Der Marx Brother
Im Dienste von Frieden und Völkerverständigung: die ungewöhnliche Karriere des Dean Reed
Der ungeklärte Tod des sozialistischen Jugendidols bietet bis heute Anlass zu abstrusen Spekulationen. Stefan Ernsting versucht in seiner Reed-Biografie mit der Legendenbildung aufzuräumen, in Kürze folgt auch eine filmische Dokumentation über den Amerikaner in der DDR. Und sogar Hollywood hat sich gemeldet: Tom Hanks recherchiert schon seit Jahren den Stoff und will mit Steven Spielberg die bizarre Geschichte vom unbekanntesten Superstar aller Zeiten verfilmen.
„Von der Berliner Mauer bis Sibirien. Dean Reed aus Colorado ist der größte Star der Popmusik,. Reed wird von Russen und anderen Osteuropäern ah der prominenteste Amerikaner nach Präsident Ford und Henry Kissinger genannt.“ (People Magazine/1976)
Als man Dean Reed am 17. Juni 1986 aus einem See am Rande von Ost-Berlin zog, wurde hinter dem Eisernen Vorhang munter spekuliert. Hinter vorgehaltener Hand sprach man von einem Mord durch KGB, CIA, Mossad, Stasi oder zumindest eine eifersüchtige Frau. Offiziell meldete die Presseagentur der DDR einen „tragischen Unglücksfall“. Doch daran mochten vor allem die Fans des sozialistischen Superstars nicht glauben. Ein Mann wie Dean Reed fiel nicht versehentlich in einen See und ertrank in knietiefem Wasser. Aber auch die Stasi, die Dean Reed seit seinem mysteriösen Verschwinden vier Tage zuvor quer durch die DDR gesucht hatte, stand vor einem Rätsel.
Dean Reed spielte in 18 Filmen mit, produzierte 13 LPs und gab Konzerte in 32 Ländern. Bei keinem anderen Weltstar verliefen die Grenzen zwischen Pop und Propaganda so fließend wie bei ihm. 1938 in einem staubigen Nest am Rande von Denver/Colorado geboren, war Dean Reed ein Amerikaner wie aus dem Bilderbuch. Als junger Mann hatte er in Denver bereits erste Erfolge als Countrysänger gefeiert und eine ausgeprägte soziale Ader bewiesen. Im Sommer 1958 zog er nach Hollywood, wo er einen siebenjährigen Vertrag bei Capitol Records unterschrieb. Er bekam Schauspielunterricht und lebte für kurze Zeit seinen amerikanischen Traum. Reed glaubte, der Erfolg würde sich automatisch einstellen, aber die Realitäten der Musikindustrie in den späten 50er Jahren holten ihn schnell auf den Boden der Tatsachen zurück. Nach einer Reihe von Singles, von denen sich lediglich „The Search“ für eine Woche auf Platz 96 der Billboard-Charts halten konnte, verlor man bei Capitol schnell das Interesse. Zudem mochte sich Reed den Spielregeln der Branche nicht unterwerfen. Die Hauptrolle in der TV-Serie „Wanted Dead or Alive“ lehnte er ab, weil er als Pazifist keine Waffe tragen wollte. Man verpflichtete stattdessen den jungen Steve McQueen, der mit dieser Rolle zum Star avancierte.
i960 landete Reed mit der Single „Our Summer Romance“ überraschend einen Hit in Südamerika. Er zögerte nicht lange und tourte 1961 von Chile nach Argentinien und wieder zurück. Südamerika war verrückt nach dem Yankee mit dem Superhit. Sein politisches Engagement und die entwaffnende Ehrlichkeit stießen südlich der USA auf riesige Resonanz. Man nannte ihn „den roten Elvis“ – und die Mädchen lagen ihm zu Füßen.
