Der Weltensammler
Was macht ein Filmregisseur eigentlich so das ganze Jahr? Zum Kinostart von „Drei“ bilanziert uns Tom Tykwer sein ganz persönliches 2010.
Die ersten Wochen des Jahres verbrachte ich überwiegend im Schneideraum. Anfang Dezember 2009 hatten wir meinen neuen Film „Drei“ abgedreht, nun ging es an die Feinarbeit. Dazu kam ein anderes einschneidendes Ereignis: Kurz vor Weihnachten war mein Sohn auf die Welt gekommen, mein erstes Kind. Wir richteten den Schneideraum direkt unter unserer Wohnung ein. So arbeiteten die Cutterin und ich am Film, während auf dem Fußboden im Babykörbchen das Kind schlief, manchmal aufwachte und auf mir rumkrabbelte. Meine Partnerin Marie Steinmann und ich versuchen, Arbeit und Leben nicht so strikt voneinander getrennt zu halten, da es sich bei uns ohnehin ständig überlagert. Und es passte gut zu dem Film, in dem es ja nicht nur um die Versuche dreier Menschen geht, einen neuen Lebensentwurf zu finden, sondern auch um Fortpflanzung und Familienpläne.
Im Februar wartete, mit der Berlinale, die Deutschlandpremiere von „Soul Boy“ – dem ersten Film, der aus dem von mir und Marie initiierten Künstlernachwuchsprojekt in Kenia entstanden ist. Zum Schnitt war ich 2009 oft in Nairobi, endgültig bearbeitet und vertont hatte die junge Regisseurin Hawa Essuman den Film dann ohne uns, und ganz knapp zu den Festivals in Göteborg und Berlin war sie fertig geworden. Der Film ging von Berlin auf eine ausgedehnte Festivaltour, bis er schließlich im Dezember in Deutschland seinen ersten regulären Kinostart erlebte.
Im März galt es, die ersten Drehbuchfassungen für eine geplante Miniserie fertigzustellen, basierend auf Dave Eggers‘ Roman „Weit gegangen“, wofür wir uns für einige Wochen in einer französischen Enklave einschlossen. Darauf folgte im April die erste Afrikareise des Jahres. Es ging um die Vorbereitung des „Soul Boy“-Nachfolgers, also des zweiten Weiterbildungs-Filmprojekts. Schon jetzt ist es sehr beglückend zu sehen, welche Strukturen dank unserer Arbeit in Kenia entstanden sind: Dutzende von Leuten haben einen Anstoß bekommen, eigene Filme zu machen, individuelle Geschichten zu erzählen. Für den nächsten Film organisierten wir ein spezialisiertes Seminar für 70 Teilnehmer, mit je einem Lehrer für sieben verschiedene Kategorien wie Regie, Schnitt, Kamera, Produktion. Daraus sollte dann die Crew für den nächsten Film erwachsen.
Im Anschluss habe ich dann noch zehn Tage im Sudan drangehängt. Diesmal, um Drehorte für „Weit gegangen“ zu finden und den Mann zu treffen, auf dessen Leben das Buch von Dave Eggers basiert: Valentino Achak Deng, ein faszinierender Charakter. Seine gesammelte oral history über den Völkermord im Südsudan ist ein einzigartiges Dokument aus einer Region, in der Geschichtsschreiber kaum zu detaillierter Recherche kommen.
Im Mai ging es nach Los Angeles, wo ich mit meinem Produktionspartner Stefan Arndt die Regisseure Lana und Andy Wachowski traf, um die geplante gemeinsame Verfilmung von David Mitchells Roman „Der Wolken-atlas“ voranzutreiben. Ein Monumental-Experimentalfilm, dessen ineinander verwobene Geschichten durch sechs verschiedene Epochen und Zeitalter gleiten. Die Wachowskis und ich (wieder eine Dreiergruppe!) haben lange am Drehbuch laboriert, bis es sich aus dem komplexen Roman hervorschälen ließ. Jetzt ist es der am schwierigsten zu finanzierende Film unseres Lebens. Und wahrscheinlich der aufregendste.
Im Juni konnten wir schließlich den Schnitt von „Drei“ fertigstellen. Mit zweieinhalb Monaten Restzeit für Tonbearbeitung, Endmischung, Lichtbestimmung, Farbkorrektur. Auf Testvorführungen haben wir in diesem Fall verzichtet. Solche Screenings macht man in der Regel, um zu prüfen, ob die Zuschauer die logische Struktur eines Films nachvollziehen können. Aber „Drei“ hält sich ja zum Glück mit Logik nicht so besonders auf, ist mehr dem Schweifenden, dem Irrationalen und dem alltäglichen Chaos zugewandt.
Im Juli stand die zweite Keniareise an, im September das Festival in Venedig – und damit die Premiere von „Drei“! Vor Ort hatte ich etwas mehr Zeit, um ins Kino zu gehen – unter anderem sah ich „Essential Killing“ von Jerzy Skolimowski, einen außergewöhnlichen, extrem physischen Film über einen Talibanflüchtling. Natürlich musste ich auch Pressearbeit für „Drei“ machen. Man sitzt dann plötzlich an einem runden Tisch mit Journalisten aus Sri Lanka, Venezuela, Thailand und Finnland, und jeder reagierte völlig anders auf den Film. Selten haben sich die Interviews zu ein und demselben Film so sehr unterschieden wie hier. Bei „The International“ hatten die meisten doch nur gefragt: Wie war’s mit Naomi Watts? Wie war’s mit Clive Owen? Was denken sie über die Finanzkrise? Hier aber diskutierten die Journalisten fast mehr untereinander, als dass sie mir Fragen stellen wollten.
Von Venedig ging die „Drei“-Reise gleich weiter nach Toronto, wo eins der größten und schönsten Filmfestivals der Welt stattfindet. Vollgestopft mit den überwiegend sehr positiven Resonanzen flog ich dann ein drittes Mal nach Kenia, um die ausgewählten Teilnehmer aus den Workshops in die Vorbereitung zum neuen Projekt hineinzuführen. Unter den Regisseuren war der junge Filmemacher Tosh Getonga in seiner Klasse der auffälligste Typ: Mitte 20, seit einiger Zeit dabei, auf abenteuerliche Art seine eigenen Filme zu drehen. Er bringt ein großes Gefühl für Bilder mit und hat auch das Drehbuch sofort an sich gerissen, wie man es von einem echten Filmemacher erwarten würde.
Der Dreh entwickelte sich zu einem ziemlich anstrengenden, aber ebenso aufregenden Marathon – „Nairobi Half Life“ spielt zur Hälfte in der harten und trostlosen Gang-Szene am Nairobi River und zur anderen Hälfte in einem Off-Theater, in welchem eins der Gangmitglieder versucht, Karriere zu machen.
Ende November kehrten Marie und ich zurück nach Berlin, nach intensiven kenianischen Wochen. Hier warteten nur noch die Starts von „Soul Boy“ und „Drei“ (ab 23. Dezember im Kino). Die Feiertage werden wir wohl unterm Weihnachtsbaum durchschlafen.
Protokoll: Joachim Hentschel