Der Rest vom Fest
Auf der Ostseite der Mauer erlebte Leander Haußmann die Dekade als Ramsch-Jahrzehnt
In der DDR waren die 80er-Jahre eine Zeit der Bestandsaufnahme. Als ich zur Armee musste, kamen jedenfalls auf einmal die Helden von Woodstock wieder in Mode. Vor allem Ten Years After. Ich selbst blieb natürlich Bob Dylan treu, dessen 80er-Platte „Shot Of Love“ ich bis heute hoch schätze. Mitte des Jahrzehnts kam dann eine Bewegung, die im Nachhinein gerne verschwiegen wird: die Folklorewelle. Junge Menschen hörten Zupfgeigenhansel, Hannes Wader und die ganze Liedermacherclique, man sang mit gestelzter Stimme: „Es wollt‘ ein Bauer früh aufsteh’n …“ Alle sahen aus, als kämen sie gerade vom Feld, die Frauen trugen weite Leinenkleider, die Männer Lederarmbänder und Gürteltaschen. Eine Renaissance der Maultrommel fand statt. Das hatte natürlich auch einen politischen Hintergrund: In der DDR „Die Gedanken sind frei“ zu singen, saß immer gut. Ostmusik dagegen war in meinen Kreisen verpönt. Ich weiß noch, wie auf der Party eines Led-Zeppelin-Fans einer mit einer Puhdys-LP auftauchte. Der Gastgeber schaute ihn entgeistert an, nahm die Platte, öffnete das Fenster und warf sie raus. Keiner traute sich, etwas zu sagen.
Am Ende der Ramschladen-Dekade gab es dann nicht mal ein vernünftiges Lied für den Mauerfall. Ich persönlich muss dabei immer an die „The Carnival Is Over“-Version von Nick Cave denken: So fühlte es sich an, als ich am 10. November um fünf Uhr früh im Nebel über die Oderberger Brücke lief. Ich wusste genau, dass viele Menschen bald sehr unglücklich sein würden: „Wir haben alles wohl anders geträumt mit unsern Büchern hinter der Mauer unsers Gartens“, wie es in „Leonce und Lena“ heißt. Vom Begrüßungsgeld kaufte ich mir bei „2001“ in der Kantstraße die Zehn-LP-Gesamtausgabe von den Rolling Stones.
Danach blieb mir noch Geld für ein Bier.
Leander Haußmann, Jahrgang 1959, ist einer der bekanntesten deutschen Theater- und Filmregisseure.