Der Ruhe entwischt
In Paris konnte Jarvis Cocker den Spießer in sich erfolgreich bekämpfen.
Bei Rockern spielen Veränderungen imn Aussehen eine eher geringe Rolle. Wenn die Haare mal etwas wilder wallen, wird der betreffende Musiker wohl etwas zu lang auf Tour gewesen sein. In der Welt des Pop, mit ihrem Hang zum Gesamtkunstwerk und zur Überinterpretation, bilden sich sofort Online-Diskussions-Foren, sobald sich das Outfit eines Stars verändert: Ein Vollbart im Gesicht der Britpop-Ikone Jarvis Cocker —- das muss ein Statement sein! Dabei gibt es derzeit den aktuellen Trend zu starker Gesichtsbehaarung und, ja, Cocker ist verheiratet mit der Star-Stylistin Camille Bidault-Waddington. Mit „Further Complications“ hat der ehemalige Pulp-Sänger allerdings soeben auch das rockigste Album seiner Karriere abgeliefert. Produziert von Steve Albini dem griesgrämigsten, prinzipientreuesten und spartanischsten aller Rock-Produzenten. Was bedeutet das für den Indie-, Brit- oder sonstwie Pop?
Nun, zunächst einmal so viel, wie wenn in China ein Hollywood-Film raubkopiert wird. Denn wenn Cocker vor einem steht, noch dazu in einer Hotel-Bibliothek, die mit ihren schweren Ledermöbeln aussieht wie ein britischer Gentlemens Club, dann ist er immer noch derselbe spindeldürre Dandy und Künstlertyp. Seine Kleidung, bei der man nie so recht wusste, ob sie von einem teuren Designer stammt oder aus einem thrift shop, wirkt immer noch viel zu elegant für einen Rockmusiker. „Es ist ein Polarforscher-Bart, den ich einfach nicht mehr loswerde“, behauptet Cocker lächelnd zur Begrüßung, weil er bemerkt, wie mein Blick an seinem Bart klebt. Im letzten September hat er mit Kollegen wie Leslie Feist, KT Tunstail, Robyn Hitchcock und Ryuichi Sakamoto an einer Expedition entlang der Westküste Grönlands teilgenommen (s. Kasten).
Einige der „Enviromental Sounds“, die dabei entstanden, sind im Hintergrund von „Slush“ zu hören. Der atmosphärisch schwebende Song über Schneematsch und die Flüchtigkeit des Augenblicks findet sich auf Cockers zweitem Soloalbum „Further Complications“, das in Albinis „Electrical Audio“-Studio in Chicago eingespielt wurde. Als Kopf von Big Black, Rapeman und Shellac entwickelte Albini einen staubtrockenen Sound, der überwältigend und spröde zugleich klang. Sogar als Produzent von Nirvana und PJ Harvey hatte der hagere Asket klare Grundsätze, die sein jüngster Kunde Cocker noch einmal zusammenfasse: „Steve macht keinen Unterschied zwischen lokalen Combos und internationalen Größen – alle zahlen den gleichen, relativ günstigen Preis. Er sagt auch nicht jedem, was er zu tun hat, sondern sieht sich eher als Tontechniker, der die Band so dokumentiert, wie sie live klingt — direkt, ungekünstelt, pur.“
Cocker macht allerdings kein Hehl daraus, dass es nicht unbedingt seine Idee war, mit Steve Albini zu arbeiten – schon allein deshalb, weil er dessen Arbeit vorher kaum kannte: „Steve Mackey, unser Bassist, und Ross Orton, der Schlagzeuger, machten den Vorschlag. Sie spielten mir dann das Rapeman-Album ,2 Nuns And A Pack Mule‘ vor. Da wir letzten Juli ohnehin wegen eines Festival-Auftritts in Chicago waren, haben wir einfach mal zwei Songs mit Albini aufgenommen.“ Offenbar zur allgemeinen Zufriedenheit.
