Der Rausch der wilden Jahre
Wie die Zwillinge Jutta Winkelmann und Gisela Getty loszogen und die (Rock-) Welt eroberten: Der ROLLING STONE zeigt exklusiv die besten Fotos aus ihrem neuen Buch.
Ich sah Jutta Winkelmann und Gisela Getty zum ersten Mal in einer Talkshow von Reinhold Beckmann. Das war Mitte der 90er Jahre, die Show hieß „No Sports“. Eine Kölner Künstlerin beschwerte sich: „Die heulen immer im Fernsehen.“ Es stimmte, sie heulten. Und stritten sich. Beckmann wollte sie offensichtlich als kaputte 68er-Existenzen präsentieren. Was sollten sie da sonst tun?
Wer Jutta Winkelmann und Gisela Getty wirklich sind, begriff ich, als wir sie später für ein Magazin in München fotografierten. Wir rückten mit Versace-Mini-Kleidern und Louboutin-Highheels an und fürchteten, dass sie die Fummel nicht leiden könnten. Trugen die nicht nur weiß, und waren die nicht mit dem Konsum-Verächter Rainer Langhans zusammen?
Im Wohnzimmer wurden aus Jutta und Gisela in Sekunden zwei Strateginnen, Showgirls, Frauen, denen jede Form der Bitterkeit fehlt. Das ist überraschend bei Leuten um die 60, die eine Revolution hinter sich haben. Sie brauchten nur drei Minuten, um sehr genau zu besprechen, wer welches Kleid anhaben würde und warum. Sie wussten instinktiv, welcher Stoff auf Fotos besser glitzert und dass alle Kleider noch höhere Schuhe vertragen könnten. Beine könnten im Prinzip nie lang genug sein. Korrekt. Ein bisschen gestritten wurde auch. „Dein Outfit glitzert mehr“, sagte Gisela, Jutta antwortete. „Na und? Du hast dafür höhere Absätze bekommen.“ Ungefähr so muss es gewesen sein, als die Zwillinge, wie sie der Einfachheit halber genannt werden, 1971 ihre Karriere als International Party People antraten.
Jutta und Gisela kommen 1949 in Kassel zur Welt, der Vater erzählt beim Abendessen Soldatengeschichten, die Mutter ist davon schwer genervt und serviert karges deutsches Nachkriegsessen. Aber Kunst und Musik sind erlaubt, Verbote halten sich in Grenzen. Jutta und Gisela erfahren früh ihre Wirkung als Zirkuspferde. Der Großvater spricht es aus: „Zwillinge! Und auch noch blond!“ Als sie dunkelhaarig werden, fällt ihre Entscheidung: Sie wollen das Leben aus Bob Dylan Song „Like A Rolling Stone“.
Sie bewegen sich in Kreisen des jungen deutschen Films (Jutta heiratet den Regisseur Adolf Winkelmann), in den neuen Studenten-WGs, doch der „Thrill“ reicht nicht aus, man kann hier Ende der 60er Jahre nur Ikone werden, wenn man sich politisiert gibt. Für Popstars ist kein Platz. Gisela und Jutta wollen auf jeden Fall so etwas ähnliches werden: Stars ohne Beruf, Mädchen, deren Anwesenhext schon ausreicht, damit alle in ihre Richtung schielen. Sie sind zu zweit, immer, was soll passieren? Sie lassen Deutschland hinter sich, ein Kunststudium, Aufenthalte in gähnend langweiligen K-Gruppen – und ein Kind, das bei Oma aufwächst. Giselas Tochter Anna, heute Yogalehrerin in Italien, stammt von Schauspieler Rolf Zacher.
Mit einem Töpfchen schwarzem Kajal, alten Second-Hand-Blusen und Palästinensertüchern als Röcken fahren sie nach Rom. Da passiert „Es“ zu dieser Zeit, die Welt verändert sich stündlich, genau wie Jutta und Gisela. Heute sind sie Models, morgen Künstlerinnen, am Abend schon wieder Schauspieler oder stehen Schmiere für einen Strizzi auf der schlimmsten Gasse in Rom. Damit verdienen sie ein bisschen Geld, viel brauchen sie nicht, „es wurde wenig gegessen, weil alle sehr aufgeregt und ekstatisch waren“. Die konkrete Ernährung: LSD-Trips und Artischocken in Öl (da bleibt man dünn.) Jutta und Gisela: die einzigen It-Girls, die Deutschland je hervorgebracht hat.
Frankreich hat Jane Birkin, England Marianne Faithfull und Deutschland die Zwillinge. Ihr Look, der von zwei schönen Jungs mit kleinen Brüsten, haut alle um. Sie essen bei Roman Polanski zu Abend, werden Federico Fellini als zukünftige Filmstars vorgeführt, ein Mafiaboss verliebt sich in sie, doch sie sind nicht reich. Sie leben in leerstehenden Häuser, ihre Freunde sind Dealer, Künstler, Boheme-Könige, irgendwie jeder, der auf der Jagd nach einem neuen Bewusstsein ist.
