DER SOUND DER REVOLTE
Kalter Wind treibt den Schnee über das Katzenkopfpflaster des Kiewer Zentrums, in der Luft liegt der Geruch von brennendem Holz. Aus den Ölfässern, an denen sich die Menschen des Maidans wärmen, zieht dunkler Rauch über den zentralen Platz der ukrainischen Hauptstadt. Die Menschen des Maidans sind bärtige Arbeiter aus der westlichen Ukraine, es sind kahl geschorene Nationalisten in schwarzen Lederjacken, es sind ältere Frauen mit Kopftüchern, es sind Kiewer Studenten, Journalisten, Künstler und Musiker. Und es ist Ruslana.
Mitternacht, ein weiterer Tag der seit Wochen andauernden Massenproteste geht zu Ende. Ruslanas heisere Altstimme schallt von den Wänden des Kiewer Stadtzentrums, hinweg über die haushohen Barrikaden aus Schnee, Holzpaletten und Autoreifen, die den Platz vor Polizeiattacken beschützen sollen. „Schtsche ne wmerla Ukrajiny i slawa, i wolja“, singt Ruslana, wie auch in den vergangenen Kiewer Nächten. „Noch sind Ruhm und Freiheit der Ukraine nicht gestorben.“ Es sind die ersten Worte der ukrainischen Nationalhymne, die sie mit einem Vibrato intoniert, wie man es sonst von den Eröffnungen der Super Bowls aus den Kehlen amerikanischer Souldiven kennt. Die junge Frau trägt einen weißen Rollkragenpulli und steckt in schweren Lederboots, während des Liedes leuchtet sie mit einer Taschenlampe in den Himmel, als wolle sie ein Notsignal ins Universum senden. Die Menschen des Maidans helfen ihr, Tausende von Stimmen bündeln sich zu einer einzigen, und die Blitzlichter der vielen Handys funkeln über den nachtschwarzen Platz. „Slawa Ukraine“ – Ruhm der Ukraine -, ruft Ruslana am Ende der Nationalhymne kämpferisch über den Maidan. „Gerojam Slawa“ – den Helden Ruhm -, antworten die Menschen ihr im Chor.
Ruslana heißt mit Nachnamen Lyschytschko, man kennt sie -nicht nur hier. Ruslana ist die Lena Meyer-Landrut der Ukraine: Im Jahr 2004 hat die dunkelhaarige Sängerin im Shakira-Lumpen-Dress mit wilden Hüfttänzen und dem Schlachtruf „Schiggidiggidai“ den Eurovision Song Contest gewonnen und nach Kiew geholt. Nun ist sie zum Symbol des Aufstands der Ukrainer gegen ihren autoritären Präsidenten Viktor Janukowitsch geworden. Seit Mitte November hält dieser Aufstand -eine Mischung aus Russischer Oktoberrevolution und Woodstock – die Ukraine, und zeitweise auch Europa und Russland, in Atem. Die Ansprachen der Oppositionspolitiker sind die einzigen Unterbrechungen bei diesem mehrwöchigen Musikfestival auf dem Maidan, bei dem alle Bands, die im Land Rang und Namen haben, dem Protest ihre Stimme geben. Pop und Revolution, in diesem ukrainischen Winter kommt beides erstmals zusammen.
