Der Stolz der Arbeiterklasse
Januar 2009 Wenige Monate vor dem Oasis-Split trafen wir Noel und Liam Gallagher zu einem denkwürdigen Interview in Köln. Aus heutiger Sicht liest sich die damalige Geschichte wie ein Epilog auf eine einmalige Karriere.
Schon auf der Treppe hört man die bekannt blaffende Stimme. Schlagfertig, fest im Ton. Noel Gallagher wird von einem Fernsehteam interviewt, und eben hat er sich ein bisschen in Rage geredet. Es geht darum, was einen guten von einem schlechten Songwriter unterscheidet. Für diesen Mann beileibe kein unverfängliches Allerweltsthema, sondern die Frage aller Fragen. Er versteht da wenig Spaß. In derartigen Diskussionen gibt es für Gallagher nichts Wichtigeres auf der Welt, als seinen Standpunkt deutlich zu machen. Er wirkt angespannt, wachsam, konzentriert. Er spricht mit der Stimme eines Mannes, der von einem Moment auf den anderen wieder jenen Panzer aus spöttischer Härte anlegen kann, der ihn einst auf den rauen Straßen Manchesters überleben ließ.
„Confidence is very much a northern English working class thing“, sagt Alec McKinlay. „Wenn du aus so einer problematischen Gegend kommst, kannst du niemandem trauen außer dir selbst, das ist das Erste, was man dort lernt. So sind die Menschen in Manchester.“ McKinlay selbst entstammt mitnichten der Welt, die er da beschreibt. Der Mann ist Bildungsbürger, formuliert mit Bedacht und in wasserklarem Oxford-Englisch. Zusammen mit Marcus Rüssel leitet er Ignition, jene Managementfirma, die seit 1993 die Geschicke von Oasis lenkt. „Wir betreuten damals Johnny Marr, den ehemaligen Smiths-Gitarristen“, erklärt McKinlay in seinem Londoner Büro. „Johnnys jüngerer Bruder (andere Quellen sagen: Marr selbst) kam mit einem Demotape dieser Band aus Manchester an, die wir uns unbedingt anhören sollten, so ging es los.“ Und wie es losging: Blitzkarriere, Rekordverkäufe – die Geschichte der folgenden Jahre ist umfangreich dokumentiert.
Aber die alles entscheidende Frage ist doch: Wie konnte das passieren? Warum wollten Millionen junger Leute auf einmal so sein wie ein Haufen biertrinkender Proleten aus der Eckkneipe? Die hedonistische Uns-kann-keiner-was-Haltung von Oasis – und nichts war bei dieser Band je wichtiger als die Haltung – passte perfekt zur Aufbruchsstimmung der Zeit. Der Kommunismus war zusammengebrochen, allerorten schickte sich eine neue Politikergeneration an, die Welt in eine sichere Zukunft zu lenken. Vor allem in England war die Stimmung nach dem Ende der Ära Thatcher sonnig bis heiter. Und Oasis waren die ideale popkulturelle Entsprechung für diese Gemengelage. Sie trugen ihr Britischsein demonstrativ vor sich her – das Wort vom Cool Britannia machte die Runde. So erlebte der sogenannte Laddism – Fußball, Frauen, Bier – eine glamouröse Aufwertung und trat seinen internationalen Siegeszug an. Blur waren vielleicht talentierter und Pulp ganz sicher intelligenter, aber Oasis hatten das größere Identifikationspotenzial.
Es war schön, es war magisch, doch irgendwann setzte zuverlässig der Kater danach ein: Plötzlich standen Telefonzellen auf der Bühne, verhedderten sich die Gallaghers in den typischen Rockstar-Fallstricken. Für Alan McGee war der legendäre Auftritt im britischen Knebworth der Wendepunkt, wie er bei einem Mittagessen in London erzählt: „Dort standen 7000 Leute auf der Gästeliste, deren Verköstigung mich über 100.000 Pfund gekostet hat. Und als ich darüber mit Noel sprechen wollte, wurde ich nicht mal mehr zur Band vorgelassen. Das muss man sich mal vorstellen.“ Der ehemalige Bahnangestellte McGee gilt in Großbritannien als unantastbare Legende. In den Achtzigern hat der Schotte die legendäre Plattenfirma Creation-Records gegründet, für die er Bands wie The Jesus And Mary Chain und Primal Scream unter Vertrag nahm. Sein größter Coup aber war die Entdeckung von Oasis. Sieben Jahre hat er in England ihre Platten verlegt, für McGee, der sich vor einigen Monaten komplett aus dem Musikgeschäft zurückzog, immer noch die schönste aller Zeiten. Er hat aufgegessen, aber eins ist ihm noch wichtig: „Ohne sie hätte nichts von dem stattgefunden, was in den letzten Jahren in England passiert ist. Die Libertines oder jetzt Glasvegas – ohne Oasis undenkbar.“ Vielleicht das Erstaunlichste: dass sich eine Gruppe glühender Fans – eine Coverband im Prinzip – zu den Elder Statesmen britischer Popmusik entwickeln konnte.
