Der Selbermach-Mann
Wenn man bei Google den Namen Jim Avignon eingibt, bekommt man nach 0,58 Sekunden 506000 Ergebnisse ein Gebirge von Fakten, Interviews, Meldungen und Angeboten. Amazon sagt: „Kunden, die Bücher von Jim Avignon gekauft haben, haben auch Bücher dieser Autoren gekauft“: „Schlank ab 40“ von Dr. Inge Hofmann steht gleich an erster Stelle.
Doch auch in seriösen Artikeln, Interviews und bei Wikipedia finden sich stets die gleichen Klischees: „Der schnellste Maler der Welt“, „der Andy Warhol Berlins“, „live malen im Techno-Club“, „Underground!“ „Cheap Art!“, „catchy Kunst!“. Die biografischen Angaben strotzen vor Fehlern, weil ganz offensichtlich einer vom anderen abschreibt. Die haarsträubendsten Geschichten hat sich der Künstler und Musiker allerdings selbst ausgedacht. Weil es nichts mit Kunst zu tun hat, dass man irgendwann und irgendwo geboren wurde. Ein mit viel anarchischem Spaß praktiziertes System der Selbsterfindung und -definition ließ Künstler und Werk in den letzten 15 Jahren miteinander verschmelzen. Avignon wurde zur unstoppable Do-it-yourself-Maschine, die durch das Hervorbringen von Kunst kommuniziert. Die machen muss, um zu sein.
Unter seinem Musik-Pseudonym Neoangin hat Jim Avignon nun „Scratchbook“ veröffentlicht, sein achtes Album, eine Mischung aus CD und Kunstbuch. Es ist ein sehr persönliches Songwriter-Album geworden, und die Musik des stets ein wenig übermüdet aussehende Neu-New-Yorkers war noch nie so intensiv und gut, „Places In Mind“ klingt gar wie ein waschechter Folk-Song. Das traurige „Finisage“ erinnert an die berührende Melancholie britische Shoegazer-Bands. Und auch „3 More Days Without Sleep“ zeigt, dass das letzte Jahr für Avignon kein leichtes war.
In New York wo dieses Album im September und Oktober 2005 entstand hat ihm niemand einen roten Teppich ausgerollt. Doch damit hatte der Berliner gerechnet, das war ja Teil des Spiels. Was ihn stärker belastete, war die Trennung von seiner langjährigen Lebensgefährtin. „Scratchbook“ ist in erster Linie „ein Trennungsalbum“, sagt Avignon. Das kann schon auch mal so lustig nach „Spike Jones im Technoland“ klingen andere Stücke stecken voller Selbstzweifel. Als wäre die Do-it-yourself-Maschine ins Stocken gekommen. Oder würde nun plötzlich langsamer laufen. „Hello, who are you? Man in the mirror! Your eyes look different today, and I don’t like your voice“, singt Avignon in „Parasites In Paradise“, dem genial überdrehten Höhepunkt des Albums. Die Bilder des Booklets sind Skizzen, Zeichnungen und Entwürfe, aus den letzten Jahren, zu schade zum Wegwerfen. Doch auch hier kann man, trotz leuchtender Farben, immer wieder feststellen: So lustig ist das alles nicht.
Es scheint so, als wäre Jim Avignon gerade dabei, sich endlich die Deutungshoheit über seine Kunst zurück zuerobern. Diesen ganzen, medial permanent wiedergekäuten Mist zwischen Global-Trottel, Techno-Haring und workaholischer Ich-AG gründlich in Frage zu stellen und einfach mal die Notbremse zu ziehen. Vielleicht auch deshalb: bestes Neoangin-Album. ever