Der Meister: Zum Tod von Marcel Reich-Ranicki
Heute starb der über Jahrzehnte einflussreichste, wichtigste und witzigste Literaturkritiker des Landes. Ein Nachruf von Arne Willander.
Er hat sich auch denen nachhaltig in Erinnerung gebracht, die mit Literatur nichts zu tun und die noch niemals eine Besprechung gelesen hatten. Was ein Kritiker ist und was ein Kritiker tut, das hat Marcel Reich-Ranicki exemplarisch und existentiell gezeigt. Der 1920 in Polen geborene und in Berlin aufgewachsene Autor hatte seine Heimat in der deutschsprachigen Literatur, war freilich auch in der polnischen bewandert. Unvergesslich sind Reich-Ranickis Schilderungen der Jugend in den 30er-Jahren, als er Theater und Oper besuchte und Lesungen im kleinen Kreis, als er die Klassiker las und stets ein Buch mit sich führte.
Der junge Intellektuelle wurde 1938 nach Warschau deportiert und musste seit 1940 im dortigen Ghetto wohnen; er organisierte Konzerte und war an der Untergrund-Bibliothek beteiligt. Kurz vor der Zerschlagung des Ghettos gelang ihm mit seiner Frau Tosia die Flucht; sie lebten fortan unter höchster Gefahr und gegen Bezahlung bei einem Polen. Dem Ehepaar Reich in ihrem Versteck war die Literatur Lebensmittel im wahrsten Sinne; sie erzählten sich all die Geschichten, die sie gelesen hatten. Und Reichs Fabulierlust amüsierte den oft betrunkenen Wirt, der sich gern seine improvisierten Scheherezaden anhörte. So überlebten sie; doch Reichs Eltern und sein Bruder wurden ermordet.
Ende 1944 begann Reich mit seiner Arbeit für die kommunistische Geheimpolizei, später für den Nachrichtendienst an der polnischen Botschaft in London; er nannte sich Marceli Ranicki. Nach seiner Entlassung aus dem Dienst betätigte er sich in Polen als Kritiker, der über deutsche Literatur schrieb – und umgekehrt für deutsche Rundfunksender über polnische Literatur berichtete. 1958 übersiedelte er mit Tosia und dem Sohn Andrzej nach Frankfurt am Main und arbeitete einige Zeit in der Redaktion der „FAZ“, bis Friedrich Sieburg seine Demission durchsetzte. Von 1959 an wohnte er in Hamburg-Niendorf, wo er der populärste Autor des Feuilletons der „Zeit“ wurde, außerdem ein gefürchteter Feuerkopf bei den Treffen der Gruppe 47. Dass er nicht Redakteur wurde, lastete Reich-Ranicki später dem Ressortleiter Dieter E. Zimmer an. Joachim Fest machte ihn 1973 zum Leiter der Literaturredaktion der „FAZ“, wo er der wirkungsmächtigste und wichtigste Experte des Landes war. Bis 1988 förderte Reich-Ranicki lautstark und streitlustig seine liebsten Autoren und kanzelte vorwiegend avantgardistische oder formal experimentelle Werke ab.
Seine wundersame zweite Karriere fand ausgerechnet im Fernsehen statt: Von 1988 an leitete er im ZDF das „Literarische Quartett“, einen Debattierzirkel mit Sigrid Löffler, Hellmuth Karasek und einem wechselnden Gastkritiker, die in überaus munterer Plauderei aktuelle Bücher erörterten. 1999 erschienen Reich-Ranickis erschütternde Memoiren „Mein Leben“, die zum Bestseller avancierten. Im Dezember 2001 endete das „Quartett“, doch der Unermüdliche redigierte weiterhin die „Frankfurter Anthologie“, eine Reihe mit Interpretationen von Gedichten, beantwortete in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ die oftmals etwas einfältigen Fragen von Lesern und gab eine Edition mit kanonischen Werken der Weltliteratur heraus – und diesen Kanon bestimmte er endlich selbst.
Polemisch und witzig, schlagfertig und charmant, ungerecht und apodiktisch wie kein anderer, verfeindete und versöhnte Marcel Reich-Ranicki sich mit beinahe allen Granden des Kulturbetriebs. 2011 starb Tosia, und der alte Herr verließ nur noch selten seine Wohnung. Bis zuletzt ärgerte er sich über den wöchentlichen „Spiegel“.
Heute starb der Mann, den sie „Literaturpapst“ nannten und der uns allen eine Vorstellung von Kritik gab, im Alter von 93 Jahren.