Beim ROLLING STONE-Interview im November 2008 in Köln blickt Noel Gallagher zurück auf diese einmalige Karriere, spricht über seine Kindheit und Jugend in Manchester, die Liebe zum Fußball und zur irischen Volksmusik.
Als du noch ein Kind warst, seid ihr mit eurer Mutter in den Schulferien immer nach Irland gefahren und habt dort deine Großmutter besucht. Es heißt, diese Reisen seien für dich sehr wichtig gewesen …
Sie bedeuteten sechs Wochen Ferien im Süden Irlands, umgeben von Tieren, Bauernhöfen und einer großartigen Natur – das Beste, was man sich als Junge in diesem Alter vorstellen kann. Die Sommer dort schienen endlos zu sein. Heute denke ich allerdings nicht mehr besonders oft darüber nach. Ich sehne mich nicht danach zurück oder so, da ich ja zufrieden mit meinem Leben bin.
Stimmt es, dass du durch die Vorliebe deiner Verwandten für irischen Folk erstmals mit Musik in Berührung gekommen bist?
Das stimmt, diese Leidenschaft hält bis heute an. Gerade vorhin habe ich Irish Folk gehört. Meine Großmutter hatte keinen Fernseher, nur ein Radio – und das lief immer. Die meiste Zeit kam natürlich Folk. Aber auch mein Vater hat eine Menge Irish Folk gehört, das war seine Verbindung in die Heimat. So ging das los mit mir und der Musik. (überlegt) Weißt du, was witzig ist? Diese irischen Volkslieder sind zwar sehr melancholisch, aber im Kern absolut stolz. In dieser Hinsicht erinnern sie mich an Oasis-Songs. „Some Might Say“ könnte ein irisches Volkslied sein, da liegt das gleiche Gefühl zugrunde. „She Loves You“ habe ich übrigens auch zum ersten Mal in Irland bei meiner Oma gehört, ein sehr wichtiger Moment.
Welche Bedeutung hatte der Fußballclub Manchester City? Kommt deine bis heute ausgeprägte Begeisterung für das Team daher, dass die gemeinsamen Stadionbesuche das Einzige waren,was du mit deinem Vater geteilt hast, der sich sonst nicht um dich gekümmert hat?
So ist es. Und heute ist es das Einzige, was mich außer der Band mit Liam verbindet. Bevor ich anfing, mich für Musik zu interessieren, bedeuteten mir Fußball und Manchester City alles. Bei den Jungs, die ich damals kannte, ist das heute noch so – ich treffe einige von ihnen von Zeit zu Zeit. Aber das ist ja gerade das Tolle am Fußball – dass er dir die Welt bedeuten und ein ganzes Leben ausfüllen kann.
Nachdem das alte Stadion an der Maine Road abgerissen wurde und Manchester City nun einer Investorengruppe aus Abu Dhabi gehört: Glaubst du, dass der Verein – oder ähnlich positionierte Traditionsclubs- heute noch ein vergleichbares Identifikationspotenzial für junge Leute haben können wie zu deiner Zeit?
Das alte Stadion wurde abgerissen, und es ist nichts davon übrig, eine Schande. Und der Club gehört dem Prinzen von Abu Dhabi. Aber die Zeiten haben sich geändert. Als ich aufgewachsen bin, gab es bei uns nichts anderes als Fußball. Heute haben die Kids das beschissene Internet, Computerspiele, YouTube und all diesen Kram. Es ist also insgesamt schwieriger, eine Leidenschaft für eine einzelne Sache zu entwickeln. Mein Ding war die Musik, für andere war es Fußball. Aber heute wird man mit so einem enormen Unterhaltungsangebot überschüttet, dass man sich als Heranwachsender nicht mehr in Ruhe auf irgendwas konzentrieren kann. Das tut mir leid für diese Generation, ich glaube, sie verpasst da etwas.
Dass du die Musik für dich entdeckt hast, war im Nachhinein ein Segen. Eine Weile hast du dich als Hooligan betätigt und dann als Dieb, Letzteres allerdings mit wenig Talent – du wurdest ständig erwischt.
Tatsächlich bin ich direkt die ersten beiden Male erwischt worden. Mit ein oder zwei Dingen bin ich später auch mal durchgekommen, aber meistens endete es bei der Polizei. Ich hatte Glück, dass ich noch so jung war – nämlich erst zwölf -, sonst wäre ich wohl im Knast gelandet. Stattdessen musste ich Arbeitsstunden leisten. Heute bin ich sehr froh, dass aus meiner angestrebten Karriere als hauptberuflicher Krimineller nichts geworden ist.