Sie „treffen“ John Paul Getty III., den Sohn der amerikanischen Getty-Dynastie. Paul bekommt zu dieser Zeit von seiner Familie allerdings nichts, weil er dieses Bohemeleben führt. Die Verbindung Jutta, Gisela und Paul ist perfekt: Die drei sehen aus, als kämen sie vom selben Stern. Große Locken, dünne Körper und noch größere Augen. Kaum haben sie sich kennengelernt, wird 1973 Paul – er ist 17 entführt. Erst als die Täter Paul ein Ohr abschneiden und es an eine italienische Zeitung schicken, zahlen die Gettys 2,89 Millionen Dollar. Nach der Freilassung heiraten Gisela und Paul in der Toskana.
Gisela erhält Paul, für Jutta bleibt Bob Dylan übrig, dessen „Like A Rolling Stone“ -Song sie damals aus dem Haus getrieben hat. Schon lange vorher, in ihrem Jugendzimmer in Kassel, hatten Jutta und Gisela festgelegt oder erträumt, wie die Zukunft aussehen solle. „Wir redeten darüber, als läge das in unserem Ermessen. Zwei kleine Mädchen schmieden Pläne und fühlen sich allmächtig und halten die Liebe in ihren Händen. Dylan war in unserer Fantasiewelt schon etabliert. Es war nur eine Frage der Zeit, bis wir ihn treffen würden“, sagt Jutta.
Und dann ist Bob Dylan wirklich da, als Jutta nach einem LSD-Trip auf einem Rasen in Malibu die Augen öffnet. Leider spricht Bob Dylan erst mal nicht über Hochzeit, sondern über Nazis und KZs – dass Dylan nicht wirklich mit Frauen sprechen kann, ist ja bekannt, seitdem er die schöne Edie Sedgewick vergraulte, die sehr in ihn verliebt war. Und irgendwie ist Bob Dylan ja dann doch nicht sooo wichtig. Da sind noch andere. Jutta und Gisela steigen zu einer Art Trophäe auf. Jeder im Los Angeles der 70er und 80er Jahre will sie kennen, die „angeturnten Zwilinge“, wie Drogenpapst Timothy Leary sie nennt. Dennis Hopper bringt Gisela nach Mexiko. „Dennis benahm sich wie ein abgefuckter Antichrist. Er bildete mit Dynamistangen einen Kreis, zündete sie an und setzte sich
in die Mitte. Durch die aufeinanderprallenden Explosionswellen flog er einen halben Meter in die Luft, ohne verletzt zu werden.“
Als die Hippiewelle abflaut und nicht wenige aus den gloriosen Zeiten sterben, depressiv oder zu reich werden, steigen sie aus. Gisela bleibt zunächst bei ihrem Mann Paul, der nach einer Überdosis 1981 ins Koma fällt. „Er ist mein Vertrauter“, sagt Gisela, trotz der Scheidung 1987 besucht sie ihn regelmäßig. Jutta nähert sich Rainer Langhans an. Es geht um Reinigung, um die Sinnlosigkeit von Exzess, um das sogenannte Selbst. Sie schreibt an Gisela: „Kein LSD mehr, kein Fleisch, kein Fisch, keine Eier.“ Immerhin: LSD kommt vor dem Fisch.
Sie haben genug Dramen erlebt, um daraus heute Bücher, Theaterstücke, Artikel und Filme zu machen. Doch trotz all der Texte und Fotos umweht die Zwillinge immer noch ein Geheimnis. Wie schafft man es, nach so einem Leben nicht eine Sekunde sentimental oder nur nostalgisch zu wirken und so angenehm naiv zu bleiben? Es muss eine geheime Familiensubstanz geben – die ihre Kinder auch haben.
Da wäre Giselas Sohn Balthazar Getty, der in David Lynchs „Lost Highway“ den bösesten und hübschesten Jungen der Filmgeschichte spielt. Dawäre Juttas Sohn Severin Winzenburg, der über den berühmten Cousin Balthazar den sensationellen Film „My American Cousin“ gedreht hat, und da wäre Juttas Tochter Karline Weiss (gerade Mutter geworden). Wenn man sie zufällig in Berlin sieht, hat man den Eindruck, der jungen Frau Winkelmann zu begegnen: einem extrem wachen Mädchen mit dunklen Locken und sehr langen Beinen. Ihrer Tochter kann Karline eines Tages Fotos von ihren beiden Großmüttern zeigen: wie sie auf Betten mit den tollsten Rockstars der Welt Joints rauchen und dabei wahnsinnig gut aussehen. „Damals war das alles einfacher. Das Celebrity-System von heute existierte so längst nicht. Man konnte alle irgendwie treffen“, sagt Jutta. Wer aus dieser Familie kommt hat sicher ein Glamour-Gen eingebaut.