DER NEUE KAISER
Da er steht er nun im Scheinwerferschein des Cirque National zu Brüssel. Schweißperlen tropfen aufs dunkle Bühnenparkett. Die Menschen in den vorderen Sitzreihen sind aufgesprungen. Und auch hinten im weiten Rund des ehemaligen Staatszirkus wird euphorisch gejubelt. Der Mann im schimmernden Hausmantel senkt den Kopf und leitet die Aufmerksamkeit auf seine Begleitband. Ganz Kapellmeister alter Schule lässt Chilly Gonzales das neunköpfige Mons Orchestra im donnernden Applaus des Publikums baden -und grinst verhalten. Auch die belgische Hauptstadt ist geknackt. Zum dritten Mal in den letzten 24 Monaten. Es läuft gut für ihn in Europa. Vielleicht auch deshalb, weil jede Show sich anders gestaltet als die vorherige. Da nimmt dann die Konzertreihe im Heimathafen Neukölln eine ganz andere Richtung als die Weihnachtsshow in der Kölner Philharmonie. Der heutige Abend etwa lief im Breitwandformat: großes Besteck vor 2.000 Zuschauern. Ein Publikum quer durch die urbane Gesellschaft, vom Streichholzhosen-Hipster bis zur Physiklehrerin – im Rahmen der Festivalreihe „Nuits de Botanique“, die in diversen Clubs der Stadt zwei Wochen lang Chanson und Elektronik präsentiert. Von AlunaGeorge über Apparat, Benjamin Biolay, CocoRosie, Efterklang, Junip und Miss Kittin bis hin zu Woodkid. Alles außer Krachgitarren also.
Ein weit gefasstes Format, das versucht, die heutige Popmusik jenseits der Rockmusik zu verorten. Der Mann im Cirque National, der als Jason Charles Beck bereits Mitte der Neunziger mit der kanadischen Alternative-Band Son an den Marktmechanismen der alten Musikindustrie scheiterte, kennt sich mit diesem Thema bestens aus. Um das Jahr 2000 setzte er sich frustriert ins europäische Exil ab. Ging erst nach Berlin, später nach Paris und spielte als leidenschaftlicher HipHop-Fan mit Orchester das schrullige Rap-Album „The Unspeakable“ ein. „Damit wir uns nicht falsch verstehen: Als Hörer interessiert mich beim HipHop der breitärschige Gangster-Mainstream“, sagt er. Der fein geschmiedete Alternative Rap ist nicht sein Ding, Indie hatte er anderswo genug. Der aufblühende Underground der kanadischen Wirtschaftsmetropole Toronto inspirierte ihn einst zum Mitmischen. Gonzales, der als Teenager für die Videos von Michael Jackson schwärmte, wurde zum Überbruder in der Hippie-Gang um Leslie Feist und Peaches. Am Anfang war viel Kunst und Dilettantentum. Dazwischen lagen sechs quälende Jahre an der Mc Gill Universität seiner Heimatstadt Montreal. Schon damals war das Klavier sein Instrument, gelehrt wurde Komposition in Klassik und Jazz. Aber Jason Beck wusste nicht so recht, was er damit anfangen sollte. Viel Versuch und einiges Scheitern auf dem Weg zu einer Antwort auf die Frage: Was bedeutet Pop heute?
Beim Bühnenvortrag beackert und erklärt Chilly Gonzales die Techniken der Musik wie kein Zweiter. Plinker, Plonker. Songfragmente in Dur. Songschnipsel in Moll. Kleine Kompositionen, die zu großen werden, wenn auf die Bühne gebetene Zuschauer drei simple Tastentupfer vorgeben. Musik über Popmusik. Das alles mit dem Wissen der Klassik am Steinway oder Bösendorfer. Experimente nur mit weißen, Fingerübungen auf schwarzen Tasten; nahtlos eingebettet in die durchaus komplexen Songs seiner „Solopiano“-Alben. „Ich habe ein Jahrzehnt gebraucht, um zu begreifen, dass man all das zusammenführen kann. Und dafür gibt es eine größere Fangemeinde, die mir mittlerweile loyal folgt. Wenn du so willst: Meine Kernzielgruppe, haha.“ Die Alben veröffentlicht er auf seinem Label Gentle Thread, das auch als Schaltstelle für Live-Aktivitäten dient. „Konzerte müssen wir kaum noch bewerben“, sagt er. „Jedenfalls viel weniger als früher.“ Gonzales ist, wie so viele internationale Popkünstler in diesen Tagen, ein weitgehend autarkes System, das über gut gepflegte Digitalmedien mit der Welt korrespondiert. Ansonsten wirkt er als Wizard hinter den Kulissen, der seit Mitte vorigen Jahres aus privaten Gründen in Köln lebt und von dort aus allerlei Produktionen und Projekte vorantreibt. Bei denen er etwa seinem Kumpel Jarvis Cocker in einem Kölner Studio bei dessen Musikproduktion für den TV-Sender HBO mit Inspiration und Soundideen zur Hand geht.
