Der Tag, der Boris Becker zur Ikone machte
Vor 30 Jahren, am 7. Juli 1985, gewann Boris Becker Wimbledon. 25 Jahre später sieht er sich das Spiel noch einmal an. Ein Dramolett in vier Sätzen. Von Benjamin von Stuckrad-Barre
Es war das Match unseres Lebens, der 7. Juli 1985: Boris Becker aus Leimen, gerade einmal 17 Jahre alt, spielt im Finale von Wimbledon gegen Kevin Curren aus Südafrika – und gewinnt nach vier Sätzen das wichtigste Tennisturnier der Welt. Jetzt hat er sich mit Benjamin von Stuckrad-Barre das Spiel noch einmal angesehen. Ein Dramolett in vier Sätzen.
Prolog
Der erste Deutsche, der ihm an jenem 7. Juli 1985 persönlich zum Sieg in Wimbledon gratulierte, war der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker, die Eltern drangen erst viel später zu ihm vor, und eigentlich war das eine ganz gute Vorbereitung auf alles Weitere.
Jahre später erzählte ihm Günter Grass in einer Bar die Geschichte von Sisyphos und gab ihm des Weiteren Tipps, wie man all seinen Kindern, auch wenn sie von verschiedenen Müttern sind, ein guter Vater sein kann; mit Gary Kasparow spielte er Schach, Martin Walser schrieb über ihn einen leidenschaftlichen Fan-Essay, sein Nachbar heißt Michael Ballack, der wohnt schräg gegenüber, und das riesige Helmut-Newton-Buch auf dem mitgelieferten Metallklappgestell im Flur ist ein Geschenk von Günter Netzer.
Kurzum, die Rede ist von Boris Becker
Wenn wir heute über Boris Becker nachdenken, fällt uns vieles ein, das nichts mit Tennis zu tun hat, und das ist eigentlich bedauerlich, aber nicht anders zu erklären als: mit Tennis. Mit der Art, wie er gespielt hat, ob er gewann oder verlor, immer war es spektakulär und eine Angelegenheit von höchstem nationalem Interesse; vor genau 25 Jahren wurde aus dem allzu sprichwörtlichen 17-Jährigen Leimener ein Weltstar, ein deutscher Held der Gegenwart, und was könnte schöner sein, als einfach mit ihm zusammen dieses Spiel noch mal zu gucken, das damals schlagartig den Becker-Wahn in Deutschland auslöste.
Von seinem Wohnzimmer aus kann man, hinter Zaun und Bäumen, sein Wohnzimmer sehen. Hä, wie? Ja, im Fall Boris Becker geht es um Spiegelungen der Spiegelung, und da passt das ganz gut: Als sein Wohnzimmer hat er einst Wimbledon – das Turnier, das Stadion, den Stadtteil – bezeichnet, und wie so vieles haben ihm die Deutschen das nachgesprochen, Wimbledon ist Boris Beckers Wohnzimmer.
Stätte seiner größten Triumphe, auch bitterer Niederlagen, auf jeden Fall mit dem Turniersieg 1985 der Mythos-Geburtsort: Hier ist er ins Weltruhmeslicht getreten, und hier hat er kreisschließend 1999 seine sogenannte aktive Laufbahn beendet. Er hat allerdings auch ein herkömmliches Wohnzimmer, natürlich hat er auf der Welt verstreut mehrere, aber heute treffen wir ihn in dem seines Wimbledoner Hauses, das er vor einem guten Jahr bezog, Treffpunkt ist somit das Wohnzimmer im Wohnzimmer.
Man kennt ja die Familie Becker aus Zeitung und Fernsehen
Hinein also in die zum deutschen Allgemeingut gehörende, seit 25 Jahren medienübergreifend zu verfolgende, ja kaum verpassbare Seifenoper „Boris Becker“, und so seltsam es einem vorkommt, nicht nur mit Bildern von ihm, sondern mit dem echten Menschen Boris Becker konfrontiert und tatsächlich in einem Raum zu sein, so schämt man sich doch für das augenblicklich sich einstellende Gefühl der Vertrautheit, man kennt ja die komplette Familie seit Jahren aus Zeitungen und Fernsehen: Seine Frau Lilly, hallo Lilly, den zehnjährigen Sohn Elias aus erster Ehe, der einen, kaum angekommen, sogleich zum Fußballspielen im Garten drängt, und man macht gleich mit, fühlt sich kaum fremd, oder anders, man fühlt sich, als habe man gerade das Innere eines Fernsehapparats betreten. Alle da. Ein heiterer Sprachenmix schwirrt durch die Luft, Deutsch, Englisch, Holländisch – genau, dies ist eine moderne Patchworkfamilie, und, wenn man so will: der Gegenentwurf zum hypothekbelasteten Einfamilienhaus in Leimen.
Lilly wacht über die Fernbedienung, Play, auf geht’s, schauen wir uns auf dem großen Bildschirm überm Kamin das Spiel der Spiele an, das Herren-Wimbledonfinale des Jahres 1985. Ganz wichtig jetzt: ihn siezen! Herr Becker! Nicht du, Boris, du. Das tut gut. Das steht ihm auch gut. Wenn man über ihn in der „Bild“-Zeitung liest, ihn bei „Wetten, dass..?“ durch ein brennendes Herz hechten sieht, ist es unmöglich, ihn zu siezen. Aber wie er jetzt so auf dem Sofa neben einem sitzt, und man zugleich auf dem Bildschirm sieht, was er geleistet hat, was für ein KING er war, steigt der Respekt ins Unermessliche. Schön, mal wieder über Tennis mit ihm zu sprechen.
Dieser Boris Becker! Herr Becker! Sir!
Es ist so: Wenn sogar dieser Mann uncool und zuweilen lächerlich „rüberkommt“ in den Medien, dann sagt das weniger über ihn als über die Medien selbst, diese Mythoszerstörungsmaschinerie, die tatsächlich jeden zermalmt, die sogar Boris Becker, so herum ist es richtig, lächerlich aussehen lässt. Also, schön siezen, bei der Sache bleiben, bei diesem epochalen Sieg 1985, seiner „persönlichen Mondlandung“, wie er selbst diesen ersten Wimbledon-Sieg in einer Bier-Reklame genannt hat, ja wir sollten uns angewöhnen, sogar das Wort „Bier-Reklame“ im Zusammenhang mit Boris Becker hämefrei auszusprechen, denn tatsächlich betrat er 1985 eine Sphäre, die niemand vor und nach ihm betreten hat. Das muss beim Sprechen über Boris Becker, das ja meist ein Urteilen ist, bitte immer mitbedacht werden.
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