Die Gründe für die Proteste sind vielfältig: Zunächst gab es da den Frust über die unter Janukowitsch ausufernde Korruption, von der sein enges Umfeld unmittelbar profitiert: So konnte etwa sein ältester Sohn Alexander aus dem Nichts ein Vermögen von einer halben Milliarde Dollar anhäufen. Wesentlich beängstigender ist nun allerdings die Befürchtung, der Präsident könnte das Land enger an Russland binden -und damit von Europa entfernen. Dagegen wehrt sich insbesondere der Westen des Landes, der mal zu Polen, mal zu Ungarn-Österreich gehörte. Ukrainischer Nationalismus und antirussische Ressentiments bestimmen dort die Identität der Menschen. Die Weigerung des Präsidenten, Mitte November das Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterschreiben, war vor diesem Hintergrund der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Ruslana hat die Bühne inzwischen den Poprockern von Antitila überlassen, und bahnt sich mühsam einen Weg durch die Menge. Jeder hier will ein Foto mit ihr, selbst die rauesten Veteranen des Afghanistankrieges verneigen sich vor dem „Schiggidiggidai“-Popstar. Ermutigend legt die nun 40-Jährige den Menschen ihre schwarzledern behandschuhte Hand auf die Schulter, bevor sie weitergeht. Diese Frau wirkt entschlossen, auch nach mehreren Wochen Protest. „Hört endlich auf, aus den Menschen Helden zu machen“, erklärt sie mit heiserer Stimme, als wir in einem abgeschirmten Zelt zur Ruhe kommen, „es ist ganz normal, was wir hier tun.“ Energisch fährt sie sich mit der Hand durch ihre pechschwarze Mähne. „Wir kämpfen hier für unsere Zukunft.“
Ruslana möchte also partout keine Heldin sein. Doch mit dem, was sie gerade tut, hat sie gute Chancen, in die Geschichte ihres Landes einzugehen. Ins Notizbuch zeichnet sie die Route, auf der sie am dritten Tag der Proteste von Universität zu Universität zog, und die Studenten (denen das Demonstrieren verboten worden war) zu einem Protestzug aus 25.000 Menschen formierte, mit dem sie bis auf den Maidan zog. Seitdem hat sie jede Nacht hier verbracht, bei zweistelligen Minustemperaturen, trotz Nasennebenhöhlenentzündung. Mit ihrem Auto hat sie die Verletzten ins Krankenhaus gefahren, nachdem die ukrainische Riot Police „Berkut“ mit Schlagstöcken auf die Demonstranten eingeprügelt hatte. Dem Maidan zuliebe lässt sie Dutzende Konzerte ausfallen, auch eine kleine Auslandstournee hat sie abgesagt. Das hat sich herumgesprochen, und dem ehemaligen Popstar wird nun eine andere Art von Respekt entgegengebracht als bisher.
Ein paar Hundert Meter vom Maidan entfernt sitzt der Geburtshelfer der Proteste, der Journalist Mustafa Nayyem, im Foyer des sowjetisch anmutenden Hotels „Kiew“ und hustet schwer und heiser. Seine Bronchitis ist das Ergebnis von mehreren Wochen Dauerdemo in der ukrainischen Kälte. Auf der anderen Straßenseite wurden gerade einige Tausend Menschen hinter einem Zaun eingepfercht, sie wurden herangekarrt, um für den amtierenden Präsidenten Janukowitsch zu demonstrieren. Auf einer Großleinwand werden ihnen Videos vorgeführt, die zeigen sollen, wie brutal die Maidan-Demonstranten gegen die Polizei vorgehen. Unterlegt sind die Bilder von dramatisch pulsierender Musik, wie man sie aus den finalen zwanzig Minuten der „Star Wars“-Filme kennt. Die Kraft der Musik, auch auf der anderen Seite weiß man sie einzusetzen.
Am Abend des 21. November hatte Präsident Janukowitsch bekannt gegeben, dass es kein Abkommen mit der EU geben werde. Es war jener Abend, an dem Nayyem, 31 Jahre alt, die Proteste ins Rollen brachte. Auf Facebook schrieb Nayyem damals: „Wer ist bereit, heute bis Mitternacht auf den Maidan zu kommen? Likes werden nicht gezählt. Nur Kommentare mit den Worten:’Ich bin bereit.‘ Wenn es mehr als 1.000 sind, fangen wir mit der Organisation an.“
Ein paar Hundert antworteten sofort: „Ich bin bereit“, 531-mal wurde sein Status geteilt. Wenig später stand Nayyem auf dem Maidan, mit Hunderten anderen Studenten, Journalisten und Künstlern, über ihnen wehten einige Fahnen der EU und der Ukraine. Auch die Oppositionsführer kamen an diesem Abend, hatten aber noch nichts zu sagen. „Ich dachte, da kommen 200 Leute, wir trinken ein Bier und gehen dann wieder nach Hause“, sagt Nayyem heute. Dass nach wenigen Tagen Hunderttausende Menschen in der Kiewer Innenstadt stehen würden, dass die Polizei versuchen würde, den Protest niederzuknüppeln, dass der Maidan sich in eine durch Barrikaden geschützte Festung verwandeln würde -ja, dass aus diesem Facebook-Post die größte Demonstration in der ukrainischen Geschichte werden könnte, das hätte Nayyem natürlich nie gedacht. Auch wenn er kein Unbekannter war: Der Sohn afghanischer Einwanderer gehört zu den profiliertesten Journalisten seines Landes, war Co-Moderator einer wichtigen Talkshow und ein paar Tage vor Beginn der Proteste ist ein von ihm gegründeter, unabhängiger Online-Fernsehkanal auf Sendung gegangen.