Für Reed wurde die Tour zur prägenden Erfahrung. Als typischer Amerikaner hatte er nie Gedanken über den Rest der Welt verschwendet. Er bekam Kontakt zur politischen Opposition in Ländern wie Chile, Argentinien oder Brasilien und sah zum ersten Mal die bittere Armut in den südamerikanischen Elendsvierteln. Er war geschockt von den Lebensumständen seiner neuen Freunde. Zurück in Hollywood, packte Reed umgehend wieder seine Koffer und zog nach Südamerika wo er sich schnell zum politischen Aktivisten entwickelte. Er lernte Pablo Neruda, Salvador Allende und Victor Jara kennen, die schon bald zu seinem Freundeskreis zählten. Er protestierte öffentlich gegen die Politik der USA und bezeichnete sich als Marxist. Ab 1962 lebte er in Mexiko, Argentinien oder Chile, wo er kleine Rollen in Teen-Komödien bekam, im Fernsehen auftrat und sich immer mehr zum Agitator entwickelte.
1965 wurden die Sowjets auf Reed aufmerksam. Seine Vergangenheit als mäßig erfolgreicher Sänger und Schauspieler mit marxistischen Idealen war die ideale Voraussetzung, um im popkulturell ausgehungerten Sozialismus zum Rockstar aufgebaut zu werden. Man lud ihn nach Moskau ein und organisierte für ihn Konzerte in riesigen Hallen. In den nächsten Jahren sollte er als erster Amerikaner mehrfach durch die Sowjetunion touren und weit darüber hinaus. Für die Menschen in Russland, Nicaragua, Kuba, Bangladesch, Irak, im Libanon oder der Mongolei war er der erste Popstar, den sie je zu Gesicht bekamen.
Reed wohnte zu dieser Zeit weiter mit seiner ersten Frau Patricia Hobbs in Argentinien, wo er jede Woche eine Fernsehsendung moderierte. Inzwischen hatte er sich mit seinen Protestaktionen in südamerikanischen Regierungskreisen bereits mehrfach unbeliebt gemacht; auch die amerikanischen Geheimdienste waren auf ihn aufmerksam geworden. Man machte ihm Schwierigkeiten, aber Reed ließ sich auch von massiven Drohungen nicht abschrecken. Nachdem er in seiner TV-Show die erste Frau auf dem Mond, die charmante Kosmonautin Valentina Tereschkowa, präsentierte, hatte er den Bogen allerdings überspannt. In Buenos Aires wurde er von ein paar bulligen Herren mit Sonnenbrillen in einen dunklen Keller verschleppt. „Ich werde es nie vergessen: Da war eine Tür, auf der oben stand: PRO SOWJET“, erinnerte sich Reed später. „Ich wurde reingebracht, und sie sagten: ,Wie viel haben sie bezahlt, dass du das gezeigt hast?‘ Und: ,Bist du ein Agent des Kremls?‘ Letztendlich wurde ich 1966 aus Argentinien rausgeschmissen, weil der Staat sagte, dass ich ein Risiko für die Sicherheit der Nation sei.“ In Buenos Aires wurde wiederholt auf ihn geschossen.
Über Spanien verschlug es ihn 1967 nach Rom, wo er für drei Jahre einen Vertrag als Schauspieler bekam. Er wirkte neben Yul Brynner in Spaghetti-Western wie „Adios Sabata“ (1968) oder Klamotten a la „The Cousins of Zorro“ (1969) mit. Aber auch in Italien eckte er an. Reed konnte und wollte seine politische Überzeugung nicht verheimlichen. Er solidarisierte sich bei jeder Gelegenheit mit denen, die er zu den Unterdrückten dieser Welt zählte – ob das nun hungernde Kinder in Peru oder unterbezahlte Beleuchter eines italienischen B-Movies waren. Solange er sich als Kämpfer für Frieden und Freiheit inszenieren konnte, war er in seinem Element. Als Künstler stagnierte er allerdings bereits am Anfang seiner Karriere.
Nach der Geburt seiner ersten Tochter Ramona ließ sich Reed scheiden. Er tourte weiter um die Welt und tauchte erneut in Chile auf, um in den Slums für die „Unidad Popular“ zu singen und einen Dokumentarfilm zu drehen. Für ein Jahr unterstützte er mit Victor Jara das Linksbündnis ihres Freundes Salvador Allende und trat bei Parteiveranstaltungen auf. In Italien wurde sein Vertrag nicht weiter verlängert, neue Angebote blieben aus. Seine große Klappe und das politische Engagement schienen eine Karriere im Westen unmöglich zu machen. Im Osten hingegen war er noch immer ein gefragter Mann.