Du hattest damals angefangen, Klebstoff zu schnüffeln. Wurdest du deshalb erwischt?
Gut möglich, wir waren ständig komplett bedröhnt. Das war eine tolle Zeit!
Die Jahre vor der Scheidung deiner Eltern waren aber doch alles andere als toll. Hat deine immer wieder geäußerte Abneigung gegen die Kirche etwas damit zu tun, dass deine Mutter wegen ihres katholischen Glaubens lange nicht die Kraft fand, sich von eurem gewalttätigen Vater zu trennen?
Keineswegs. Das betrifft ja nur sie und nicht mich. Scheiß auf die verdammten Dogmen der Kirche, das hat mich nie beeindruckt. Ich hatte da ziemlich früh den Durchblick. Schon als Kind sagte mir mein Verstand: Noel, denk nach. Option Nummer eins: Da sitzt ein verdammter alter Knacker im Himmel mit einem langen weißen Bart. Vielleicht hält er noch einen Stock in der Hand. Und dieser Typ hat alle Tiere erschaffen und die ganze Welt. Zweite Option: Es gab einen Urknall, das erzählten sie uns in der Biologie-Stunde. Wenn ich also die Wahl habe zwischen Jesus und Gott und diesen ganzen anderen Märchenfiguren oder den Dinosauriern, dann scheint mir Letzteres erheblich einleuchtender zu sein.
Du warst zunächst Beatles- und Sex-Pistols-Fan, aber dann kam die Factory, Tony Wilson. Manchester wurde hip, es passierte eine Menge direkt vor deiner Haustür. Ist damals der Wunsch gereift, selbst Musiker zu werden?
Ich liebte Musik, und ich wollte unbedingt in diesem Bereich irgendetwas machen. Aber die Vorstellung, dass ein Junge wie ich Rockstar werden könnte, war völlig abwegig. Doch dann tauchten New Order und The Smiths in Manchester auf und etwas später dann die Stone Roses. Das änderte alles. Auf einmal sah ich, dass ganz normale Jungs aus unserer Gegend es bis zu „Top Of The Pops“ schaffen konnten. Bald darauf ergab sich die Möglichkeit, als Roadie für die Inspiral Carpets zu arbeiten. Das war für mich die Erfüllung meiner Teenagerträume. Ich war im Musikgeschäft! Niemals hätte ich gedacht, dass es noch weiter hätte gehen können, ich war glücklich. Und dann fragte mich Liam, ob ich in die Band einsteigen will.
Was hatten Oasis, als du ihnen beigetreten bist?
Vier Songs. Einer war richtig gut, „Take Me“. Ihr größtes Kapital war Liam. Sie hatten gerade ihr erstes Konzert gespielt. Und ich hatte angefangen, Songs zu schreiben. Also probte ich mit ihnen, und Liam forderte mich auf, irgendwas von meinen Sachen zu spielen. Er wusste ja, dass ich heimlich an Ideen arbeitete. Als ich dann zum ersten Mal einen meiner Songs durch die Boxen gehört habe, mit allen Instrumenten und Liams Stimme – ich hätte mir keine bessere Droge vorstellen können. Ich war auf Anhieb süchtig nach diesem Gefühl. Fortan war ich besessen. Die nächsten fünf Jahre hab ich praktisch nichts anderes getan, als Songs zu schreiben.
Von Anfang an hattet ihr ein wahnsinniges Selbstvertrauen und eine ziemlich große Schnauze. Ihr hattet bereits den Song “ Rock’n’Roll Star“ im Programm, den ihr dann vor zehn Leuten gespielt habt …
Sieben.
Wie bitte?
Es waren nur sieben Leute da. Nicht zehn.
Wie auch immer: Woher kam diese Zuversicht, das enorme Selbstvertrauen?
Nun, ich las seit Jahren den „NME“ und hatte eine riesige Plattensammlung. Dadurch hatte ich genug Ahnung von Musik erworben, um zu wissen: Wenn du einen Song wie „Live Forever“ schreiben kannst, bist du ein großartiger Songwriter. Außerdem kriegte ich Bestätigung von sämtlichen Leuten aus der Szene in Manchester. Die Stone Roses, Happy Mondays -sie alle haben sich kaum mehr eingekriegt vor Begeisterung. Und schließlich haben wir ja dann auch bewiesen, dass wir das Zeug dazu haben, ganz oben mitzuspielen. Ich war da nie schüchtern.
Wohl nicht. Auch deine Mutter beschrieb dich stets als stärksten der drei Brüder.
Damit hat sie auch recht. Ich bin tougher als die anderen beiden zusammen. Ich hab sie verdammt noch mal jahrelang alleine durchgezogen, ohne mich wäre keiner von ihnen mehr am Leben.