Seit November ist Nayyem nun praktisch ununterbrochen auf Sendung, filmt mit dem Tablet-PC auf den Demos, interviewt, diskutiert im Studio, seine Facebook-Posts werden von Tausenden Menschen gelesen, geteilt und kommentiert. Trotz seines Kampfeswillens ist Nayyem manchmal auch frustriert über die Entwicklung auf dem Maidan. „Der Anfang der Proteste war rein emotional. Aber nach ein paar Tagen haben die Politiker das Ruder übernommen.“ Genau da sieht er ein Problem: „Eigentlich gibt es zwei Maidane: den der Bürger und den politischen. Die Politiker stecken ihr Geld hinein. Aber die Bürger wollen nicht Teil der Politik sein.“ Vitali Klitschko und auch die anderen Oppositionellen haben den Maidan für sich vereinnahmt. Deshalb wehen nun auf dem ganzen Platz die Flaggen der jeweiligen Parteien, ein alles überstrahlendes Porträt der inhaftierten Julia Timoschenko prangt an einem Gerüst in der Mitte. Das geschehe alles entgegen der ursprünglichen Abmachungen, sagt Mustafa.
Dass Politiker auf dem inzwischen weltweit bekannten Platz in diesen Tagen als ein Übel -im besten Falle ein notwendiges -wahrgenommen werden, hat mit der großen Frustration nach der Orangenen Revolution von 2004 zu tun. Die Sängerin Ruslana zeigte schon damals politisches Engagement und forderte Neuwahlen, nach einer erzwungenen Wahl-Wiederholung wurde schließlich Viktor Juschtschenko Präsident der Ukraine. Und die Revolution endete in Schlammschlachten zwischen Juschtschenko und der nicht weniger machthungrigen Julia Timoschenko. Wer im Winter 2004 das Gefühl gehabt hatte, auf der Seite der Guten zu frieren, konnte sich danach nur noch mit Grausen von der Politik abwenden.
Damals wagte Ruslana sogar einen Ausflug in die Rada, das von Geldund Machthungrigen bevölkerte ukrainische Parlament, in dem es auch gerne mal zu Faustkämpfen kommt, was deutsche Fernsehzuschauer dann kurz vor dem Wetter in der „Tagesschau“ serviert bekommen. Der damalige Präsident Juschtschenko habe sie da reingezogen, sagt Ruslana heute im Zelt auf dem Maidan: „Heute hasse ich die Politik und bedauere alle, die da mitmachen.“ Damals brachte sie ein Gesetzesvorhaben zu regenerativer Energie ein, merkte aber schnell, dass so etwas keinen interessiert. Dann setzte sie sich Kopfhörer auf. Statt Parlamentsreden hörte sie fortan „Kashmir“ von Led Zeppelin. Auf Dauerschleife. Dann verließ sie den Laden wieder.
Auch Swjatoslaw Wakartschuk hat es in der Rada kein Jahr ausgehalten: Der 38-Jährige ist ein eher zarter Typ Mann vom Schlage eines Chris Martin, Sänger der Band Coldplay. Wakartschuk ist der unangefochtene Superstar der ukrainischen Rockmusik -die emotionalen Rockballaden seiner Band Okean Elzy können Menschen von Kiew bis Wladiwostok mitsingen, egal ob sie Ukrainisch sprechen oder nicht. An einem späten Samstagabend sitzt die Band mit kalten Händen und roten Nasen in einem französischen Café, wenige Meter vom Maidan entfernt. „Budmo!“ – Prost! Sie trinken ein Gläschen Wodka auf den Triumph. Vor ein paar Minuten ist das größte Konzert ihrer Karriere zu Ende gegangen – sie spielten vor geschätzten einhundertfünfzigtausend Menschen. Für das Ereignis hat Wakartschuk die Originalbesetzung der Band noch einmal zusammengetrommelt, die seit zehn Jahren nicht gemeinsam gespielt hat. „Wir wollten ein Zeichen setzen: Jetzt müssen wir zusammenhalten!“
Wenn Wakartschuk erzählt, dann klingt er manchmal wie ein Kind, das an das Gute geglaubt hat und betrogen wurde. Wie jemand, der sich bemüht, einen Trennungsstrich zwischen 2004 und dem Jahr 2013 zu ziehen. „This Maidan is inspired by people. Das hier ist keine politische Demo“, sagt Wakartschuk und schiebt aufgeregt hinterher:“That’s the fucking difference!“ Damals seien die Leute hinter den Politikern hergelaufen. „Aber heute laufen die Politiker hinter den Menschen her“, erklärt der Sänger, „und egal wie das hier ausgeht: Sie werden auf die Menschen hören müssen.“ Die Gemütslage am Tisch ist wütend bis trotzig an diesem Abend. Es darf nicht sein, so hört man heraus, dass die Politiker den ehrlichen Protest der Menschen noch einmal für sich benutzen. Dabei sind sie es doch, die Demonstranten, die hier und jetzt den Lauf der Dinge verändern könnten.
