Der kleine Horror-Laden
Ist Schockrock Rebellion? Kann sein. Muss aber nicht.
Wenn Screamin‘ Jay Hawkins wissen wollte, wie das Wetter morgen wird, hat er dann mit Katzenknochen gewürfelt oder dem Wetterbericht im Radio gelauscht? Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vertraute er dem nationalen Wetterdienst. Auf der Bühne jedoch, da war er der Schrecken aller aufrechten Christenmenschen, ein wahnsinniger Voodoo-Priester, dessen Spazierstock ein Totenschädel zierte, und der mit dramatischer Stimme seine Obsessionen herausbrüllte: „I Put A Spell On You“ war sein größter Hit. Schockrock der Fünfziger. Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann? Arthur Brown, ex-Lehrer aus England, hatte keine. Und coverte 1968 nicht nur Hawkins‘ Hit, sondern setzte sich eine flammende Krone aufs bärtige Haupt und behauptete frech, er sei der Gott des Höllenfeuers. Mögen Hawkins und Brown zumindest originelle Charaktere gewesen sein, regierte in den Siebzigern das knallharte Kalkül. Alice Cooper und Kiss, das bedeutete Mimikry auf hohem Niveau. Kühle Geschäftsleute eher konservativer Prägung, die Nachfrage bemerkten und ein Angebot machten. Guillotinen auf der Bühne. Gespucktes Blut und lebende Schlangen. Klar, Jugendliche, die im Kino „Das Omen“, „Carrie – des Satans jüngste Tochter“ und „Der Exorzist“ gesehen hatten, wären über Hawkins‘ rollende Augen und seinen Spazierstock in Gelächter ausgebrochen. Ein komischer Opa. Mehr nicht.
Waren all diese Schockrocker Rebellen? Nur, weil konservative Elternverbände in der US-Provinz den Witz nicht kapierten? Weil sie ihre Söhne zwar nach Vietnam oder sonstwohin zum Sterben schickten, aber auf keinen Fall in Konzerte ließen, in denen Kunstblut floss? Und weil satanische Botschaften verkündet wurden (dazu musste man die Live-Show aber rückwärts hören)?
Der Metal, ohnehin höchst verdächtig, gebar eigene Horror-Genres, der Mummenschanz wurde immer perfekter. Bis dann echte norwegische Todesmetaller echte norwegische Kirchen anzündeten. Auch sie hatten den Witz nicht kapiert. Dann doch lieber Gwar, Slipknot und Lordy, letztere die bestaussehenden Teilnehmer des Eurovision Song Contest seit Siegels Rückzug. Sind all diese Schockrocker und Horrorverkäufer also nur exzentrisch gekleidete Imageträger? Nicht ganz. Die Rock-Düsternis 2.0 hält für alle Lebensentwürfe den passenden Soundtrack parat, gemacht von Leuten, die diese Lebensentwürfe mitunter teilen. Gothic-Bands im barocken Fledermaus-Look für alle Romantiker; Marilyn Manson, intelligent und politisch gebildet, für alle ernsthaft Verzweifelten; Todesmetaller verschiedener Intensität für all jene, die in ihr Religionsheft gerne umgedrehte Kreuze malen, auf dass sich der doofe 68er-Gutmensch-Lehrer schwarz ärgere. Da wird natürlich auch viel geredet, Esoterisches, Pseudo-Spirituelles, mitunter auch Unschönes und richtig Dummes. Was erstens nicht strafbar ist und sich zweitens zu verwachsen scheint, irgendwann hat die Rebellion offenbar dann doch ein Ende. Man sieht auf deutschen Straßen, in deutschen Großraumbüros und an deutschen Supermarktkassen jedenfalls nur wenige praktizierende Gothic-Metal-Satanisten um die 40. Und der Typ, der im Hessischen vor Jahren einen anderen Typen rituell verspeiste, sah eigentlich auch eher aus wie ein Versicherungsvertreter. Der Rock’n’Roll war jedenfalls völlig unschuldig.