In eurer Jugend war der Altersunterschied zwischen Liam und dir gewichtiger als heute. Wie war euer Verhältnis vor Oasis?
Es gab kein Verhältnis, ich hab ihn ja nie gesehen. Er saß zu Hause, und ich bin um die Welt gereist, hab Drogen genommen und Frauen verführt.
Und davor?
Da war er sechs Jahre alt und begann sich langsam zur größten Plage meines Lebens zu entwickeln.
Hast du jenseits des üblichen Geprahles auch Verständnis für seine Entwicklung? Dein älterer Bruder Paul und du, ihr wart kaum mehr zu Hause, während Liam seine Tage alleine verbrachte, da eure Mutter tagsüber arbeiten musste, nachdem euer Vater die Familie nicht unterstützte. Ihr hattet vorher wenigstens einander.
Och ja, der arme Kerl. Mir kommen gleich die Tränen. Ich hab weiß Gott schon schlimmere Geschichten gehört als Liams, das kannst du mir glauben. Aber natürlich verstehe ich, warum er so ist, wie er ist: Er ist ein verdammter Idiot. Und Idioten verhalten sich nun mal wie Idioten. So auch er. Generell gilt: Egal, was Liam über die Band oder sonst irgendetwas sagt, es ist alles totaler Schwachsinn. Er hat keine Ahnung von gar nichts, also erfindet er irgendwelche Geschichten. Wenn du ihn nachher interviewst, wird er dir direkt ins Gesicht lügen.
Abermals wolltet ihr heute nur getrennt voneinander sprechen. Was würde passieren, wenn ihr mal wieder gemeinsam ein Interview geben würdet?
Ich würde die ganze Zeit reden, er würde die ganze Zeit reden, wir wären so gut wie nie einer Meinung. Es wäre sicher ein großer Spaß, würde man es filmen. Für mich selbst hielte sich der Spaß allerdings in Grenzen. Ich rede lieber alleine, ohne andauernd unterbrochen zu werden.
Die Qualität der Konzerte hängt von Liams Verfassung ab, während du konstant wirkst. Wie kommt’s?
Ich bin wohl so geboren worden. Entweder man hat’s drauf – oder eben nicht. Sie verkaufen diesen Scheiß schließlich nicht im Supermarkt.
Das Erfolgsrezept von Oasis schien am Anfang zu sein: Konventionelles Songwriting trifft auf unkonventionelles Gehabe und ein großes Maul.
Ich habe da diese Theorie entwickelt: Wenn dein Leben chaotisch und völlig außer Kontrolle geraten ist, musst du konventionelle Musik schreiben, um ein Gegengewicht zu schaffen. Ein quasi überlebensnotwendiger Akt zur Erhaltung der eigenen Gesundheit. Wenn du aber ein überschaubares Leben ohne Gefahren führst, musst du unkonventionellen Kunstkram schreiben, um deinen langweiligen Alltag aufzumöbeln. So wie Radiohead, das sind ganz besonders nette und brave Jungs, die jeden Abend um neun ins Bett gehen und in deren Leben niemals irgendwas passiert. Deshalb müssen sie diese ganze verquirlte Scheiße spielen. Oasis hingegen sind das reine Chaos, mit nur einer Konstante: Strophe plus Refrain plus Strophe gleich top of the charts und fette Schecks, vielen Dank und tschüs. So gefällt mir das.
Bei aller selbst attestierten Genialität hast du nie einen Hehl daraus gemacht, woher du deine Songs zusammengeklaut hast.
(beginnt zu lachen) Ich würde die Formulierung „wer meine Einflüsse waren“ bevorzugen.
Du selbst hast doch zumindest früher offen von Diebstahl gesprochen …
Nun gut, sagen wir, ich wurde heftig beeinflusst. (lacht laut)
Mit der gleichen Energie hast du stets deinen Hass ausgekübelt. Woher kommt dieser heilige Ernst im Bezug auf Musik?
Zunächst mal bin ich einfach ein Mensch mit einer klaren, unerschütterlichen Meinung. Ich kann mich mit wahnsinniger Hingabe und Leidenschaft für etwas begeistern. Ein Fan von etwas zu sein, sich zu den Dingen, die man liebt, ohne Wenn und Aber zu bekennen, war mir immer sehr wichtig. Ich fand auch nie, das sei ehrenrührig. Und mit der gleichen Energie kann ich mich über Dinge aufregen.
Du hast immer gesagt, ihr macht Musik für euresgleichen, und in England stimmt das ja auch überwiegend. In Deutschland jedoch ist euer Publikum anders strukturiert, hier verehren euch vor allem jene überwiegend männlichen Angehörigen der Mittelschicht, die ihr in den Neunzigern „middle class wankers“ zu nennen pflegtet. Hast du eine Ahnung, was diese Leute an Oasis faszinieren könnte?
