Der Satan im Sägemehl
David Dalton erinnert sich an den wüsten Rolling Stones Rock'n'Roll Circus mit John & Yoko, The Who und Eric Clapton im Swinging London des Jahres 1968
Dezember 1968. Wir werden die Welt verändern. Aber erst mal schmeißen die Stones noch eine Party. Sie haben allen Grund zum Feiern, immerhin sind sie erst kürzlich von den Toten auferstanden. 1967 mag ein gutes Jahr für Owsley-LSD, Be-Ins und Gespräche mit Schlangen gewesen sein, aber für die Stones war es ein mieses Jahr: die Redlands-Razzia (deretwegen Mick und Keith beinahe im Knast gelandet wären), der Absturz von Brian – und über ihr kitschiges Psychedelic-Album „Their Satanic Majesty Requests“ schweigen wir lieber.
Jedoch: Die Stones hatten immer einen geheimen Pakt mit dem Chaos, und Ende 1968 waren sie nicht nur zurück, sondern wieder die Größten. Mit „Beggars Banquet“, veröffentlicht im Dezember, hatten sie sich wiederbelebt; sie fantasierten nicht mehr von der grüblerischen Südstaatenlandschaft ihrer frühen Alben; stattdessen bewohnten sie nun eine Art halluziniertes Mississippi-Delta.
Die Stones waren wild darauf, ihre Ya-yas wieder auf der Straße rauzuholen, und da kam Mick die zündende Idee: ein Rock’n’Roll-Zirkus! Es war romantisch, es war nostalgisch, es war exakt die Sorte planloses, surrealistisches Event, in die sich alles einbauen ließ: Feuerschlucker und Clowns, Zwerge und pyrotechnische Pianisten, übergewichtige Akrobaten und kapriziöse Geiger – und dazu packte man in den Schlüsselmomenten diverse britische Rockgrößen mit Verstärkern. Fertig!
Londons Rock-Adel war damals noch eine überschaubare kleine Gemeinde, man begegnete sich jeden Abend in Clubs mit cleveren Namen, und ratzfatz waren alle Hochkaräter des englischen Rock beisammen. Und noch ein, zwei Yankees. The Who, Jethro Tull, Taj Mahal, Marianne Faithfull – nicht der schlechteste Mix für Micks Weihnachtsgala. Wenn sich jetzt nur noch John und Yoko überreden ließen auszubüchsen und beim Zirkus mitzureisen. Sie ließen sich natürlich überreden. Zusammen mit Eric Clapton (Gitarre), Keith Richards (Bass) und Mitch Mitchell von der Jimi Hendrix Experience am Schlagzeug sollten sie die Supergroup Dirty Mac bilden.
Ich kam am Morgen des 10. Dezember schwer übernächtigt im Intertel-Fernsehstudio an. An einem Ende des gewaltigen Raums war ein Zirkuszelt aufgebaut – auf einer Seite offen, so dass die Kameracrew filmen konnte. Die billigen Plätze sind schon mit kichernden Mädchen in vielfarbigen Ponchos besetzt. Auf dem Boden liegt Sägemehl.
Diverse Zirkustiere werden von ihren Dresseuren herumgeführt.
In den ersten paar Stunden passiert nicht viel. Man konnte einfach rumschlendern und seine Idole in ihren bunten Kostümen herumstolzieren sehen. Keith – als dandyhafter Teufel mit Schlangenlederstiefeln, Zylinder und Augenklappe – scheint in magischer Form zu sein. Ganz zu schweigen von Mick als Zirkusdirektor im roten Mantel mit Hut, dazu Pete Townshend und Keith Moon mit ihrem gewohnt durchgeknallten Geplänkel, die beiden spielen sich selbst. Mick spielt jetzt mit seiner Marianne Bockspringen. John und Yoko (als unsichtbare Geige) schließen sich einem melancholischen und nach der Trennung von Cream auch arbeitlosen Eric Clapton an, der an einem Konzertflügel sitzt. Brian Jones trägt Umhang und Spitzhut eines Zauberers und sieht mit verschwollenen Augen und schwindendem Charisma aus wie der ergebene Sündenbock für sämtliche sündige Vergehen des Swinging London.
Zwischen den Acts gibt es hübsch sonderbare Zirkusnummern. Ein mottenzerfressener Ian Anderson tänzelt einbeinig und glubschäugig zu Jethro Tulls „Song For Jeffrey“. Marianne Faithfull, strahlend und verletzlich, probt „Something Better“ von Goffin und King. Mick hält ihre Hand, und dann balgt er sich mit einem zahnlosen Tiger, um sie wieder aufzumuntern.
Dirty Mac entkommen dem Supergroup-üblichen Gedudel dank Lennons grimmiger Darbietung von „Yer Blues“. Dann stehen The Who auf der Bühne. Gerade von einer Tour zurück, aufgekratzt, voll Energie, eine ernsthafte Bedrohungfür die Stones. Sie bringen ihre Mini-Oper „A Quick One While He’s Away“ wie eine wahnsinnige Maschine, so makellos, dass man gar nicht merkt, was für ein komischer Song das ist.
Erst um zwei Uhr morgens spielen endlich die Stones selbst – 14 Stunden, nachdem sie angekommen waren, um an der Eröffnungsparade teilzunehmen. Sie treten gleich mit ein paar Oldies aufs Gas („Route 66“ und „Confessing The Blues“), stürzen sich dann in „Jumping Jack Flash“ und dann in ein paar Songs aus „Beggars Banquet“: den feuchten Delta-Traum „Parachute Woman“, das melancholische „No Expectations“ mit Brian an der Slide-Gitarre, das noch schmerzlicher und verlorener klingt, weil alle wissen, dass dies Brians Schwanengesang ist – sein letzter Auftritt mit den Stones.
Mick singt „You Can’t Always Get What You Want“ (ohne den kitschigen Refrain) direkt in die Kamera, als flüsterte er Ratschläge an Marianne Faithfull. Und dann endet alles mit einem munteren Singalong zu „Salt Of The Earth“, Bands und Fans schaukeln und tanzen zum ansteckenden Refrain, und Pete Townshend sieht mit zwei um den Kopf gebundenen Kissen aus wie ein Papst. Schließlich öffnen sich die Türen nach draußen, grell dringt das Tageslicht herein und bricht den Bann.
Aber mal ehrlich, wenn’s so verdammt spitzenmäßigwar, wieso hat es dann mit der DVD so lang gedauert? Man hatte Spezialkameras aus Frankreich importiert, um gleichzeitig auf Film und Video drehen zu können. Als Mick während des Drehs die Stones-Sequenzen auf einem Monitoren begutachtete, war er überzeugt, ihr Auftritt sei eine Katastrophe gewesen, im Vergleich zu den manisch rockenden Who würden die Stones lahm und schludrig wirken.
Aber er sorgte sich umsonst. The Who sind vielleicht eine Naturgewalt, aber die Stones hingen an einer mächtigen Ader, aus der die wilde Stimme des Blues entsprang. Es ist der Sound einer infernalischen Maschine, die unerbittlich mahlt und rumpelt und scheppert, die stöhnt, höhnt und schreit.
All das ist zu hören, als in den frühen Morgenstunden Rocky Dijon auf die Congas klopft, Brian Jones die Maracas rasseln lässt und Charlies Schlagzeug einsetzt. „Sympathy For The Devil“ schleicht synkopisch durchs dichte Unterholz. Wir sind auf einer Dschungellichtung in Brasilien, bei einer Macoumba-Zermonie, bei der Mick wüste Gespenster heraufbeschwört, und das furchterregendste von allen holt er aus sich selbst.