Der springende Scheitel
Keiner weiß so richtig, was Emocore eigentlich ist - nur darauf, dass die Teen-Emo-Bands es nicht sind, können die Experten sich einigen
Die ganz Schlauen gehen der Frage, was Emo eigentlich bedeutet, mit leichter Geste aus dem Weg: Musik sei halt Musik. Stimmt nicht. Denn wenn schon kein Mensch auf der Welt erklären kann, was Emo ist – wieso gibt es dann jedes Mal ein solches Theater, wenn eine Band als Emo bezeichnet wird, die mit Emo angeblich nichts zu tun hat? Weil der Begriff für die einen ein Heiligtum ist. Und für die anderen ein Schimpfwort. Da muss sich der argentinische Tango weit strecken, um solche Checker-Debatten auszulösen.
„Das Stereotyp ist doch: Jungs, die schwach und beziehungsunfähig sind und darüber schreiben, wie traurig sie sind“, behauptet Ryan Ross, Gitarrist von Panic! At The Disco, in einem „NME“-Interview, in dem die Band das Emo-Etikett empört von sich weist, „wenn man unsere Songs hört, müsste man doch merken, dass wir nie solche Sachen singen.“ Es sind aber vor allem die Emo-affinen Hörer, die angeblich traurigen Jungs also, die die Bands der neuen Teen-Punk-Welle auf keinen Fall im sprichwörtlichen Club haben wollen – weil die plakative. MTV-freundliche Optik, die zum Radio-Poppigen tendierende Musik und die extrovertierte Vermarktung einigen typischen Emo-Erkennungszeichen mehr widersprechen als die besagten Songtexte. Schon sind wir mittendrin.
Erstaunlich wenig Streit gibt es um die Frage, wer die erste Emo-Band war: Rites Of Spring aus Washington, D.C., die 1984/85 anderthalb Jahre lang existierten und laut Michael Azerrads US-Punk-Standardwerk „Our Band Could Be Your Life“ nur 14 Auftritte spielten. Überliefert ist ein einziges, großartiges Album, das sich für heutige Gewohnheiten allerdings kein bisschen nach Emo anhört, sondern nach kaum gefiltertem Hardcore-Punk. Der Unterschied fiel den geknüppelten Konzertbesuchern in Washington wahrscheinlich deutlicher auf: Rites Of Spring-Sänger Guy Picciotto trug die Songs mit einem melodramatischen Gestus vor, den man von den rotköpfigen Bellern anderer Hardcore-Bands nicht kannte. Dass die Texte mehr Innenschau als Gesellschaftskritik waren – obwohl Picciotto so den Politikbegriff bewusst erweitern wollte -, tat ein Übriges: Fanzines prägten den Terminus „emotional hardcore“, Emocore. Auf „zen Arcade“. die schon im Sommer 1984 veröffentlichte Doppel-LP von Hüsker Du. hätte das auch zugetroffen. Aber keiner hatte es so genannt.
Zuhören genügt auch nicht – man braucht ein sehr feines Gefühl für die Traditionsstränge des amerikanischen Post-Punk, um den Emo-Begriff richtig anzuwenden, lan MacKayes Fugazi gehören dazu, schon weil sie aus dem Rites Of Spring-Projekt hervorgingen, Nirvana dagegen nicht, weil sie eben mehr von Heavy Metal beeinflusst waren als vom D.C.-Hardcore.
In volle Blüte kam das Genre erst Mitte der 90er Jahre. Rückblickend wurde „Diary“, das 1994-er Debütalbum von Sunny Day Real Estate aus Seattle, zur Geburtszelle der quasi zweiten Emo-Inkarnation erklärt – einem viel stärker von Pop-Wohlklang, moderatem Tempo und textlicher Introspektion geprägten Gitarrenrock, der vom alten Hardcore-Punk aber noch die komplexen Strukturen, die gelegentlichen Lärm-Ausbrüche und die grundsätzlichen Zweifel an den Institutionen des Musik-Business hatte.
Ein Grund dafür, dass sich die Emo-Sache heute so schrecklich kompliziert anhört: Das Genre hat tatsächlich keine richtigen Stars produziert, die jedem als Paradigma einleuchten würden. Zumindest in den USA haben Jimmy Eat World und Dashboard Confessional zwar Platten verkauft, sie waren am Ende aber umstrittene Fälle unter Experten. Mineral.Texas Is The Reason, The Promise Ring, die Get Up Kids oder The Van Pelt wurden und werden vor allem von Kennern verehrt, die feine Unterschiede zwischen verschiedenen Emo-Spielarten erkennen können und in Läden einkaufen, wo Trail Of Dead schon lange unter „Pop“ stehen.
Auch der inoffizielle Look mit Scheitelhaar, Piercing und Röhrenhose ließ sich kommerziell kaum ausschlachten, hat aber doch so viele Überschneidungen zum Britpop-Chic, dass man in Jeans-Anzeigen Einiges wiederzuerkennen glaubt. Oft wird „Emo-Kid“ heute als allgemeines Synonym für sonnenscheue Indie-Nerds verwendet. Nur so ist der Begriff zum Feind- und Satirebild geworden.
Sind My Chemical Romance, Panic! At The Disco und Fall Out Boy denn nun Emo? Streng genommen nein. Aber auch Rites Of Spring hätten sich wohl totgelacht, wenn sie Jimmy Eat World gehört hätten – und man muss es den besagten Bands zugute halten, dass sie weder ihre Emo-Vorbilder kopieren noch einen Indie-Spirit vortäuschen, den sie nicht haben. Die Idee, authentisch gefälschten Emocore ans große Publikum zu verkaufen, würde einem ohnehin jeder A&R um die Ohren hauen. Ein Drum’n’Bass-Revival? Schon besser.