Hoffentlich die Musik! Ich kann mich nicht über Klassenfragen in anderen Ländern auslassen, da ich davon keine Ahnung habe. Bei uns ist die Mittelschicht jedenfalls ein bornierter, schnöseliger Haufen. Anderswo mag das anders sein.
Ich glaube ja, dass es vielen dieser Leute vor allem um die Haltung geht. Der gesamte Lifestyle, die Klamotten, die Frisuren, das Gehabe.
Ehrlich, würdest du sagen, wir sind eine Lifestyle-Band? Sind wir Stil-Ikonen? Ich weiß nicht. Das hatte sicher früher eine größere Bedeutung als heute. Natürlich stehen wir für etwas, aber vor allem will ich wegen meiner Songs wahrgenommen werden. Ich will aber nicht über die Motive unserer Fans urteilen.
Jetzt geht’s zu Liam. Nachdem er angeblich ständig lügt: Was würdest du ihn als Reporter fragen?
Er hat einen Hund namens Sparkle. Frag ihn, wie es Sparkle geht! Da wird er dir die Wahrheit sagen.
Die souveräne Arroganz und natürliche Lässigkeit des Liam Gallagher sind für die Identität dieser Band mindestens so wichtig wie die Songs des genialen Diebes Noel Gallagher. So war es immer: Was dem einen fehlt, hat der andere. Ob das der Grund ist für die andauernden Streitereien? Im Interview vermutet Liam Neid als Ursache für die Sticheleien seines Bruders. Tatsächlich sagte Noel einst dem Journalisten Paolo Hewitt: „Liam wünscht sich, so zu sein wie ich, weil ich Songs schreiben kann, und ich wäre gerne so draufgängerisch und großmäulig wie er, und das bin ich nun mal nicht – da hast du’s.“
Dieser in Hunderten Interviews dokumentierten Konkurrenz verdankt die Welt eine der unterhaltsamsten Bands aller Zeiten. Die im Prinzip immer das Gleiche tut, sagt, spielt. Die sich niemals in irgendeiner Weise ändert – und die doch so vielen so viel bedeutet. Das wird im Gespräch mit Liam Gallagher einmal mehr klar. Als wir den Sänger in Köln treffen, hat er zwar sein Leben umgekrempelt, doch manche Dinge ändern sich nie. Zwischen treffsicher hingespuckten Einzeilern wird abermals klar: Seine Loyalität gilt Band und Familie, der Rest der Welt interessiert ihn nicht.
Tag, Liam, wie geht’s Sparkle?
Oh, sie heißt nicht mehr Sparkle, sondern Ruby. Es geht ihr verdammt gut, Mann. Moment, woher kennst du meinen Hund?
Noel empfahl, ich solle dich nach Sparkle fragen.
Dann sag ihm, Sparkle, die jetzt Ruby heißt, geht es ausgezeichnet.
Hattest du jemals Probleme, irgendeinen von Noels Texten zu singen?
Ganz ehrlich: noch nie, nicht ein einziges verdammtes Mal. Sie alle sind cool. Our kid ist ein guter Texter, da gibt’s nichts.
Immerhin „Wonderwall“ magst du angeblich nicht besonders.
Ich mag „Wonderwall“ durchaus. Eine Weile hing mir der Song zum Hals raus, aber jetzt haben wir eine besondere Akustik-Version im Programm, in der mir die Nummer wieder gefällt.
Nun, es ist doch sowieso ein Akustik-Song.
Hm. Zuletzt hatten wir ihn stets elektrisch gespielt.
Stimmt es, dass du Yoko Ono besucht hast, um mit ihr über die Nutzung eines Samples aus einem Lennon-Interview für deinen Song „I’m Outta Time“ zu reden?
Ich habe sie besucht, aber nicht deshalb. Generell war ich ein bisschen unsicher, weil ich nicht wollte, dass es so wirkt, also wolle ich aus dieser Geschichte Kapital schlagen oder gar Leichenfledderei betreiben. Unabhängig davon war ich bei Yoko auf eine Tasse Tee. Sie ist eine sehr nette und liebenswerte Lady, Mann. Man muss sie respektieren.
Ist es nicht ein bisschen komisch, dass sie immer noch im Dakota Building wohnt, dem Ort des Lennon-Attentats?
Nun, sie hat eine Menge guter Erinnerungen an diesen Ort. Natürlich ist dort etwas Fürchterliches passiert. Aber sie hat mir erklärt, dass insgesamt die guten Erinnerungen die eine schlechte bei Weitem überwiegen. Dort fühlt sie sich am wohlsten.
Anfang des Jahres hast du nach all den Jahren deine Freundin Nicole Appleton geheiratet. Früher hast du stets gesagt, eine Heirat sei überflüssig und käme nicht infrage …
Ja, Mann. Ich hab sie geheiratet, kicking and screaming.
