Der Tag des Truckdrivers – Elvis Presley erfindet beiläufig den Rock’n’Roll
Der Raum, in dem der Rock’n’Roll – die Musik und das Phänomen – geboren wurde, sieht heute nicht viel anders aus als in der Nacht, in der es geschah: exakt am 5. Juli 1954. Der „Memphis Recording Service“, offizieller Name von Sam Phillips‘ Sun Records Studio an der Union Avenue in Memphis/Tennessee, ist ungefähr so groß wie ein großzügiges Wohnzimmer und bietet Platz für eine nicht allzu große Band. Im rückwärtigen Teil, hinter einer Glasscheibe, befindet sich ein winziger Kontrollraum, wo Phillips das primitive Mischpult bediente, seinen Schäfchen Ratschläge gab und aufmerksam lauschte, um den einzig richtigen Take nicht zu verpassen.
An diesem Montagabend im Juli begann die Arbeit gegen sieben Uhr. In den ersten paar Stunden passierte nicht viel Aufregendes. Elvis Presley, 19-jähriger Lastwagenfahrer der örtlichen Elektrofirma Crown, arbeitete sich emsig durch sentimentale Grütze wie den aktuellen Bing-Crosby-Hit „Harbor Lights“ und „I Love You Because“, mit dem Country-Star Ernest Tubb 1949 einen Hit gelandet hatte. Doch dann begann Presley in einer Pause mit einer schnellen Bluesnummer rumzuspielen, die „That’s All Right“ hieß und von dem schwarzen Sänger und Gitarristen Arthur Crudup stammte. Gitarrist Scotty Moore und Bassist Bill Black, von Phillips als Backing-Band angeheuert, fielen ein. Phillips hatte bereits etliche Blues-Sessions mit Leuten wie Jackie Brenston, Rufus Thomas, Howlin‘ Wolf und den Prisonaires hinter sich und war beeindruckt, dass Presley, ein unbedarfter weißer Teenager aus Tupelo, Mississippi, den Crudup-Song kannte. Er hörte, dass dieser Junge einen eigenen Sound hatte, eine intuitive Mischung aus Spiritual, Gospel und Tanzmusik, und dass seine Stimme Autorität ausstrahlte.
Veröffentlicht am 19. Juli als A-Seite von Sun 209, mit einer Turbo-Version von Bill Monroes Walzer „Blue Moon Of Kentucky“ auf der Rückseite, war „That’s All Right“ mehr als ein Konglomerat verschiedener Einflüsse – es war ein revolutionärer Akt musikalischer, kultureller und ethnischer Integration. Oder, wie Moore es 1991 in einem Interview ausdrückte: „Wir schüttelten die Köpfe und sagten: Ja, das klingt gut, aber, mein Gott, sie werden uns aus der Stadt jagen.'“
Presley, Moore und Black hatten das erste Mal einen Tag vor der Session zusammengespielt. Doch das, was Presleys beste Aufnahmen in den nächsten zwei Jahrzehnten prägen sollte – sein Perfektionismus, sein Sich-Hineinwühlen in einen Song bis zum letzten und optimalen Take – kam bereits am 5. Juli zum Tragen. Auf der einzigen erhaltenen Alternativ-Aufnahme von „That’s All Right“ klingt Presley alles andere als überirdisch: Er wieselt durch die Zeilen, legt zu viel Pathos hinein, während Moore wild auf dem Bass schrummelt. Doch Phillips ließ sich Zeit er konnte es sich leisten, nicht nach dem damals üblichen Plan (vier Takes in drei Stunden) vorzugehen: Ihm gehörten das Studio und das Label.
Presley machte noch vier weitere bahnbrechende Singles für Sun. Ende 1955 verkaufte Phillips, der in finanziellen Schwierigkeiten steckte, Presleys Vertrag und die Masterbänder für 35 000 Dollar an RCA. Danach entdeckte er noch Johnny Cash, Jerry Lee Lewis und Carl Perkins, bevor Sun in den 60er Jahren verkauft wurde. Doch als Erfinder sah er sich nie. „Rock’n’Roll gibt es schon seit vielen Jahren“, sagte er 1958.
„Früher hieß er eben Rhythm & Blues.“
Presley wusste, was er in dieser Nacht geschaffen hatte. „Ich glaube nicht, dass sie jemals ganz verschwinden wird“, sagte er später über diese Musik, „weil sie etwas mächtig Gutes finden müssen, um sie zu ersetzen.“