Nun sitzt Chilly Gonzales in einer Umkleide des Cirque National und wirkt überaus entspannt. Und natürlich benutzt er Worte wie „Akkordfolgen“(chord progressions), wenn er analysiert, dass die klassische Viermannband mit Gitarre, Bass, Schlagzeug in ihren Variationsmöglichkeiten gegenüber Produzentenduos eher beschränkt ist. Ein nostalgisches System, findet er, das von der besonderen Chemie ihrer Mitglieder abhängt. Mittelfristig betrachtet. Wenn dieser Verbund auseinanderbricht, werde es für einzelne Mitglieder schwer, die Begeisterung zu erhalten. Siehe Pixies, siehe Oasis und Dutzende andere. „Die heutige Musik ist einfach gestrickt. Es gibt nicht allzu viel Abwechslung in den Akkordfolgen. Noten sind buchstäblich weniger geworden; ersetzt von Basslines und Riffs. HipHop hat kaum Noten.“ Das ist nicht abschätzig und überfliegermäßig gemeint. Gonzales suhlt sich ja geradezu im Wechselspiel aus stumpf und komplex. Und im Gegensatz zur Rockmusik der Siebziger muss ein Klassiker im Pop auch gar nicht mehr mit den hohen Weihen anbandeln. Wenn etwa Techno-Impresarios ihre Sounds gelegentlich in Konzerthäuser tragen, hat das eher etwas mit dem Ausloten des digitalen Kosmos zu tun. Der Klassikbetrieb ist ohnehin um Öffnung bemüht und dabei darf es durchaus auch mal funky werden. Klassiknummern von Gonzales und Co sind jedenfalls von den Walhalla-Gewittern des Progressive Rock meilenweit entfernt. Strawinskis „Feuervogel Suite“ bei Yes, Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“ bei Emerson, Lake &Palmer oder die „Play Bach“-Motive von Deep-Purple-Organist Jon Lord bleiben Pop-Geschichte. Beim Bühnenspiel ackert Gonzales dagegen wie der Pianohund der „Muppets“ und überschreitet im Minutentakt die Grenze zwischen scheinbarem Ernst und scheinbarer Wurstigkeit. Gelegentliche Lacher im Publikum diskreditieren dabei in keiner Weise die Qualität des Vortrags.
In Brüssel spielt er in seiner -wie immer ortsverbundenen -Moderation mit belgischen Besonderheiten. Königshaus, Sprachenstreit, Krise in Europa. Er führt aus, dass der Rhythmus im Pop zumeist auf die Vier zählt. Im Walzer dagegen auf die Drei. Musik der Herrschenden in Dur. Musik der Underdogs in Moll. Ein zentraler Song seiner Revue ist stets „The Grudge“ vom 2010er-Album „The Ivory Tower“, eine Art gerappte Gebrauchsanweisung seines Hin-und-her-Gerissenseins als Konzerthaus-Entertainer. Ein weiteres Bekenntnis aus dem neueren Œuvre heißt „Knight Moves“ und funktioniert mit seinem sich wiederholenden Hauptmotiv wie ein House-Track, der wiederum aus dem Score des (damals) futuristischen Spionagefilms „Billion Dollar Brain“ mit Michael Caine aus dem Jahr 1967 stammen könnte. Was vielleicht daran liegt, dass der Berliner Techno-Produzent Alexander Ridha alias Boys Noize mitproduziert hat.
Bei aller Umtriebigkeit im Studio sind seine Konzerte zum zentralen Element geworden. „Damit lebt meine Musik, die ständig einen anderen Zustand annehmen kann“, sagt er. „An manchen Abenden klingt es sehr angenehm. Wenn es den Umständen vor Ort entspricht, folge ich dieser Stimmung. Es kann aber auch sehr aggressiv werden -oder in eine verquere Helge-Schneider-Richtung gehen. Live ist alles möglich!“ Ein später Siegeszug für den Geistesblitz-Meister, der durchaus charakteristisch ist. Die elektronische Popmusik als Taktgeber des Fortschritts sucht sich neue Allianzen in Songwriter-, Band-oder Orchester-Projekten. Und auf dem Weg zu neuen Tönen sind Exzentriker mit weitem Horizont gefragt.
Der Virtuosen-Trend hat viele Facetten. Wenn die zart besaitete dänische Pianistin Agnes Obel die Berliner Philharmonie ausverkauft, lässt sich ihre erstaunliche Popularität weder mit europäischen Auszeichnungen noch mit der Faszination für zerbrechliche, elfenhafte Songs allein erklären. Auch Alyson Goldfrapp, deren kommendes Album den Sphärenklang ihres Debüts „Felt Mountain“ fortschreibt, mag in diese Kategorie fallen. Viel weiter gehen wiederum die Anwandlungen von Matthew Herbert, der 2011 die Geräusche eines Zuchtschweins zu einem Album verarbeitete („One Pig“). Und auch Damon Albarn ist so ein Fall, der in der Weltmusik ebenso wildert wie in der Klassik, wenn er etwa mit dem deutschen Komponisten Andre de Ridder zusammengeht, der wiederum mit der Symphonie-Band Magnetic North oder Arcade-Fire-Violinistin Sarah Neufeld arbeitet.