Die Proteste auf dem Maidan, sie hören auch in den Nächten nicht auf. Mit einem Tamburin bewaffnet zieht etwa Ruslana Khazipova in einer grünen Skihose um drei Uhr nachts im Schneetreiben durch das besetzte Zentrum der Hauptstadt. Ihre Mitstreiter spielen Flöten, Trommeln und was sie sonst noch beim Aufbruch greifen konnten. Erster Halt ist an der Barrikade oberhalb des Rathauses: Grimmige Männer mit dicken Schnauzbärten halten hier Wache. Sie blicken eher missmutig als belustigt auf, als die kleine Trommelgruppe mit einem Freestyle-Samba loslegt.
Ruslana (ein übrigens gängiger Vorname in der Ukraine) sieht mit ihrer Nerdbrille und der Pilzfrisur aus wie ein Berliner Mitte-Hipster. Vor wenigen Tagen war sie mit Kopftuch und einem Huzulenmantel aus Schafsfell auf der großen Bühne des Maidan zu sehen. Rittlings saß sie auf einer großen Trommel und schlug den monotonen Rhythmus zu dem wütenden Sprechgesang einer alten Frau, die sich über ihr verwirktes Leben beklagt.“Wann, wenn nicht jetzt?
Wer, wenn nicht wir“, schrie sie am Ende auf den Maidan hinaus, und schwang den Trommelschlägel, als rufe sie zur Attacke.
Ruslana Khazipova ist die inoffizielle Frontfrau der Dakh Daughters, einer wilden Frauenformation, die vor gut einem Jahr dem Kiewer Avantgarde-Theater „Dakh“ entsprungen ist. Die Dakh Daughters und andere Mitglieder der Kiewer Theater-und Kunstbohème treffen sich in diesen Tagen allnächtlich in einer Underground-Galerie im Keller eines Wohnhauses. Bei Whiskey und Grasschwaden wird hier heftig diskutiert darüber, ob der Maidan zu einem Zerbrechen der Ukraine in einen russisch-und einen ukrainischsprachigen Teil führen wird. Eine nicht unbedeutende Frage für alle hier -denn zu welchem Teil würde dann Kiew gehören? Aus dem Nachbarzimmer hört man ein E-Piano, es sind die Bruchstücke eines Rapsongs mit dem Refrain „Pereworót“ – das heißt Umsturz -ein schwarzer Jazzpianist mit Dreadlocks jammt versonnen vor sich hin.
Ruslana Khazipova ist -wenn sie nicht gerade auf Trommeln sitzt und Revolutionslosungen in die Welt schreit -im wahren Leben Schauspielerin und eine eher zurückhaltende junge Frau. Die Orangene Revolution, erzählt sie, war so etwas wie ihre künstlerisch-politische Geburtsstunde, damals war sie 17 Jahre alt. „Ich habe gelernt, wie man die Menschen mitreißt“, sagt sie. Der Theaterquerulant Wladislaw Troizkij hatte damals die „Art-Front“ formiert, ein Künstlerkollektiv, das mit einer Autokolonne durch die Ukraine fuhr und mit Happenings um Unterstützung für die Ziele der Orangenen Revolution warb. „Damals, das war das kollektive Unbewusste, und heute ist es das kollektive Bewusste“, sagt Ruslana Khazipova. Und wohin führt diese Entwicklung? Auf diese Frage kann die junge Schauspielerin nur lachend und etwas hilflos antworten: „Alles wird gut, egal was sein wird.“
Ruslana weiß nur zu gut, dass es noch ein Land und Leben außerhalb des Kiewer Kunstkellers gibt. Sie stammt aus der Bergarbeiterstadt Kriwoj Rog, einer Art ukrainischem Gelsenkirchen, in dem das Leben der Menschen kontrolliert wird vom allmächtigen Oligarchen Rinat Achmetow.
