„Der Soldat James Ryan“: Wie Krieg
Veteranen verließen weinend die Kinosäle, später verurteilten Kritiker das „Effektspektakel“. Mit „Der Soldat James Ryan“ drehte Steven Spielberg 1998 einen der bis heute meistdiskutierten Kriegsfilme.
1998 gab es noch keine sozialen Medien, Nachrichten verbreiteten sich viel langsamer, aber die Neuigkeiten zu Steven Spielbergs Werk lasen sich erschütternd. Kriegsveteranen weinten, verließen die Kinosäle. Filmstatisten, deutsche, britische und amerikanische, mussten die Dreharbeiten vorzeitig beenden. Sie fühlten sich an ihre Erfahrungen in der Normandie und am D-Day in Omaha Beach erinnert. Das amerikanische „Department of Veteran Affairs“ richtete eine Notfallnummer ein, für Ex-Soldaten, bei denen alte Wunden aufrissen.
Andere Veteranen gratulierten Spielberg. Hauptdarsteller Tom Hanks wurde später in die „Army’s Ranger Hall Of Fame“ der US-Armee aufgenommen, obwohl dessen Captain Miller eine fiktive Figur war, und er nicht mehr als ein Schauspieler.
Heute weiß jeder, was mit der saloppen Formulierung der „ersten 25 Minuten von Private Ryan“ gemeint ist. Sie ist im Sprachgebrauch angekommen, man spricht staunend oder aufgebracht über diese Erfahrung von Krieg, die, selbst nicht erlebt, irgendwie im Kinosessel versucht wurde nachzuempfinden. Der Beginn zeigt die Schiffslandung des US-Korps im französischen Küstenabschnitt am 6. Juni 1944 und den Durchbruch der deutschen „Verteidigungsstellungen“. Der Sieg gelang zwar nicht innerhalb von 25 Minuten, wie im Film. Die Alliierten benötigten mehr als einen Tag. Aber dies waren die Szenen, die ehemalige Soldaten erschütterten, und von über die jüngere Zuschauer urteilten, dass sie solche Töne und Bilder noch nie gehört und gesehen hätten.
Spielberg reduzierte die Farbsättigung um sechzig Prozent, was dem Bild einen gräulich bis erdig ausgewaschenen, Schützengraben-artigen Ton verlieh. Für die Schussgeräusche verwendete er überwiegend originale Waffen aus dem Zweiten Weltkrieg. Kameramann Janusz Kaminski schuf eine als neuartig bezeichnete Optik. Er veränderte den Verschluss von 180 auf 90 Prozent: Der Film erschien nun, kürzer dem Licht ausgesetzt, schärfer. In aufgeschleuderten Erdbrocken waren einzelne Körner sichtbar, Kamerabewegungen wurden bei Explosionen mit einem so genannten „Image Shaker“ potenziert. Was das Team vor 20 Jahren kreierte, wurde Vorbild für die Technikabteilungen Hollywoods. Und doch bis heute nicht mehr übertrumpft.
Mörder und Opfer vereint
Es kann nicht überschätzt werden, dass der am schwersten zu ertragende Moment kein Effektspektakel war, sondern jener Messerkampf zwischen einem Amerikaner und einem Deutschen, der aus einem tödlichen Stich ins Herz eine fast schon intime, langsame Überwältigung macht. Am Schuss flüstert der Sieger dem Verlierer schlummernde Worte zu, begleitet mit einem „Schhh“: „Lass es uns beenden. Es ist einfacher für dich, viel einfacher.“
Der Deutsche tröstet ihn nicht nur, bevor er ihn erdolcht, damit er obsiegt, sondern auch während des Stichs. Es wirkt wie ein pervertiertes Zusammenspiel, gegen die Mächte, die den Soldaten diese Feindschaft eingebrockt hatten. Wer die Szene gesehen hat, vergisst sie nicht mehr.
Und dennoch mutet die Geschichte von „Der Soldat James Ryan“ etwas zu fantastisch an. Drei Brüder fallen im Krieg, General George C. Marshall beschließt, dass der Familie auf keinen Fall der Verlust eines vierten Sohnes zugemutet werden dürfe (vielleicht befürchtet er auch negative PR). Ein Stoßtrupp, bestehend aus Miller (Hanks) und sieben Spezialisten, macht sich im besetzten Frankreich auf die Suche nach James Ryan (Matt Damon).
Dabei ist die Story einer echten entlehnt, der Fall der „Niland“-Brüder bewegte im Zweiten Weltkrieg Amerika. Drei der vier Söhne galten als gefallen, der letzte sollte hinter feindlichen Linien rausgeholt werden. Schließlich gab es dann doch zwei Überlebende, als einer der vermissten Männer aus der japanischen Kriegsgefangenschaft befreit wurde.
Steven Spielberg erkannte das dramatische Potential in einer Geschichte, die sich um Pflichterfüllung und familiäre Opfer dreht. Genau sein Thema. Und die Zuschauer wurden dank Spielberg vor der Verfilmung durch Michael „Transformers“ Bay verschont, der den Stoff als erster in den Händen gehalten haben soll.
Upham ist wie wir, auch wenn es keiner zugeben will
Es fällt schwer, die unter Stress gefällten Entscheidungen in „Ryan“ zu verstehen. Und das soll auch so sein. Nicht alle der mutigen Acht verinnerlichen das ehrenhafte „Alle für einen“, vielleicht ja zu Recht. Mit jedem Verlust im Rettungstrupp wächst die Wut auf den unbekannten Ryan. Am Ende will der Soldat, endlich aufgespürt, nicht in die Heimat zurück, sondern weiter in Frankreich kämpfen.
