken des Krieges krank geworden war, wie man in Andeutungen erfährt. Salinger selbst, der an der grausamen Ardennenschlacht beteiligt war, wurde nach Kriegsende psychiatrisch behandelt. Den „Fänger im Roggen“ hatte er damals bereits geplant; 1951 erschien das Buch und wurde ein Sensationserfolg.

Danach gerieten Salingers schmale Novellen zur Esoterik. Der erste Teil von „Franny und Zooey“ (1961)

ist ein quälender Dialog zwischen Franny und ihrem Freund, eine präzise Parodie auf die gestelzte, affektierte Art des Sprechens unter Literaturstudenten. Im zweiten Teil belehrt Zooey, der jüngste Bruder – in der Badewanne liegend – seine Mutter über taoistische Philosophie.

In den Erzählungen „Für Esme, mit Liebe und Unrat“, „Unten beim Boot“ und „Teddy“ treten frühreife und sensible, eloquente und möglicherweise psychisch Versehrte Kinder auf. Aber was ist eine psychische Störung? Der Junge in „Unten beim Boot“, der sich so gern unter dem Küchentisch versteckt, hört das Dienstmädchen abfällig von seinem jüdischen Vater sprechen. Daraufhin flüchtet er in ein am Bootssteg vertäutes Dinghi und spielt Admiral: Auch seine Mutter darf nicht an Bord kommen.

Niemals hätte Salinger „Gesellschaftskritik“ für sich reklamiert – aber die Darstellung der Wohlstandsverzweiflung in „Onkel Wackelpeter in Connecticut“ und der jugendlichen Verlorenheit in „Kurz vor dem Krieg gegen die Eskimos“ ist von trostlosem Lakonismus. Salingers asketischer, pointillistischer Stil entsprach seiner pedantisch-schlichten Lebensweise. Die Verehrerin Joyce Maynard stellte dem Einsiedler so lange nach, bis sie seine Geliebte wurde und seine allzu menschlichen Marotten erdulden musste, darunter den Verzehr von Lammfrikadellen und wüste Beschimpfungen.

Aber wie soll jemand denn ein Menschenfreund sein, der früh begriffen hat, dass er nur abseits der Menschen glücklich sein kann? Am 27. Januar verschwand Jerome David Salinger ins Reich der Imagination.

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