Hat sich dadurch etwas geändert?
Absolut nichts. Nic ist eine Top-Frau, eine Top-Mutter, mein bester Freund – so war es vorher, so ist es jetzt. Ich wollte nicht heiraten, nur um mich irgendwann wieder scheiden zu lassen. Aber nach so langer Zeit … ich bin glücklich, alles ist cool.
Aber so weit, dass du ihr erlaubst, ihre eigenen Bilder in der Wohnung aufzuhängen, geht die Liebe nicht …
Das wirklich Schlimme ist: Sie mag Eddie Vedder und Pearl Jam und all diesen Scheiß. Sie kann verdammt noch mal aufhängen, was sie will. Aber niemals werde ich zulassen, dass der beschissene Eddie Vedder direkt neben meinen Hendrix- und Lennon-Bildern hängt. Das ist nicht drin. Außerdem hört sie Kiss und ähnlichen Müll, ein hoffnungsloser Fall in dieser Hinsicht.
Könnt ihr euch denn auf irgendwas einigen?
Sie liebt die Kings Of Leon, ich finde sie immerhin okay. Das war’s.
Musizieren die Eheleute Gallagher zusammen, macht ihr Hausmusik?
Nicht direkt, wir sind schließlich keine Hippies. Hin und wieder spielen wir aus Spaß ein paar kleine, unbedeutende Songs zusammen.
Wie sehr hast du bei der Erziehung deiner Kinder den Wunsch im Kopf, die Fehler deines Vaters nicht zu wiederholen?
Mein Vater hat mich ja nicht erzogen, das kann man beim besten Willen nicht behaupten. Meine Mutter hat alles übernommen, und da gab es nichts zu meckern. Ich versuche überhaupt nicht über die Dinge, die zwischen mir und meinem Vater gelaufen sind, nachzudenken. Das ist lange her. Meine Kinder sind gute Kinder, sie geben mir keinen Anlass zu Beschwerden. Aber mach dir keine Sorgen: Niemals würde ich sie schlagen, so wie es mein Vater mit uns getan hat – no fucking way.
Hast du jemals wieder mit ihm gesprochen?
Seit 20 Jahren nicht. Seit dem Tag, als meine Mutter mit uns abgehauen ist. Er lebt noch. Irgendwann hat er versucht, über die Presse mit uns Kontakt aufzunehmen. Wir haben ihn rausgeschmissen. Er soll sich verpissen. Meine Brüder und meine Mum gehören dazu – er nicht.
Zuletzt hast du deinen Lebenswandel geändert. Wie man hört, gehst du täglich laufen.
Das ist richtig, ich jogge ein bisschen. Ist gut für meinen Kopf und für die Seele. Ich stehe um sechs Uhr morgens auf, und dann geht’s los. Inzwischen schaffe ich anderthalb Stunden am Stück. Um halb acht bin ich wieder da und bringe die Kinder zur Schule. Ich liebe diesen Scheiß! Abends geht’s dann früh ins Bett.
Früher sagtest du stets, du seiest undiszipliniert. Das klingt jetzt aber schon nach Disziplin.
Klar, der Satz stimmt ja auch nicht mehr. Inzwischen hab ich eine wahnsinnige Disziplin. Es gibt praktisch keinen, der mehr hat.
Wie kommt’s, das Alter?
Keine Ahnung. Wahrscheinlich eine Mischung aus allem: das Alter, der Spaß an dem Leben, das ich heute führe. Man muss auf sich achten. Tut ja sonst keiner.
Hast du im Zuge dessen neue Hobbys entwickelt, abendliche Lesestunden vielleicht?
Ich lese niemals Bücher.
Irgendwann wirst du mal eins in der Hand gehabt haben.
Ich hab’s versucht, aber es nützt nichts. Ich kann mich einfach nicht konzentrieren. Ich lese eine Seite, und kaum habe ich umgeblättert, hab ich die Handlung vergessen.
Vielleicht waren es die falschen Bücher?
Nein, das ist nichts für mich. Glaub mir.
Verfolgst du das politische Tagesgeschehen, den Krieg im Irak, den Klimawandel?
Interessiert mich nicht im Geringsten. Sie können alle machen, was sie verdammt noch mal wollen, es ist mir vollkommen scheißegal. Klimawandel? Kein Interesse.
Wie hat sich im Vergleich zu früher euer Leben auf Tourneen verändert, was machst du zum Beispiel heute Abend?
Heute geht’s direkt nach der Show ins Bett, mein Freund. Ich hab’s die letzten Tage ordentlich mit Nic krachen lassen, deshalb heißt es jetzt: letzter Song, ab ins Hotel, kein Tropfen Alkohol, schlafen, schlafen, schlafen.
Kommen derart geregelte Abende bei euch inzwischen häufiger vor?