Im Herbst 1971 reiste Reed erstmals in die DDR, um bei der Leipziger Dokumentafilmwoche seinen Film über die „Unidad Popular“ zu zeigen. Bei einem Empfang traf er eine Dame namens Wiebke, die er umgehend ehelichte. Der Umzug in die DDR war die logische Konsequenz. Man bot ihm die Hauptrolle in „Aus dem Leben eines Taugenichts“ an. „Ich wäre auch nach Moskau gezogen, wenn ich mich dort verliebt hätte“, kommentierte er später seinen Umzug.
Reed wurde gefeiert und trat regelmäßig im DDR-Fernsehen auf, wo man ihn als Weltstar präsentierte, der aus politischen Gründen hinter die Mauer gezogen war. Er sang für die FDJ oder wo auch immer man ihn“einsetzen“ konnte. Reed mimte den amerikanischen Rockstar und kokettierte mit seinem Status. In Interviews suggerierte er immer wieder, „Our Summer Romance“ hätte es in den US-Charts auf Platz 2 geschafft; als Beweis diente ihm die Playlist eines kleinen Radiosenders in Denver. In den offiziellen Billboard-Charts war davon nichts zu lesen, aber die Story ließ sich in der DDR nicht so leicht überprüfen. Auch die sowjetische Propaganda übernahm die Legende und verkündete immer wieder, Reed habe in den USA große Erfolge gefeiert – und das Land nur aus Protest gegen den Vietnamkrieg verlassen. Reed wurde im ehemaligen Ostblock unantastbar. Er nahm diverse LPs auf, durfte sich für die DEFA als Filmregisseur versuchen und schüttelte regelmäßig die Hände von Staatsoberhäuptern, die sich gern mit dem illustren Amerikaner ablichten ließen.
In einem Interview für den „Tagesspiegel“ klagte Reed seinerzeit: „Überall hat man mich rausgeschmissen. Natürlich habe ich auch in der DDR manche Probleme und ich will hier nicht alles verteidigen. Aber es gibt in diesem Staat Prioritäten, mit denen ich mich als Marxist identifiziere. Was ist da immer im Westen die Rede von der ‚Freiheit des Reisens‘? Mein Vater aus Colorado ist auch nie ins Nachbarland Mexiko gereist! Wichtiger ist doch in der DDR, dass keine Arbeitslosigkeit herrscht.“
Reed protestierte gegen Atomkraft, Militär-Juntas und den Krieg in Vietnam, aber sein Erfolg im Osten machte ihn blind für die politische Unterdrückung in der DDR. Er hatte einen amerikanischen Pass und genoss die volle Reisefreiheit, pries in Interviews aber stets die Vorzüge der Mauer. Seine Naivität und die Akzeptanz durch hochrangige Parteibonzen paarten sich dabei ideal mit Reeds künstlerischer Mittelmäßigkeit. Während im Westen Sozialkritik in die Popmusik Einzug hielt, blieb Reed bei seinem Standard-Repertoire zwischen „My Way“ und „Guantanamera“. Sein Erfolg in den Siebzigern und das spätere Scheitern an den eigenen Ansprüchen stand stellvertretend für das Scheitern der DDR-Kulturpropaganda und einer staatlichen Popkultur, die jungen Menschen hinter dem Eisernen Vorhang vergeblich einen Hauch von weiter Welt vermitteln wollte.
Die DDR war stets bemüht, der kapitalistischen Kultur mit einem Gegenentwurf zu begegnen. Im Gegensatz zum klassischen Western erzählte man die amerikanische Geschichte aus der Perspektive der Ureinwohner und hatte 1965 mit „Die Söhne der großen Bärin“ ein eigenes Sub-Genre gestartet: die Indianerfilme. 1975 ritten Dean Reed und der jugoslawische Superstar Gojko Mitic als „Blutsbrüder“ über die Leinwand. Der Film wurde zu einem der erfolgreichsten DDR-Filme überhaupt. Reed gab den Weißen, den das Schicksal an die Seite der armen Rothäute führte. Er selbst hatte das Drehbuch verfasst und schrieb sich die Rolle auf den Leib. In einer von Pathos triefenden Szene ist er vor einem Meer brennender Tippis zu sehen und zerbricht vor Zorn über die Massaker an den Indianern eine amerikanische Flagge. Gojko Mitic, der Häuptling, durfte nach der Wende noch als alternder Winnetou in Bad Segeberg auftreten.