„Die Menschen dort benehmen sich wie Zombies“, sagt Ruslana. „Achmetow hält sie mit Stabilitätsversprechen bei der Stange, menschliche und moralische Werte, so scheint es, sind ihnen egal geworden.“ Gerade solche Arbeiterregionen, deren Wohl und Weh von der Schwerindustrie abhängt, geben Präsident Janukowitsch den Rückhalt, den er für seinen Machterhalt braucht. Ruslana gibt sich angesichts der tristen Wirklichkeit gerne Träumen hin, und sieht die Ukraine der Zukunft als eine autonome Kulturrepublik, ganz ohne Kohle und Schwerindustrie.
An den Barrikaden des Maidans kommen sich Ruslanas Welt und die Welt der bärtigen Arbeiter so nah wie nie. Der Protest gegen Janukowitsch vereint sehr verschiedene Menschen. „Slawa Ukraine“, Ruhm der Ukraine, ruft der Anführer von Ruslanas Trommelgruppe nach dem Ende des Unterstützungssambas. Die schnurrbärtigen Männer heben die Arbeiterfaust und antworten: „Gerojam Slawa“, den Helden Ruhm. Dieser Spruch, eine Losung der ukrainischen Nationalisten aus dem Zweiten Weltkrieg und bis zuletzt Hymne nationalistischer ukrainischer Fußballfans, ist nun der gemeinsame Nenner des Maidans. Eigentlich kaum zu fassen. Es ist, als würden Künstler aus St. Pauli zusammen mit Ostberliner Atzen „Schlaaaaaaand, Schlaaaaaaand“ singend über die Münchner Maximilianstraße ziehen.
Denn es gibt auch noch ganz andere Demonstranten hier auf dem Maidan: Hardcore-Nationalisten, die von allem anderen träumen als einer autonomen Kulturrepublik, die stets Gewehr bei Fuß stehen, wenn in Kiew mal wieder ein paar Schwule auf die Idee kommen, eine Parade abzuhalten. Ihr ewiger Hass richtet sich auf die Sowjetunion und Russland, ihre Liebe gilt Stepan Bandera, einem ukrainischen Nationalisten, der im Zweiten Weltkrieg unter dem Schutz der Nazis einen unabhängigen Staat gründen wollte, und dessen Einheiten im Westen des Landes Massaker an Kommunisten und Juden verübten.
Einer von ihnen ist der 25-jährige Orest aus Lwiw/Lemberg, der seit Anfang Dezember zusammen mit seinen jüngeren Anhängern im besetzten Rathaus kampiert. Auf seiner Glatze prangt eine frische Schramme von der letzten Schlacht mit der Polizei, auf seinem Kapuzenpulli ein Eisernes Kreuz. Hinten im Raum, auf einer schwarzen Fahne an der Wand steht: „Freiheit für die Ukraine oder Tod“. Seine Leute sind gewaltbereit, daran lässt Orest, der Geschichte studiert hat und nun als Immobilienmakler arbeitet, keinen Zweifel. „Wenn wir den Maidan verlieren, dann bekommen wir hier ein zweites Weißrussland.“ Bei ihm geht es also um alles oder nichts. Nach Europa will er – aber es ist bloß Mittel zum Zweck, um sich von Russland zu emanzipieren. Denn die „radikale Toleranz“ der europäischen Gesellschaften, „die sich von religiösen, sexuellen und nationalen Minderheiten ihre Bedingungen diktieren“ ließen, findet Orest zum Kotzen. Ruhm der Ukraine, den Helden Ruhm.
Es ist mittlerweile sieben Uhr morgens auf dem Maidan, Ruslana Lyschytschkos Nachtschicht auf der Bühne geht langsam zu Ende. Sie hat zu Volksliedern getanzt, hat Nachrichten von Demonstranten aus anderen Landesteilen vorgelesen, den Menschen Mut gemacht, und zu jeder vollen Stunde die Nationalhymne angestimmt. Jetzt hebt sie zum letzten Mal an: „Schtsche ne wmerla Ukrajiny i slawa, i wolja“. Einige Hundert Studenten stehen noch vor der Bühne und stimmen mit ein.