Wir feiern schon auch noch ordentlich. Ich selbst trinke aber wenig und gehe kaum aus. Noel ist in dieser Band das Party Animal.
Noel? Er sagt stets dasselbe von dir.
Ich weiß, aber das ist Unsinn. Je älter er wird, desto mehr geht er aus. Mit den Jahren wird er ein immer besserer Trinker.
Stimmt es, dass du Hausverbot im Groucho Club in London hast, seit du vor zwei Jahren einen Feuerlöscher in Paul Gascoignes Gesicht entleert und dich mit ihm gehauen hast?
Ich hab ihn nicht richtig geschlagen, nur eine kleine Ohrfeige. Er war betrunken, ich war betrunken, wir grölten rum und erzählten Schwachsinn. Keine große Sache. Ich liebe Paul Gascoigne und hab ihn bereits einige Male wieder getroffen. Nun habe ich eben Hausverbot. Ist mir aber scheißegal. Der Laden ist bis zum Rand vollgestopft mit Wichsern. our kid verkehrt dort.
Ist das so?
Yeah, Mann. Das ist praktisch sein Wohnzimmer. Jede verdammte Nacht gibt er sich mit seinen beschissenen Celebrity-Freunden die Kante.
Seine Freunde magst du wohl nicht?
Nein, sie sind alle Wichser. Idioten aus Soho, die schlimmste Sorte Mensch, die einem in London unterkommen kann.
Im Gegensatz zu deinen markigen Sprüchen, die du auch hier wieder klopfst, sind viele deiner Texte durchaus introspektiv und beinahe zartfühlend. Passt nicht so gut zum Image.
Scheiß auf mein Image! Ich habe eine Menge verschiedene Seiten, die öffentlich wahrgenommene ist nur eine davon. Ich bin nicht ständig wütend. Es gibt solche und solche Tage, wie bei vielen Leuten. Aber die meiste Zeit bin ich überaus verträglich und umgänglich, so wie jetzt ja auch. Ich bin ein guter Mensch! Was meine Songs betrifft: Es gibt einfach keine Themen, über die ich Lust habe, zu schreiben – abgesehen von persönlichem Kram. Im Gegensatz zu Noel bin ich kein Geschichtenerzähler.
Hast du jemals versucht, mit Noel zusammen was zu schreiben?
Ja, das haben wir tatsächlich einmal gemacht, das war ein guter Song. Wie hieß er noch mal? Irgendwas mit „World“. Top-Nummer. Werden wir irgendwann veröffentlichen.
Würdest du euch beide gern als Songwriting-Duo in der Tradition von Lennon/McCartney sehen?
Ich fänd’s schön, aber Noel will immer alles alleine machen.
Hattest du jemals ein Problem mit seiner Vormachtstellung innerhalb der Band?
Nicht einen Tag. Our kid soll sich weiter um den ganzen Kram kümmern. Er ist der Chef, so soll es bleiben. Ich bin Rock’n’Roll-Sänger, Mann. Damit hab ich genug zu tun. Da bleibt keine Zeit für geschäftliche Dinge. Ich muss darauf achten, meine Stimme nicht zu verlieren.
Was unternimmst du diesbezüglich? Die Qualität eurer Konzerte steht und fällt mit deiner stimmlichen Verfassung.
Ich weiß, Mann. Es ist verdammt hart, da oben zu stehen und gegen den Lärm der anderen anzusingen. Wir sind eine laute Band. Ich mache inzwischen Aufwärmübungen vorm Konzert.
Was würde passieren, wenn du mal wieder ein Interview mit Noel zusammen geben würdest?
Nicht viel. Noel würde die ganze Zeit seine schlauen Sprüche klopfen. Er hört sich selbst gern reden. Du hast gerade mit ihm gesprochen, oder?
Ja.
Dann weißt du ja Bescheid. Er denkt, er hätte die Weisheit für sich gepachtet. Soll er doch.
Was er über dich sagt, hört sich bekanntlich nicht viel anders an. Eben meinte er, ich solle dir kein Wort glauben, wenn es um die Band geht. Du seiest ein chronischer Lügner.
Hat er das gesagt? (schüttelt ungläubig den Kopf) Da hast du’s, er ist komplett wahnsinnig!
Verletzt dich so was?
Nein, sicher nicht. Das perlt an mir ab. Ich kriege auch gar nichts davon mit, da ich grundsätzlich keines seiner Interviews lese.
Nun, es wird nicht komplett an dir vorbeigegangen sein, wie er sich seit mehr als 15 Jahren in der Öffentlichkeit über dich auslässt.
Ist es nicht, aber es lässt mich kalt. Ich weiß ja, woran es liegt: Das ist der pure Neid.
Neid?
Neid. Was sonst?
Worauf sollte er eifersüchtig sein?
Auf alles, Mann. Er muss eifersüchtig sein, warum sollte er mich sonst ständig runtermachen?
