Der MUSIK-INDUSTRIE geht’s schlecht. So schlecht, daß sie es sogar erstmals zugibt. Bernd Gockel stellt eine unqualifizierte Diagnose
„Die Risiken sind größer als jemals zuvor“, dräute WEA-Chef Gerd Gebhardt. „Wir leben noch immer von Künstlern, die sich vor zehn, 20, sogar 30 Jahren etablieren konnten. Wenn das unsere aktuellen Seller sind, muß man sich ernsthaft Gedanken machen, was in zehn Jahren sein wird. Wir brauchen neue Künstler, die auch in zehn Jahren etwas bewegen – und nicht ein Dance-Projekt hier, ein Dance-Projekt dort.“
Nachdem auch der warme Weihnachts-Umsatz-Regen nicht die erhoffte Linderung gebracht hat, macht sich Unruhe breit in der Musik-Industrie, ansatzweise gar Panik. Versuchte man sich in der Vergangenheit mit fragwürdigen Umsatzsteigerungen gegenseitig zu übertrumpfen, so sprechen die Bilanzen diesmal eine unmißverständliche Sprache: Mit Ausnahme von zwei Firmen, so das Branchen-Ondit, schreibt die deutsche Plattenindustrie in diesem Geschäftsjahr rote Zahlen. „Zuwächse“ gibt es allenfalls im hoffnungslos überfüllten Compilation-Markt, erkauft durch horrende Aufwendungen für Fernsehwerbung und Marketing-Aktionen am ominösen point of sale.
Daß man den Schlamassel nicht allein dem siechen Konsumenten in die Schuhe schieben kann, wird inzwischen mannhaft eingestanden. Jawoll, wir haben Fehler gemacht! Auf die Gretchenfrage aber, warum denn das Kind in den Brunnen fiel und wie man es dort wieder herausbekommt, hört man bislang nur verbales Voodoo-Getrommel.
Dabei wäre doch alles so einfach. Daher hier, exklusiv, das kleine Brevier fürs obere Krisen-Management. Einfache Schritte, große Wirkungen. Schauen wir uns die zentralen Maßnahmen doch einmal genauer an:
1. Gleich morgen machen wir VIVA dicht! Daß die kostenlose und unbeschränkte Verfügbarkeit von Musik die anästhesierte Clip-Kid-Generation nicht gerade in die verwaisten Plattenläden treibt, wird nicht einmal VTVAs Synergie-Zampano Gorny ernsthaft abstreiten wollen. Natürlich generiert eine heavy rotation den schnellen Hit, doch wenn die Institution Musik-TV das gesamte Umsatzniveau drastisch nach unten schraubt, kann mir der Hit gestohlen bleiben. „Cohabitation“ nennt der distinguierte Franzose diese widernatürliche Partnerschaft; der Ami sagt’s plastischen „sleeping with the enemy“.
Auch wenn’s schade ist um die fehlinvestierten Millionen, bleibt da nur eins: Hau wech den Scheiß!
2. Was bei VIVA, im Besitz von vier Plattenkonzernen, unbürokratisch realisierbar ist (nicht vergessen: gleich morgen!), ist bei MTV etwas diffiziler. Viacom-Opa Sumner Redstone könnte grantig werden, sollte man ihm herzlos den Stecker rausziehen. Beschränken wir uns in diesem Fall darauf, die Produktion von eh überteuerten Videoclips einzustellen und zu warten, bis das Medien-Wunderkind der 80er Jahre von sich aus die Pension einreicht. (Außerhalb der USA hat MTV in allen Territorien arge Probleme und verhandelt derzeit mit Bertelsmann über eine Beteiligung. Bertelsmann seinerseits sieht sich in der strategischen Sackgasse, weil man bei nationalen Musikkanälen wie VIVA den Einstieg verpaßt habe. MTV Europe-Chef Brent Hanson wiederum attestiert VIVA, zuletzt „drastisch verloren zu haben“. O heilige Konfusion!)
3. Auch beim Rundfunk werden wir um drakonische Maßnahmen nicht umhinkommen: Format-Radios, die rund um die Uhr ihren Mainstream-Quark noch breiter treten (und ergo ebenfalls den Erwerb der entsprechenden Platte überflüssig machen), werden nicht mehr bemustert Wird trotzdem gespielt, müssen Dauer-Dudler für die schleichende Repertoire-Entwertung richtig bluten – so lange nämlich, bis die entgangenen CD-Einnahmen refundiert sind.
4. Nicht zu vergessen: der Handel. Mann, was waren wir da blöd! Daß uns Media-Märkte & Kaufhausketten gleich kapitale Stückzahlen abnehmen, mag ja verlockend sein. Daß sie diese zum Dumpingpreis verhökern, um dem geköderten Kunden Die Neue Miele schmackhaft zu machen, hingegen weniger förderlich. Der kleine Plattenhändler mit der größeren Repertoire-Tiefe beißt ins Gras – und schon haben die musikalischen Massengräber auf der grünen Wiese endgültig das Sagen. Und obendrein die Frechheit, eine Erhöhung des Mengenrabattes zu fordern. Auch wenn’s böses Blut gibt: Kaufhäuser werden ab sofort nicht mehr beliefert! Tja, das war’s eigentlich schon. Ein Wort noch zu der desolaten Erfolgsquote bei den Neu veröffentlichungen. Statistisch sind neun von zehn veritable Flops-und fließen als solche gleich in die Mischkalkulation ein. Das darf nicht sein. Um die Trefferquote bei der leidigen Veröffentlichungs-Lotterie auf ungeahnte Höhen zu treiben, bietet die ROLLING STONE-Redaktion mit der ihr eigenen Bescheidenheit an, künftig die Vorselektion zu übernehmen und pathologische Repertoire-Metastasen mit einem sauberen Schnitt abzutrennen. Und das völlig kostenlos!
„Schluß mit dem Schwachsinn“ höre ich da rufen? „Gockel, go home“? Okay, ist eh alles gesagt. Könnte mich sogar dazu durchringen, obiges Elaborat Humbug zu nennen und das Manuskript sofort zu verbrennen. Aber nur unter einer Bedingung! Daß wir nie wieder über die Krise jammern – bei den Gründen aber alle verfügbaren Äuglein zukneifen. Ja?