Der Sieg danach
Es war an einem verschneiten Novembermorgen, als ich auf dem Weg zur Arbeit in der U-Bahn diese Schlagzeile las: „Kimi Raikkönen ist Formel-i-Weltmeister.“ Ich stutzte. Dann fiel mir Andie MacDowell ein (ich denke noch oft an sie) und ihr Film mit Bill Murray und dem Murmeltier. Schließlich dachte ich erleichtert: „Puh, der letzte Monat war nur ein schlechter Traum. Wir haben immer noch Mitte Oktober.“ Ich wollte schon die durchgebrannte Ex anrufen, um ihr zu sagen, wie froh ich bin, dass sie noch da ist. Was gibt es Schöneres, als wenn einem Zeit geschenkt und Alpträume genommen werden. Doch es war ein kurzer Moment des Glücks in der Jahresendtristesse.
Denn dann las ich weiter: „26 Tage nach dem letzten Rennen in Sao Paulo ist Kimi Raikkönen endgültig als neuer Formel-i-Weltmeister bestätigt worden.“ Das Herz plumpste mir aus der Brust in meinen 1.FC-Köln-Kaffeebecher. Wieder ein Traum zerplatzt.
Diese Entscheidung sei am „Grünen Tisch“ gefallen, hieß es weiter in dem Artikel. Ein Berufungsgericht habe die Klage des McLaren-Mercedes-Rennstalls gegen das Ergebnis des letzten Rennens nach vierstündiger Verhandlung abgelehnt, und nun sei alles absolut klar: yksi, kaksi, kolme – Kimi, vidi, vici. Der trinkfreudige Finne wird die späte Entscheidung als Aiilass genommen haben, sich noch einmal kräftig einen hinter die Siegerbinde zu kippen.
In der U-Bahn stehend, überkam mich nach dieser Meldung wieder das in diesem Jahr so präsente Gefühl, von Bildern und Worten, die ich mit eigenen Augen gesehen bzw. gelesen oder gehört hatte, betrogen und belogen worden zu sein.
Klar, man weiß spätestens seit dem ersten Irak-Krieg, dass Bilder täuschen (können) — und Clint Eastwood, der bei den diesjährigen Oscars leider nicht abgeräumt hat, zeigte es in „Letters From Iwo-Jima“ und „Flags Of Our Fathers“ ja auch noch mal in aller Deutlichkeit. Life’s how you fak it. Aber lasst uns nicht von Krieg oder Sex reden. Es gab – so dachte man allgemein – noch eine Bastion im modernen Leben, in der das gute alte Auge-um-Auge-Zahn-um-Zahn-Mann-gegen-Mann in Echtzeit, ohne – wie iman früher sagte – Netz und doppelten Boden galt: den Sport. Stimmt natürlich nicht. Manipuliert wurde auch dort schon immer, selbst über die Helden von Bern gibt’s heute Doping-Gerüchte. Aber es gelang den Funktionären und Medien bisher immer, die Illusion aufrecht zu erhalten, der Sport sei der letzte Fluchtpunkt des Authentischen.
Doch jetzt, wo zwischen Ereignis und Ergebnis, zwischen Schweiß und Sieg immer noch ein Gericht eingeschaltet werden muss, stellt sich das natürlich anders da. Und das stürzt die Live-Übertragung – ein Format, dessen Daseinsberechtigung allein in der Direktheit und Authentizität liegt- in eine tiefe Krise: Ist eine Live-Übertragung noch eine Live-Übertragung, wenn sich das Gezeigte im Nachhinein als falsch herausstellt? Welchen Sinn hat eine Siegerehrung, wenn der Sieger noch gar nicht feststeht, weil man erst alle Doping-Proben und Einsprüche abwarten muss?
Floyd Landis zum Beispiel, der Tour-de-France-Gewinner 2006, musste seinen Titel erst nach mehr als einem Jahr, im September 2007, wegen Dopings wieder abgeben. Bis dahin hatte er seine erhöhten Testosteronwerte damit zu erklären versucht, dass er seine Mennonitenseele vor dem Rennen ordentlich mit Alkohol geölt hatte.
Ich bin mir nicht sicher, ob die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten die Übertragung der Tour de France im Juli 2007 wirklich aus Protest gegen die zahlreichen Doping-Affären einstellten. Es ging vermutlich eher um die eigene Ehre als ums Eigenblut. Warum sollten sie auch dem kleinen Gebührenzahler zeigen, wie der Däne Michael Rasmussen zum Sieg radelt, wenn es am Ende nur ein Fake war? Manipulierte Reality-Soap-Formate und Gerichtsshows sind ja tatsächlich eher die Domäne des Privatfernsehens.
Und im Moment, in dem ich dies schreibe, steht der auch der Fußball vor einem Wett- und Manipulationsskandal. Es sieht so aus, als müssten die letzten dreijahre im europäischen Wettbewerb am grünen Tisch noch einmal aufgerollt werden. Was kommt als Nächstes? Vielleicht war das Satiremagazin „Titanic“ schon nah dran, als es titelte: „Wiedervereinigung ungültig- Kohl war gedopt.“ Wollen wir hoffen, dass Vladimir Putin keinen Wind von dieser Meldung bekommt, sonst muss auch die deutsche Geschichte noch einmal nachverhandelt werden.