Zuletzt ist es ausgerechnet der feinfühlige, um Verständnis des Feindes bemühte Upham (Jeremy Davis), der eine Lektion gelernt hat: Mitgefühl ist Verschwendung. Auch er wird töten. Ausgerechnet Upham, der wegen seiner Ängstlichkeit, gerade wegen seiner Ängstlichkeit, zur größten Identifikationsfigur wurde, auch wenn kein Zuschauer das zugibt. Upham ist einer der wirklichkeitsnahesten Charaktere, die Spielberg je auf die Leinwand brachte.
Der Backlash
Im Netz-Zeitalter vergeht keine Woche, bis auf ein gelobtes Werk ein so genannter Backlash erfolgt, die herbe Kritik. Die Ursache solcher Seeumschwünge ist in fast allen Fällen gleich. Es liegt am Druck, als erster die Echtzeitkritik rauszuhauen. Sofort werden Urteile ins Internet gestellt, hinter denen man kurze Zeit später nicht mehr stehen will – und auch nicht muss, weil sich Meinungen ja umschreiben lassen. Prominentestes Opfer jüngerer Zeit war der „Star Wars“-Comebackstreifen „Das Erwachen der Macht“, der, nachdem man ihn erstmal sacken ließ und Besprechungen verglich, fast schon brutale Neu-Rezensionen nach sich zog.
Auch „Der Soldat James Ryan“ blieb vom Backlash nicht verschont, nur dauerte das 1998 etwas länger. Extrem viele der härtesten Rezensenten müssen selbst im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben, vor allem die, die erst Jahrzehnte später geboren wurden. Oder? Anders ließe sich nicht nachvollziehen, warum sie Spielbergs Film als eine Art Pyro-Show verurteilten, die auf Krach und Farben setzen würde und den Blick in menschliche Innenwelten vermied. Wie Krieg sich anfühlt, schienen diese Spätgeborenen besser zu wissen als jeder einzelne Veteran.
Viele Kritiker fühlten sich auch durch Terrence Malicks wenig später veröffentlichtes „The Thin Red Line“ bestätigt, der den Kampf der Amerikaner im Pazifik fast schon meditativ erzählt. Für den New-Hollywood-Veteranen Malick hätte das Timing jedoch unglücklicher nicht sein können. Der Film würde sein erster seit 20 Jahren sein, nach „In der Glut des Südens“ von 1978 verabschiedete sich der als Ästhet gefeierte Regisseur in die Abgeschiedenheit. Ausgerechnet für das Comeback musste er nun mit Spielberg konkurrieren, der sich demselben Weltkrieg widmete, wenn auch einer anderen Front.
In „The Thin Red Line“ arbeitet Malick, wie in einigen seiner folgenden Werke, mit dem Voice-Over. Viele Regisseure setzen es als Stilmittel ein, wenn Zuschauern etwas erklärt werden muss, was Bilder und Dialoge allein dann doch nicht leisten konnten. Bei Malick war der Sprecher im Off keine Postproduktions-Entscheidung, sondern fundamentales Erzähl-Element. Bis heute wird leidenschaftlich darüber diskutiert, ob dieser Film dem „Ryan“ überlegen ist.
Bei Malick verzweifeln die US-Soldaten auf der Insel Gudalcanal an ihrem Dienst, sie tragen das im inneren Monolog aus. Spielberg zeigt John Millers zitternde Hand. Es ist die einzige Regung, die der Captain, wohl als Zeichen des posttraumatischen Stresses, zulässt, zulassen muss. Die Hand sagt mehr aus, als viele Worte es könnten.
„FUBAR“, die Abkürzung für „Fucked Up Beyond All Recognition“, wird zum Running Gag des „Saving Private Ryan“-Korps. Der echte FUBAR-Moment würde jedoch die Oscar-Verleihung 1999 sein. Zwar gewann Spielberg seinen zweiten Regie-Preis (nach „Schindler’s Liste“), dazu gab es vier weitere Academy Awards in technischen Kategorien, u.a. für Kameramann Janusz Kaminski. Aber den wichtigsten Oscar, den „Besten Film“, bekam „Ryan“ nicht. Erstaunlicherweise auch keiner der beiden anderen, die im Zweiten Weltkrieg angesiedelt waren, Malicks „Thin Red Line“ und Roberto Benignis „Das Leben ist schön“.
Es gilt bis heute als eine der größten Academy-Fehlentscheidungen, dass der „Beste Film“ dann an ein Werk ging, an das mittlerweile keiner mehr zurückdenkt. Oder gerne mehr zurückdenkt. Bei der Bekanntgabe von „Shakespeare In Love“, eine Art Romantic Comedy für Abiturienten, musste selbst Harrison Ford auf der Bühne stutzen.
„Shakespeare“-Produzent Harvey Weinstein hatte mit seiner aggressiven Werbekampagne die Academy-Mitglieder also doch beeinflussen können. Außerdem verwies er vehement auf angebliche „historische Ungenauigkeiten“ im „Soldat James Ryan“.
Am Ende blieb die Zeremonie so in Erinnerung: als die verpatzte Gelegenheit, einen Kriegsfilm zu würdigen, wie es ihn noch nicht gab.