Du hingegen hast erst kürzlich gesagt, du würdest ihn verehren …
Natürlich tue ich das. Er ist mein Bruder. Ich liebe ihn, Mann. Und er liebt mich auch. Er sagt es nur nie.
Zuletzt hast du dich mit Damon Albarn verbrüdert. Worüber redet ihr, wenn ihr euch trefft?
Wie großartig ich bin und wie viel weniger großartig er. (lacht nicht) Eigentlich ist der Junge ganz in Ordnung. Die Schlachten der Neunziger sind geschlagen, mein Freund. Wenn man sich anguckt, was wir heute alles für einen Dreck haben – Bands wie die Kaiser Chiefs -, muss man rückblickend sagen, dass Blur gar nicht so schlecht waren.
Was ist übrig geblieben von Cool Britannia?
Was übrig geblieben ist? Keine Ahnung. Nicht besonders viel, England ist ein Haufen Scheiße. Nun ja: Wir sind noch da.
Bereust du irgendeine deiner wahnwitzigen Aktionen aus den Neunzigern?
Absolut nichts.
Dann findest du es also immer noch ganz normal, die anderen an einer startbereiten Maschine stehen gelassen zu haben, kurz vorm Abflug zu einer US-Tournee, weil du spontan auf die Idee kamst, dich nach einem neuen Haus umzusehen?
Insbesondere das nun wirklich nicht. Die Band ist wichtig, aber meine Familie kommt zuerst. Und die brauchte ein Haus.
Man hätte es vielleicht etwas sorgfältiger planen und absprechen gönnen.
Ich sage es noch mal: Wir brauchten ein Haus. Am Flughafen kam der Anruf, dass wir ausziehen müssen, also musste ich handeln. Wer das nicht versteht, dem kann ich nicht helfen. Ich würde jederzeit wieder so handeln und bin niemandem eine Rechenschaft schuldig.
Dann gab es noch diesen Vorfall auf der Reise zu eurem ersten Konzert in Amsterdam.
Das war toll, ein großer Spaß.
Das Konzert konntet ihr dann allerdings nicht mehr spielen.
Nee, das ging dann nicht mehr. Aber ich hatte wirklich sehr großen Spaß.
Weniger lustig war es vermutlich für die Fans, die vor der Halle gewartet hatten …
Die kriegen ja ihr Geld zurück. Also alles kein Problem. Das ist Rock’n’Roll, oder? So läuft das eben bei uns. Wäre es anders, wären wir genau so eine beschissen langweilige Band wie all die anderen.
Wäre angesichts der gegenwärtigen Situation bei Oasis ein zweites Barcelona denkbar? (Noel war 2000 von einer laufenden Tournee zurückgetreten, nachdem Liam Noels Vaterschaft an dessen Tochter Anais infrage gestellt hatte)
Völlig ausgeschlossen, so etwas wird nie wieder passieren.
Was müsste passieren, dass ihr sagt: Wir hatten eine gute Zeit, aber jetzt ist Schluss?
Nichts hält ewig. Aber solange wir gut in Form sind und so toll aussehen wie jetzt … Warum sollten wir nicht weitermachen? Ich bin erst 36. Zurzeit fühlt es sich jedenfalls so an, als könnte es ewig weitergehen. Wir sind verdammt gut darin, Oasis zu sein.
Was bedeutet das – Oasis zu sein?
Alles, die Band ist mein Leben. Tolle Konzerte, tolle Fans – ich könnte mir nichts Besseres vorstellen. Der Tag, an dem wir uns auflösen, wird ein trauriger Tag sein. Immer, wenn entsprechende Gerüchte auftauchen, ist die Hölle los. Wir kriegen Morddrohungen, mein Freund. Da rufen irgendwelche finsteren Gestalten an.
Redakteur Torsten Groß arbeitet seit 2008 beim ROLLING STONE. Die Karriere von Oasis hat er zunächst aus der Distanz verfolgt. Als das Debüt erschien, war Groß noch im Grunge-Fieber. Später holte er aber schnell auf, führte mehrere Interviews mit Noel Gallagher und entwickelte eine ausgeprägte Oasis-Leidenschaft. Lieblingssong: „Don’t Look Back In Anger“.
Die Story zur Story
Ausführlich hat der ROLLING STONE die Karriere von Oasis begleitet. Die Interviews für unser 16-Seiten-Special über die britische Band wurden im November 2008 geführt. Oasis waren in Köln, wo sie ein Konzert vor wenigen Hundert Besuchern spielten. Beim Fototermin war Noel Gallagher so gut gelaunt, dass er mit einer Gewohnheit brach: Der Musiker signierte die unautorisierte Oasis-Biografie seines einstigen Freundes Paolo Hewitt. „Alles gelogen, außer meiner Widmung“, so Gallagher.