Allen gemein ist die Erkenntnis, dass Popmusik neu gedacht werden muss, will sie sich nicht in Rock’n’Roll-Stereotypen und endlosen Retro-Schlaufen zu Tode tuckern. Ein Genie-Darsteller wie Gonzales attestiert dem ultra-erfolgreichen US-Hitschreiber und Produzent Doctor Luke (Kelly Clarkson, Katy Perry, Will.i.am) mehr kreative Sprengkraft als den meisten Bandromantikern der Zehnerjahre. „Für mich wirkt nicht die klassische Musik überkommen, jetzt mal abgesehen vom sozialen Milieu, das sie umgibt, sondern eher junge Menschen, die mit Gitarren und Schlagzeug im Keller sitzen und auf eine Rocker-Karriere warten.“
Dem kämpferischen Element im Kulturbetrieb kann Gonzales durchaus etwas abgewinnen. „Es fördert die Kreativität“, findet die Rampensau in ihm, die sich im distinguierten Europa ansonsten durchaus wohlfühlt. Im „Cine 13 Theatre“ in Paris spielte er einen rekordverdächtigen 27-stündigen Klaviermarathon und in der New Yorker Musikkneipe „Joe’s Pub“ lieferte er sich ein furioses Tastenduell mit dem Freak-Rocker Andrew WK. 2010 wählte die Musik-Division von Apple die erste Klaviersequenz aus seinem Track „Never Stop“ für einen internationalen iPad-Werbeclip aus. „Man bekommt gar nicht mal soo viel Geld dafür“, findet Gonzales. „Doch für einen Klavierspieler wie mich ist es schon eine Anerkennung, wenn Technologietypen deine Töne auswählen. Solche Projekte locken ja stets mit ihrer Marketingleistung, von der etwa Feist 2007 ziemlich profitierte, als sie ihr ,One, Two, Three, Four‘ ebenfalls an Apple gegeben hatte. Im Gegensatz zu mir war ihre Person eng mit dieser Aktion verbunden. Schließlich war sie eine echte Popsängerin, für die es später schwer zu erklären war, dass sie mehr ist als nur das Mädchen aus dem Werbeclip. Bei Leslie wurde der Song berühmt -und ihr Gesicht! Meine Visage wurde nie mit der Musik verbunden. Niemand kannte das Gesicht hinter den Tönen. Meine Karriere hat das nur wenig beeinflusst.“
Wer wie Gonzales über zwei Jahrzehnte hinweg auf zwei Kontinenten eine „Musikfamilie“ aufgebaut hat, muss sich über mangelnde Aktivitäten ohnehin nicht beklagen,“Wenn Feist anruft, bin ich dabei. Genauso bei Peaches, Mocky, Tiga und neuerdings auch Boys Noize. Ansonsten reiße ich mich nicht um Auftragsarbeiten.“ Ebenfalls in diese biografische Verbundenheit fällt das kommende Album von La Roux, auf dem Gonzales diverse Sequenzen beisteuerte. Oder seine Zusammenarbeit mit dem kanadischen Rapper Drake, der in Nordamerika große Hallen füllt. Sein Sprung nach Europa sei bloß eine Frage der Zeit, prognostiziert er. „Nur bei Leslie Feist geht meine Zusammenarbeit über den musikalischen Prozess hinaus. Bei den Produktionen legt sie großen Wert darauf, eine besondere Atmosphäre herzustellen. Das ist bei ihr ein nicht zu unterschätzender Zusatzjob. Das Drumherum ist wichtig, als könnte dieser oder jener Song nur entstehen, wenn gerade ein Reh vorbeispringt. Sie braucht solche Momente. Ich könnte mir das durchaus auch anders vorstellen, doch sie braucht dieses gewisse Wohlfühlklima.“ Im Gegensatz dazu steht sein Beitrag zum aktuellen Erfolgsalbum „Random Access Memories“ des behelmten Konzeptduos Daft Punk.
„Ich kenne sie aus meiner Pariser Zeit“, erzählt Gonzales. „Sie hatten mich um eine Lounge-Version für ihren Song ,Too Long‘ gebeten. Seitdem kennen wir uns. Bei ihnen geht alles absolut kontrolliert zu. Niemand verschwendet Zeit mit E-Mails oder Mädchen in Bikinis. Daft Punk arbeiten wie große Regisseure. Sie denken ganzheitlich und sind absolut detailversessen. Der Albumtitel stand bereits, und ihnen war klar, dass es rund zwei Jahre dauern wird. Sie hatten ihr Ziel fest im Auge und haben sich Spezialisten für das eine oder andere Detail gesucht. Wirklich gebraucht haben sie mich eigentlich nicht.“
DABEI SEIN: In der ROLLING STONE-App schauen wir Chilly Gonzales beim Komponieren über die Schulter.