Der ideologische Bruch
Der erhellende Roman-Essay „"Die Reise" des APO-Vordenkers und Ensslin-Gatten Bernward Vesper wird wieder aufgelegt
Als der deutsche Herbst abgefeiert wurde von den deutschen Intellektuellen – große Betroffenheit herrschte, die Zensur verinnerlicht war, die Diskussion über die Ursachen des Terrorismus einfror -, da kam diese ‚Reise‘ dem Feuilleton und den Betroffenheitsanalytikern wie gerufen. Jetzt konnte man am Phänotyp Bernward Vesper alles festmachen, was im politisch-gesellschaftlichen Bereich nicht mehr diskutiert werden durfte, konnte sich an diesem Mann – der zusätzlich die Höflichkeit besessen hatte, sich umzubringen, und sich deshalb selbst nicht äußern konnte – ,Hitlers Kinder‘ erklären und abarbeiten. Natürlich nicht abarbeiten, sondern abseiern.“
Jörg Schröder, Vespers Verleger und Herausgeber des Fragments, hat wohl recht: „Die Reise“ war als kollektive Autobiografie angelegt und wurde denn auch folgerichtig als „Nachlass einer Generation“ gelesen. Hier klappte vor aller Augen der unordentliche Hirnkasten eines potenziellen Terroristen auf, der Vesper vielleicht nur deshalb nicht wurde, weil er zu individualistisch und literarisch zu ambitioniert war. Das wollte man lesen damals, am Ende der 70er, und so wurden innerhalb weniger Jahre über 20 Auflagen gedruckt Später gab es gar eine Verfilmung. In der schönen, kürzlich durch die „Große MÄRZ-Kassette“ begonnene Reihe „MÄRZ Bücher im Area Verlag“ ist soeben ein lange fälliger Reprint dieses linken Klassikers erschienen.
Bernward Vesper war APO-Aktivist, gehörte zu den Vordenkern der 68er Generation und hatte maßgeblichen Anteil am Entstehen einer studentischen Protestkultur – er kannte sie alle: die Menschen von der Kommune I, Fritz Teufel, Dieter Kunzelmann, nicht zuletzt die „Selbsthelfer“-Fraktion, Ulrike Meinhof, Andreas Baader und Gudrun Ensslin, mit der er liiert war und ein Kind hatte. Vesper befruchtete und beeinflusste die Meinungsbildung der antiautoritären Bewegung nicht unerheblich – mit der von ihm gegründeten Reihe „Voltaire Flugschriften“ und der „Edition Voltaire“, Publikationen, die das theoretische Basiswissen für die Revolte bereitstellten.
Sein Vater war der „Reichsarbeiterdichter“, der Blubo-Literat Will Vesper, dessen völkischreaktionäre Propaganda das passende moderig-faulige Milieu bot, auf dem der Giftpils Hitler wachsen konnte – und der auch nach dem Zusammenbruch des dritten Reichs ein unverbesserlicher Nazi blieb. Seine Mutter, eine ultrakonservative Gutsherrin, die mit harter Hand über ihr Gesinde herrschte – und auch dem Sohn selten Pardon gab. Eine „Kindheitshölle“, der alltägliche Faschismus mithin, dem Vesper nachspürt, den er auch mit soziologischen Kategorien zu analysieren versucht und von dem er ausführlich in seinem Buch erzählt – vor allem von seinem Vater Will, den er eigentlich hassen müsste, aber dennoch liebt Eine solche Sozialisation hinterlässt ihre Spuren. Bernward assimiliert die Gedankenwelt des Vaters vollständig und löst sich erst in seiner Studentenzeit allmählich davon, tauscht gewissermaßen die alte gegen die neue linksradikale Weltanschauung, immer ahnend, dass er auch weiterhin mehr von der „ganzen nationalsozialistischen Scheiße“ in sich trägt als ihm lieb sein kann. Ja, ich wusste genau, dass ich Hitler war bis zum Gürtel“, lässt er sich im Drogenrausch vernehmen, „dass ich da nicht herauskommen würde, dass es ein Kampf auf Leben und Tod ist, der mein Leben verseucht, seine gottverdammte Existenz sich an meine geklebt hat wie Napalm…, ich muss versuchen, die brennende Flamme zu löschen, aber es ist gar nicht Hitler, ist mein Vater, ist meine Kindheit, meine Erfahrung BIN ICH…“