Mitic gab bereits seit zehn Jahren den Häuptling im Ostblock, doch auch in seiner sozialistischen Spielart war der Western 1975 längst ausgereizt. Reed kam zu spät, um auf einen Zug aufzuspringen, der längst den Endbahnhof erreicht hatte. Dennoch: Bei einem Staatsbesuch in der DDR wünschte sich selbst Yassir Arafat im offiziellen Protokoll ein Treffen mit Reed. Arafat war ein Fan von italienischen B-Movies und verstand sich blendend mit dem Amerikaner. Beide trafen sich mehrfach und planten gemeinsam einen DEFA-Film über die Kinder im Libanon, der allerdings nie realisiert wurde.
Die Geburt seiner zweiten Tochter Natascha markierte 1976 das Ende seiner zweiten Ehe. Wenig später fand er in der prominenten Schauspielerin Renate Blume die Liebe seines Lebens. Das Paar heiratete 1981 und verlieh dem DDR-Alltag einen kleinen Hauch von Glamour. Ein Jahr später drehte Reed mit der Erfolgsklamotte „Sing, Cowboy, Sing“ den ersten DEFA-Film, der ausschließlich als Unterhaltung konzipiert war. Er ließ sich wieder als Cowboy feiern, der für das Gute in den Kampf ritt und stets brav zurück in den Osten kehrte, aber inzwischen nahm man ihn immer weniger ernst. „Wir wollten aus dem Käfig DDR lieber raus. Und da kommt ein Amerikaner, aus einem Land, in dem es alle Möglichkeiten des Films gibt, und marschiert in den Käfig freiwillig“, kommentierte Armin Mueller-Stahl im Dokumentarfilm „Der rote Elvis“ – und schüttelte den Kopfüber einen Kollegen, dem er durchaus eine Karriere in den USA zugetraut hätte. „Ich dachte: Mensch, ein toller Typ. Wieso kommt der hierher? Das ist doch ein amerikanischer Star, der kann doch Karriere in Amerika machen. Was will der hier? Hier ist er doch sofort wie ein Spielauto, was sich immer am Tisch so rumdreht und in alle Richtungen fährt, aber über die Kante nie hinaus. Was will der eigentlich hier in diesem kleinen Land? Wen will er erreichen?“
Der „Berliner Zeitung“ sagte Reed 1981: „Für mich gibt es folgende Alternativen zu leben: Ein Mensch kann auf einer breiten, graden Straße gehen, die gut beleuchtet ist und wenig Schlaglöcher aufweist. Er wird nicht stolpern, er wird nicht viel weinen, aber er wird auch wenig lachen. Oder der Mensch nimmt seinen Weg durch eine kleine Straße, auf der er durch tiefe Löcher stolpert, auf die Nase fällt und sich die Knie zerschlägt. Aber er steht wieder auf und geht weiter. Und ich meine, ein Künstler muss durch diese kleine Straße gehen, sonst kann sein Werk keine Emotionalität besitzen und vermitteln. Und all jene Leute, die Angst vor dem Abenteuer haben, etwas neu zu probieren, muss er mitführen.“
1983 reiste Reed erneut nach Chile – ein Land, das sich gerade gegen den Diktator Pinochet auflehnte. In den umkämpften Straßen spielte er die verbotene Hymne „Venceremos“. Sein naiver Internationalismus konnte in der DDR nicht mehr funktionieren, aber in Südamerika war der rote Elvis wieder ganz der Alte. Mochte man ihn als Künstler auch lächerlich finden, so bewies er einmal mehr, dass es ihm mit seinem Engagement ernst war. 1984 unterstützte er den Kampf von Daniel Ortega in Nicaragua und hielt eine Rede gegen die Politik Ronald Reagans vor der amerikanischen Botschaft. Im Herbst desselben Jahres wurde er in Uruguay verhaftet. Jeder seiner symbolischen Proteste hätte in der DDR allerdings mit einem längeren Gefängnisaufenthalt geendet. Viele Menschen, die nicht seine Reisefreiheit genießen durften, empfanden ihn schon lange als lächerlichen Anpasser und narzisstischen Salon-Bolschewiken. Seine Haare wurden grauer – und die kreischenden Mädchen vor seinem Haus waren längst erwachsen. Es wurde stiller um den roten Elvis, und in Moskau begann sich der Wind zu drehen. Schlagworte wie Glasnost und Perestroika machten die Runde. Als die hilflose Ikonographie sozialistischer Popkultur Anfang der Achtziger immer mehr vom Einbruch politischer Realitäten verdrängt wurde, bekam der linientreue Cowboy irgendwann kaum noch Auftritte.