Die Musik ist der Motor der Proteste. Es wirkt, als stehe der Maidan am Ende für eine politisierte Popkultur, die mehr will als nur gefallen und unterhalten. Das gab es weder auf dem Tahrir in Kairo noch auf dem Bolotnaja-Platz in Moskau. „Wir haben nie im Leben Lieder geschrieben, die politische Losungen enthalten“, sagte Okean-Elzy-Sänger Swjatoslaw Wakartschuk zuvor in dem französischen Café, „aber ganz ohne unser Zutun werden viele Lieder jetzt politisch.“ Textzeilen wie „Vor dem Fenster ist beinahe Frühling/er verändert mein Leben und meine Zukunft“ gehören dazu, sie verursachen kollektive Gänsehaut, gesungen auf dem nächtlichen Maidan vor hundertfünfzigtausend Menschen. Das Lied „Steh auf“ ist zu einer Art Pophymne des Protests geworden, ein oppositioneller TV-Sender bastelte nach der ersten Nacht einen Musikclip zu dem Song und rief die Ukrainer damit auf den Maidan.
„Ich wurde von manchen Politikern sogar beschimpft“, erzählt Ruslana Lyschytschko. „Du machst die Revolution zur Disko, haben sie gesagt.“ Wir wären ohne Musik und Tanzen doch gestorben vor Kälte, habe sie ihnen geantwortet. Ruslana ist überzeugt: „Musik kann Panzer aufhalten.“ Das klingt nach naiver Hoffnung. Weder Ruslanas wilde Tänze, Wakartschuks Poesie noch der Rhythmus der Dakh Daughters konnte die Polizisten bisher aufhalten. Zweimal wurde der Maidan schon mit Gewalt geräumt.
Heute Morgen aber ist es still. Müde Männer stellen Teekessel auf die Holzfeuer und heizen noch einmal an. Die Wächter mit den orangefarbenenen Bauhelmen überprüfen die Standfestigkeit der Barrikaden, die Frauen in den besetzten Häusern rund um den Maidan beginnen wieder damit, Tausende und Abertausende Brote mit Wurst und Speck zu belegen.
Ein paar Dutzend Meter unter den Füßen der Menschen gehen im Shoppingcenter „Globus“ auf fünfunddreißigtausend Quadratmetern die Neonlichter an – so weit weg vom Revolutionssetting oben drüber, von dieser sehr eigenen Mischung aus Mittelaltermarkt und Woodstock. Es gibt dieser Tage auch ein normales Leben in der Ukraine, in dem die Menschen zur Arbeit gehen, einkaufen, heiraten und sich scheiden lassen.
Und es gibt den Maidan. Tag und Nacht, über Wochen und Monate stehen hier Menschen Hand in Hand, über politische Grenzen hinweg. 800.000 sind es an den Weihnachtstagen.
Irgendwo in dieser Stadt wird an diesem Morgen auch Präsident Viktor Janukowitsch erwachen und sich fragen, wie er diesen Kopfschmerz wieder loswerden kann, den ihm der berühmte Platz im Zentrum seiner Hauptstadt beschert. Er wird bessere Gaspreise in Moskau aushandeln, einen Milliardenkredit bekommen, er wird ein paar Demonstranten aus dem Gefängnis entlassen, er wird das Demonstrationsrecht einschränken, aber seine Rhetorik abrüsten, er wird zum friedlichen Dialog aufrufen. Aber er wird nicht verstehen, dass die beiden Ruslanas, dass Mustafa, Swjatoslaw und auch der Nationalist Orest keine Menschen sind, die sich mit russischen Milliardenkrediten kaufen lassen.
Ruslana, müde von ihren wilden Tänzen, steigt von der Bühne, zieht ihren Mantel zu und läuft durch ein Spalier von Demonstranten zu ihrem Auto. Sie will nach Hause, ein bisschen schlafen vor der nächsten Nachtschicht. „Die Zeit“, sagt sie, „verliert ihre Bedeutung. Und eins ist klar: Wir werden siegen.“
Ein paar Tage später verbietet ein Gericht in Kiew die Massendemonstrationen auf dem Maidan. Insbesondere Lautsprecher und Musikanlagen sollen verschwinden. Und mit ihnen der Sound der Revolution.