So zerrissen, wie es im Kopf dieses, aber eben nicht nur dieses Nazikindes ausgesehen hat, so zerrissen ist schon die vom Autor kalkulierte Struktur dieses „Romanessays“, die noch zusätzlich dadurch aufgebrochen wird, dass das Buch unvollendet geblieben ist Anfang 1971 nämlich wird Vesper nach Acid-Exzessen in die psychiatrische Klinik eingeliefert, wo er nach wenigen Monaten Selbstmord begeht. Aber selbst wenn Vesper fertig geworden wäre mit seinem Thema, also mit seinem Leben, wäre ein heterogenes, zerfasertes Konvolut herausgekommen. Das liegt zum einen an seiner Montage- und Collage-Technik. Er kompiliert disparateste Realien, Zeichnungen im Drogenrausch, Rechnungen, Briefe, Gedichte aus Zeitungsschnipseln usf.
Zum anderen zerfällt die „Reise“ in drei Erzählebenen: einer Gegenwartsebene, Vespers Bewusstseinsprotokoll zur Zeit der Niederschrift; einer Vergangenheitsebene, auf der er zunächst seine Reise von Dubrovnik über München nach Tübingen und später seine Kindheit in der Lüneburger Heide beschreibt; schließlich der Darstellung eines LSD-Trips in München, der zwischen den Zeiten hin- und herspringt, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftsschau in visionärer Hybris engführt. Diese Ebene der dopegestützten Imagination ist denn auch literarisch die anspruchsvollste; hier herrscht die ungezügelte, mitunter bis zur Unverständlichkeit freie Expression, die durchaus geeignet ist, alle Verdikte von der kunstfernen Studentenbewegung Lügen zu strafen.
Überhaupt spielt Rauschgift gerade in den theoretischen Passagen – eine wichtige Rolle in diesem Buch. Vesper macht aus der Droge ein Medikament, mit dem sich die früh angelegte, aus Erziehung und Sozialisation resultierende Konditioniertheit aufbrechen lassen soll – um so endlich die Emanzipation der auch weiterhin komplett faschistischen deutschen Gesellschaft ins Werk zu setzen. Vesper meint das alles ganz ernst, und dieser Ernst ist existenziell, denn er sah an sich selbst sehr genau, wie schwer es war, die anerzogenen Dispositionen wieder loszuwerden.
Zwei Jahre nach Erscheinen der „Reise“ besucht Jörg Schröder Vespers Schwester in Triangel und erhält Einblick in den Nachlass. Was er dort findet, sind Briefe „von Gudrun Ensslin an die ,National Zeitung‘, die sie im Auftrag eines Bernhard Michaelsen verfasste. In einer Zeit, als sie schon ,Gegen den Tod‘, also als junge Linke und Progressive durch die deutschen Lande zogen, tingelten sie als ihre eigenen Undercover-Agenten nicht nur für den Will Vesperschen Nachlass, sondern auch noch als junge Rechte mit aufrechten Texten von Michaelsen. Wohlgemerkt, ich spreche nicht von Entwicklung, wie Bernward das in der ,Reise‘ darstellte, der junge Nazi, der sein Damaskus-Erlebnis hinter sich hat. Nein, eine lange Zeit war der junge linke Bernward Vesper gleichzeitig auch der rechte Bernhard Michaelsen, der mit dem Scheißdreck vom Lippoldsberger Kreis und dem anderen Schnarchzapfen-Nazimurks korrespondierte und paktierte.“
Eine gruselige Schizophrenie. Der ideologische Bruch Deutschlands geht hier mitten durch eine Person. Auf Dauer war für Bernward Vesper soviel Ambivalenz und existenzielle Zerrissenheit wohl nicht auszuhalten.