Nach einem Interview für das amerikanische TV-Magazin „60 Minutes“ bekam Reed Drohbriefe aus seiner Heimat. Er hatte im US-Fernsehen die Mauer verteidigt und Reagan mit Stalin verglichen. Eine Rückkehr in seine Heimat schien unter diesen Umständen ausgeschlossen. Reed schloss sich in sein Schlafzimmer ein. Immer wieder las er die hasserfüllten Briefe seiner Landsleute. Verzweiflung stieg in ihm hoch. Man engagierte ihn nur noch als Einheizer für die DDR-Schlagerparade – und seine Sucht nach Harmonie trieb ihn nur noch tiefer in die Depression. Dean Reed, der oft von sich selbst in der dritten Person sprach, konnte es nicht ertragen, langsam aber sicher zu verblassen. Er hatte nie einen Hit gehabt, an den sich jemand erinnern konnte, seine letzte LP „Country“ war ein gewaltiger Flop, und ein heftiger Streit mit seiner Frau gab ihm den Rest.
Bis zu seinem Tod arbeitete er an „Blutiges Herz“, einem Film über das Massaker im Indianerreservat Wounded Knee 1973 und die Gründung des American Indian Movement (AIM). Wenige Tage vor Beginn der Dreharbeiten ertrank Reed im Zeuthener See. Nach einem Streit mit Renate Blume hatte er am Abend des 12. Juni 1986 sein Haus verlassen um die Nacht bei Gerrit List, dem Produzenten von „Blutiges Herz“, zu verbringen. Hier verlor sich seine Spur. Erst drei Tage später entdeckten Volkspolizisten sein Auto. Die genauen Umstände seines Todes blieben ungeklärt. Der rebellische Cowboy starb einsam und wenig heroisch. Auch die Stasi konnte die letzten 24 Stunden im Leben des Dean Reed nicht rekonstruieren. Hektisch verbreitete man die Mär von einem Unfall, aber längst war sein Ableben den DDR-Medien nur noch eine Randnotiz wert. Ohne die Propaganda-Maschine war er wieder ein Niemand.
Nach dem Fall der Mauer allerdings machte die Nachricht von einem Abschiedsbrief die Runde. Erich Honecker habe den Brief in seinen persönlichen Safe gelegt und den Selbstmord des sozialistischen Vorzeige-Amerikaners vertuschen lassen. Honecker bereitete gerade seinen Besuch in den USA vor und wollte unangenehme Schlagzeilen vermeiden. Die Angst vor einem internationalen Skandal aber erwies sich als völlig unbegründet: Die Amerikaner hatten auch nach seinem ungeklärten Tod kein Interesse an ihrem ehemaligen Mitbürger.
Die Mauer fiel – und Reed wurde schnell vergessen. Seine Platten landeten auf Flohmärkten, man machte sich über ihn lustig. Nach der Wende wurde das Original seines Abschiedsbriefes von dem Innenministerium der Übergangsregierung in die Presse lanciert und 1990 veröffentlicht. „Lass alle vorschrittlichen Menschen eine besseres gerechtiges und friedliches Welt schaffen“, wünschte sich Reed darin in eigenwilligem Deutsch. „Socialismus ist noch nicht erwachsen. Meine Grüße auch an Erich – Ich bin nicht mit alles einverstanden.“
Mit dem Auftauchen des Abschiedsbriefes begann die Gerüchteküche neu zu brodeln. Sämtliche Verschwörungstheorien im Falle Dean Reed waren vor allem auf der Tatsache begründet, dass die genauen Umstände seines Todes tatsächlich vertuscht worden waren. Wenn es auch nicht unwahrscheinlich schien, dass einige mächtige Männer ihn lieber von der Bildfläche verschwinden lassen wollten, war Reed in eine Falle geraten, die er sich letztlich selbst gestellt hatte. Seine musikalische Karriere hatte den Richtlinien derer zu folgen, die ihm seine privilegierten Auftrittsmöglichkeiten verschafften. Er hatte zu spät bemerkt, dass er sich verändern musste. Als Mann von gestern, der bis zu seinem Tode die Mauer verteidigte, konnte er sich im Osten nur noch schwer behaupten, wenn es um Reformen ging. Auch seine Form von Protest hatte sich verbraucht. Reed hätte die keimende Opposition innerhalb der DDR unterstützen können, aber für solche Ansätze gab es kaum Anzeichen. Reed war das Opfer seiner eigenen Inszenierung geworden.
