Der Tag, der Boris Becker zur Ikone machte
Vor 30 Jahren, am 7. Juli 1985, gewann Boris Becker Wimbledon. 25 Jahre später sieht er sich das Spiel noch einmal an. Ein Dramolett in vier Sätzen. Von Benjamin von Stuckrad-Barre
3. Satz
Kommentator: Nun ist aus dem Match ein sehr gutes Finale geworden. Die Frage ist nun, wer zuerst dem Druck des anderen nachgibt. Im dritten Satz scheint es Becker zu sein. Drei beide, 0:40.
Boris Becker: Ich sehe da schon ein bisschen mitgenommen aus, drei Breakbälle, jetzt wird’s eng.
Lilly: Was dachtest du da, Babe?
Becker: Shit, dachte ich.
Schnitt auf die Tribüne: Freundin und Schwiegermutter Currens, siegessicher.
Becker: Tja, Ladies, zu früh gefreut. Ah, mein Trainer wird langsam hektisch.
Günther Bosch reibt sich auffällig um Unauffälligkeit bemüht am Kopf, mit ausgestrecktem Zeigefinger.
Kommentator: Was mag Günther Bosch seinem Schützling signalisieren wollen?
Becker: Ball höher werfen beim Aufschlag vielleicht.
Jetzt fliegt sogar Curren einem Ball hinterher, wie es sonst nur Becker tut.
Becker (sanft ironisch) : Der kann das also auch, sieh an.
Kommentator: Imitiert der Ältere jetzt gar den Stil des Teenagers?
Currens Freundin knabbert an ihren Fingernägeln, Curren nimmt Becker den Aufschlag ab, geht im dritten Satz 4:3 in Führung. Der heutige Becker schüttelt ungläubig den Kopf, das hat er so nicht in Erinnerung, er rutscht auf dem Sofa nach vorn.
Becker: Ouh, Break?! Was? Hä? Ich glaub es nicht, der hat mir meinen Aufschlag abgenommen!
Aber es ist ja dann gut ausgegangen, wissen wir zum Glück. Raunen jetzt im beckerschen Wohnzimmer, dem echten, 2010, es wird in die Sofakissen geboxt, Daumen werden gedrückt: Papa! Oh, Babe! Come on!
Kommentator: Nun muss der 17-Jährige zeigen, was in ihm steckt. Und er zeigt es. 4:3 für Curren – aber 0:30 nach diesem verschlagenen Schmetterball.
Becker (klatscht zufrieden in die Hände) : Verhaut der den Ball, hm? Jetzt merke ich, ah, Curren wird wieder hektisch.
Lilly hat Kekse und Pralinen auf den Wohnzimmertisch gestellt, Becker nimmt sich einen großen Keks, lehnt sich dann wieder zurück, kaut den Keks – er weiß ja, wie das Spiel ausgeht.
Lilly: Wie alt war der Curren noch mal?
Becker: Er war 27.
Lilly: Ach, zehn Jahre älter? Deshalb ist der so langsam.
Becker: Was? Ist doch kein Alter, 27 – also bitte!
Currens Freundin auf der Tribüne vergräbt ihren Kopf in den Händen.
Kommentator: Diesmal sitzt Beckers Return dort, wo er hinsoll. 4:4. Ein Konter bei solch kritischem Spielstand sagt alles über das Selbstbewusstsein dieses Jungen.
Becker: Das war natürlich spielentscheidend.
Kommentator: Was wird Curren tun? 4:5 und 30:15.
Becker: Oh, oh, Doppelfehler, er zeigt Nerven!
Lilly (kichernd) : Guck, wie du dich bewegst.
Sie steht auf, imitiert den Jungen vom Bildschirm, die Jubel-Fäuste, das Trippeln. Man will sich da jetzt nicht einmischen, müsste ihr aber vielleicht erklären, dass diese Posen, Becker-Faust und Becker-Hecht, seit 1985 zum deutschen Kulturerbe gehören.
Becker: Machst dich über meine Schritte lustig? Das gibt’s doch gar nicht!
Kommentator: 30:40, Satzball für eine 2:1-Satzführung Beckers.
Becker: Guck, jetzt unterbreche ich, das ist natürlich ein klassischer Becker.
Ein toller Moment: Curren will gerade aufschlagen, nimmt schon Schwung auf, da dreht Becker sich um, hört man ihn da „Moment!“ in die Stille sagen? Noch mal schön die Stirn mit dem Schweißband abwischen, bisschen an den Schlägersaiten herumspielen, den Gegner aus dem Rhythmus bringen – okay, auf geht’s.
Becker (stolz und verschämt) : Was ich da für Sachen gemacht habe, hm?
Currens Freundin kaut intensiv an ihren Fingernägeln herum. Aber: Einstand. Becker flucht, erringt dann erneut einen Satzball, fliegt einmal mehr angstlos durch die Luft, radiert den Rasen mit dem ganzen Körper, T-Shirt und Hose jetzt stark verschmutzt.
Lilly (fast erschrocken) : Oh, Baby!
Kommentator: Er sieht aus, als käme er von einem Fußballfeld.
Becker: Ich blute am rechten Knie, okay, aber was ist da los, Satzbälle, Satzbälle – und ich mach’s nicht!
Kommentator: Und – Spiel Curren, 6:6, auch dieser dritte Satz wird also erst im Tie-Break entschieden.
Becker: Ich konnte jetzt in der Schlussphase seine stärkste Waffe, den Aufschlag, lesen, und nun wird er sauer.
Currens Freundin wird immer nervöser, drückt die Daumen, guckt hin, guckt weg, guckt wieder hin. Becker im heldenhaft verdreckten Shirt, schlägt ein Ass, 4:0.
Kommentator: Wieder einer von diesen weißen Blitzen Marke Becker.
Und noch einer: 5:0. Doppelfehler Curren, 6:0, Seitenwechsel, wieder das Spiel mit der Schulterberührung.
Lilly (empört, besorgt) : Hat er dich gerammt?
Becker (stolz) : Ich hab ihn gerammt! Die ganze Zeit sind wir da bei den Seitenwechseln mit unseren Schultern zugange – bemerkt der Kommentator gar nicht.
Nach dem Schulterberührspiel macht Becker immer irgendwas Ablenkendes, diesmal begutachtet er nachdenklich seinen aufgeschürften Ellenbogen, weiter geht’s.
Kommentator: Dieser Doppelfehler Currens beschert Becker weitere sechs Satzbälle.
Becker: Jetzt hat er auf meinen Körper gezielt – gibt ja so ungeschriebene Regeln, das zum Beispiel macht man eigentlich nicht, und dass er es dennoch getan hat, war für mich ein weiterer Hinweis darauf, dass er langsam, aber sicher die Nerven verliert.
Kommentator: Dieser fantastische Vorhand-Return bringt dem Deutschen die 2:1-Satzführung.
Die beiden nehmen auf den Stühlen links und rechts des Schiedsrichter-Hochsitzes Platz, Becker wechselt das T-Shirt, man sieht seinen weißen Oberkörper, darauf diverse Abschürfungen und Hämatome.
Kommentator: Dies ist der Rücken eines Tennis-Akrobaten, nicht der eines Rugby-Spielers.
Becker: Der Rücken eines Kindes, würde ich eher sagen, wie das aussieht.
Kommentator: Wer mag jetzt noch sagen, dass dieser junge Mann nicht auch dieses Finale gewinnen kann?
Auf der nächsten Seite geht es zum vierten Satz.