„Further Complications“ klingt völlig anders als das Vorgänger-Album „Jarvis“, das mit aufwendig arrangierten Songs das Innenleben des Songwriters nach der Trennung von Pulp reflektierte. Das Leben eines Ruheständlers, der — nach 24 Jahren mit der Band – nicht mehr so recht wusste, was er will. Die letzte Veröffentlichung von Pulp, das Best-of-Album „Hits“, erreichte nur Platz 71 der UK-Charts und war nach einer Woche wieder verschwunden, wie ein „ziemlich leiser Furz“ (Cocker). „Ich ging damals nach Paris und war überzeugt, dass ich mit der Musik aufhören würde, weil ich mich alt fühlte, weil ich verheiratet bin und ein Kind habe. Ich wollte straighter werden, ein aufrechtes Mitglied der Gesellschaft. Erst später merkte ich, dass diese Art zu denken sehr gefährlich sein kann. Weil man damit bestimmte Aspekte seines Charakters verneint, was möglicherweise dazu führt, dass man am Ende durchdreht.“
Mit dem Song „I Will Kill Again“ beschrieb Cocker seine Angst vor dem Spießer in sich: ein Gläschen Wein nach Feierabend, Plattenkäufe am Wochenende, und ein ganz großes Bedürfnis nach Ruhe und Frieden. „I Will Kill Again“ war ein Versprechen sich selbst gegenüber, ein Bekenntnis zur Unvernunft und Leidenschaft. Die Songs, die Jarvis in dieser Zeit für Marianne Faithfull, Charlotte Gainsbourg und Nancy Sinatra schrieb und mit ihnen sang, waren natürlich trotzdem toll. Das Solo-Debüt „Jarvis“ mit seinen wohlgesetzten Arrangements ist sogar eines der Highlights seiner Karriere.
„Further Complications“ zeigt, was in den letzten Jahren offenbar gefehlt hat: eine Band. Jarvis Cocker liebt es, mit anderen Musikern zu arbeiten. Geradezu lustvoll unterwirft er sich den Prinzipien der demokratischen Meinungsbildung. Aber warum musste er deshalb gleich ein Rockalbum aufnehmen? „Während der Tour zu Jarvis‘ ist mir aufgefallen, dass sich die Songs veränderten, dass sie immer rockiger wurden. Warum also nicht gleich ins Studio gehen, mit dem Vorsatz, ein Rockalbum aufzunehmen?“
Einer der brachialsten Songs des Albums ist „Homewrecker“, eingespielt mit dem Saxofonisten Steve Mackay, der bereits auf „Funhouse“ von den Stooges zu hören war. „Früher, als ich jung war, mochte ich Rock nie besonders“, sagt Jarvis fast entschuldigend. „Dabei bin ich in Sheffield aufgewachsen, einer Arbeiterstadt mit großer Rocktradition. Aber was sollte ein junger Punk-Sympathisant wie ich mit Def Leppard anfangen oder meinem Namensvetter Joe Cocker? Punk rebellierte schließlich gegen dieses Rock-Establishment.“
Trotzdem lässt es sich Cocker nicht nehmen, in „Caucasian Blues“ über alte weiße Männer und ihre Liebe zum Blues-Rock herzuziehen: „Ich frage mich ernsthaft: Was ist so toll an einem Typen wie Eric Clapton? Einen Blues-Song schreiben zu müssen wäre für mich der totale Albtraum.“ Bands wie die White Stripes nimmt er ausdrücklich aus, für die anderen gilt: „You’re yesterday’s news. You’ve got so much to lose.“
Einer der schönsten Songs des Albums ist das Drama „You’re In My Eyes“, eine Art Orpheus in der Disco-Unterwelt. Während die Wah-wah-Gitarren sexy mahlen und quengeln wie einst bei „Shaft“, erzählt „Barry“ Cocker im sonoren Sprechgesang die Geschichte eines Liebenden, dem in einem Provinz-Club die tote Freundin wiedererscheint. Die glitzernden Reflektionen der Discokugel müssen sie zum Leben erweckt und in seine Arme zurückgeführt haben. Und nun kann sie nur der Tanz lebendig halten, und so drehen sie sich und drehen sich immer weiter bis zum Sonnenaufgang. Der Drone-Sound am Ende des Stücks verheißt allerdings nichts Gutes-worauf Cocker ausdrücklich hinweist: „Ich habe mich früher ganz gern mal lustiggemacht über die Paarungsrituale, die sich in Clubs für gewöhnlich abspielen. Aber die Idee hinter dem Song hat mit gefallen, und in letzter Zeit gehe ich selbst auch wieder häufiger tanzen.“
Mit „Further Complications“ hat Cocker ein Pop-Album aufgenommen, das nur so tut, als wäre es Rock. Es ist ein Spiel mit der Authentizität, ein Ausprobieren von Möglichkeiten. Doch wie der Bart des Sängers, ist auch der Sound seiner Lieder nur ein flüchtiger Moment. Vielleicht überrascht uns Cocker ja demnächst mit einem Disco-Album und einer Isaac-Hayes-Glatze.