Seine letzten Jahre waren geprägt von Depressionen – und ein Selbstmord schien der einzige Weg, die eigene Legende für die Ewigkeit zu konservieren. Wer Reed persönlich gekannt hatte, hatte an der Selbstmord-Theorie keinen Zweifel. In seinem privaten Umfeld bedauerten allerdings auch hartgesottene Intellektuelle, die Reed immer als Schlagerclown abgetan hatten, dass man seine Depressionen hinter der lächelnden Fassade nicht früher bemerkt hatte.
Jutta Voigt schrieb am 13. Juni 1987 in der „Leipziger Volkszeitung“: „Er war der Parlamentär mit der weißen Fahne zwischen den Völkern, keiner hatte ihn ausgeschickt, niemand ihn aufgerufen, nur sein eigenes Gewissen. (…) Dass er entgegenkommend war, im tiefen Sinne des Wortes, gehörte zu seiner Botschaft und wurde, meine ich, von uns öfter nicht so verstanden, wie er es meinte: als sein Ausdruck einer inneren Überzeugung, nicht als Äußerlichkeit. Das Keep-smiling, der Sonnyboy-Touch waren ebenso seiner Herkunft geschuldet wie das Schwärmerische und Sentimentale seiner künstlerischen Präsentation. Etwas Tröstliches hat Dean Reeds früher Tod: Das Bild, das von ihm bleibt, ist unvollendet, aber auch unzerstört. Er hat nicht alles erreicht, aber er hat auch nichts aufgegeben, schon gar nichts verraten. Vom Moskauer Filmfestival im letzten Jahr flogen wir in derselben Maschine zurück nach Berlin. Er bemerkte meine Angst vorm Fliegen und fragte: ,Soll ich für Dich singen? Dann brauchst Du keine Angst mehr zu haben.“
Es dürfte nicht überraschen, dass man irgendwann auch in seiner amerikanischen Heimat auf das schillernde Leben des singenden Friedenskämpfers aufmerksam wurde. Tom Hanks und Steven Spielberg wollen demnächst das Leben und Sterben von Dean Reed mit „Comrade Rockstar“ auf die große Leinwand bringen. Hanks recherchiert dafür seit 2004 auf eigene Faust und kommt regelmäßig nach Berlin, um Interviews mit Zeitzeugen zu führen. Alle, die dem Hollywoodstar dabei begegnet sind, betonen einhellig, wie ernsthaft Hanks seine Regiearbeit angeht. Man ist verwundert, wie detailliert er sich inzwischen in der Geschichte der DDR auskenne. Die Berliner Produktionsfirma Totho kam Hollywood allerdings zuvor. Unter der Regie von Leopold Grün arbeitet man in Deutschland bereits seit 2002 an einem Dokumentarfilm mit dem Titel „Der rote Elvis“, der bereits 2007 in die Kinos kommt. Regisseur Grün und seine Crew haben dafür Material aus aller Welt gesammelt und endlose Interviews geführt. Egon Krenz, Armin Mueller-Stahl und Isabel Allende kommen zu Wort, und seltene Aufnahmen von Dean Reed bei einem Tänzchen mit Yassir Arafat sind ebenfalls zu sehen. Postum bekommt Dean Reed nun selbst in den USA die Aufmerksamkeit, die ihm sein Leben lang verwehrt blieb. Der neue Rummel um seine Person hätte ihm sicher gefallen. ¿