Der heilige Narr
Er war der ultimative Protestsänger und stand doch immer in Bob Dylans Schatten. Das tragische Leben des Phil Ochs.
Im Januar 1964 schreibt Bob Dylan einen Leserbrief an das „Broadside“-Magazin, damals das Leib- und Magenblatt der US-Folkszene. In der Vergangenheit hat die Zeitschrift nicht nur einige seiner frühen Protestsongs abgedruckt, sondern auch die Karrieren anderer Greenwich-Village-Größen befördert – etwa die von Phil Ochs, in dem Dylan seinen einzigen ernst zu nehmenden Konkurrenten sieht. „Ich kann mit seinem Tempo einfach nicht mithalten“, schreibt Dylan, der Ochs trotz der Rivalität seinen Freund nennt. „Er wird einfach besser und besser und besser.“
Tatsächlich steht Ochs zu diesem Zeitpunkt im Zenit seiner Karriere. Die Songs fließen ihm nur so aus den Fingern – wütende, aber doch eloquente Protestlieder, die mit ihrem beißenden Witz und ihrer poetischen Wortgewalt so unverblümt sind wie die Schlagzeilen, auf die sie sich oft genug beziehen. Unter ihnen sind Protest-Klassiker wie „I Ain’t Marching Anymore“, „Draft Dodger Rag“, „Talking Vietnam Blues“, „The Power And The Glory“ oder „Too Many Martyrs“ – Songs, die John Lennon dazu veranlassen, ihn als „den wichtigsten Schreiber amerikanischer Protestmusik“ zu bezeichnen. 1971, als er gerade das „Free John Sinclair“-Benefizkonzert auf die Beine stellt, lässt es sich Lennon nicht nehmen, Ochs persönlich um seine Teilnahme zu bitten.
Tatsächlich aber ist dessen Karriere Anfang der Siebziger bereits auf dem Tiefpunkt angekommen. Sein Leben liegt in Scherben, wenige Jahre später wird er selbst endgültig einen Schlussstrich ziehen.
1964 aber ist er das Aushängeschild der amerikanischen Linken, der Bürgerrechtsbewegung, der Kriegsgegner. Er hat einen passenden Song für jede Gelegenheit und ist – anders als Dylan – politischer Aktivist mit Haut und Haar. Er ist immer zur Stelle, wenn irgendwo protestiert wird, er spielt für streikende Bergleute in Kentucky, bei Civil-Rights-Veranstaltungen, Vietnam-Protestmärschen oder studentischen Versammlungen. „I Ain’t Marching Anymore“ wird dabei seine Visitenkarte, auch wenn ein Song wie „Here’s To The State Of Mississippi“ ungleich prägnanter ist. Ochs schreibt ihn, nachdem drei Mitglieder der Bürgerrechtsbewegung in Mississippi entführt und ermordet wurden: „Here’s to the land you’ve torn out the heart of/ Mississippi, go find yourself another country to be part of.“
Es waren Worte, für die man sich in weiten Teilen der USA schnell eine Kugel einfangen konnte. „Wenn wir in den Südstaaten waren“, so Ochs‘ Bruder und früherer Manager Michael, „gab es mehrfach Situationen, da ich ihm sagte:, Phil, du wirst uns noch beide umbringen.‘ Aber er verschwendete nie einen Gedanken an seine eigene Sicherheit.“
Als sich Bob Dylan von der Folk-Bewegung abwendet, wird allgemein erwartet, dass nun Ochs den Thron besteigen wird. Doch obwohl die Teilnehmer von Protestmärschen seine Lieder singen und seinen Namen rufen, liegen Ochs-Platten wie Blei in den Regalen. Er wird nie der Star, zu dem Dylan in den nächsten Jahren aufsteigen sollte. Im Gegenteil: Was ihn in der Zukunft erwartet, sind Wahnsinn, Alkoholismus, Depressionen, manische Anfälle, Gewalt, Armut und Selbstmord.
1975 schläft Ochs, mittellos und betrunken, in Greenwich Village auf der Straße. Ein Jahr später nimmt er sicht das Leben. Und fast umgehend wird der Mantel des Schweigens über ihn ausgebreitet. „Es gab im US-Fernsehen eine Dokumentation über amerikanische Protestsänger, in der er nicht einmal erwähnt wurde“, sagt sein Bruder ungläubig. „Dann erscheint ein CD-Boxset über die Folksinger aus dem Village – und Phil ist nicht dabei? Ich mag nicht glauben, welche Scheiße da abläuft.“ In seiner Autobiografie „Chronicles“ findet Dylan über viele seiner Village-Kollegen wohlwollende Worte, aber Ochs glänzt durch Abwesenheit. Ebenso fehlt er in Scorseses Dylan-Doku „No Direction Home“. Die Vermutung, dass der einst erbitterte Wettstreit zwischen den beiden dabei eine Rolle spielt, ist sicher nicht aus der Luft gegriffen.
Phil Ochs wurde im Dezember 1940 in El Paso/Texas geboren. Sein Vater, ein Arzt polnischer Abstammung, war als US-Soldat bei der Ardennen-Offensive 1944 schwer traumatisiert worden und kämpfte seitdem mit psychischen Problemen. Die schottische Mutter war ernst und streng. „Wir zogen oft um“, erinnert sich Phils Schwester Sonny. „Phil hatte nie wirkliche Freunde. Er war schüchtern und introvertiert und sah ununterbrochen Filme – das war seine Art, mit der Situation fertigzuwerden. Unsere Eltern waren völlig unpolitisch. Mein Vater war manisch-depressiv und verbrachte nach dem Krieg zwei Jahre in einer Anstalt, meine Mutter war ebenfalls nicht mit sich im Reinen und krittelte ständig an uns rum. Es war nicht gerade das, was man eine intakte Familie nennt.“
Phils Leben nimmt eine Wendung zum Besseren, als er sein repressives Elternhaus hinter sich lässt. Nachdem er sich auf einer Militär-Akademie in Virginia immatrikuliert hat, fängt er mit dem Schreiben von Kurzgeschichten an. Nach dem Abschluss wechselt er auf die Ohio State University, wo er als Hauptfach Journalismus belegt – und einen Studenten namens Jim Glover kennenlernt, der sich als zentraler Einfluss auf sein künftiges Leben herausstellen soll. Glover macht ihn mit der Musik von Woody Guthrie, Pete Seeger und den Weavers bekannt und animiert ihn auch, sich politisch zu engagieren. Sie gründen ein Duo – „The Singing Socialists“ -, und Ochs beginnt mit dem Schreiben von Liedern, die er „topical songs“ nennt: „topical“, da sie von konkreten Ereignissen inspiriert sind.
„Es war wirklich ein Wink des Schicksals“, so Sonny Ochs, „dass er sich auf der Uni das Zimmer mit Jim Glover teilte. Es war das Beste, was ihm passieren konnte. Jims Vater war ein überzeugter Sozialist mit radikalen Ideen, die auf Phil abfärbten – während Jim für seine musikalische Bildung zuständig war. Er gewann seine erste Gitarre, nachdem er mit Jim gewettet hatte, ob Nixon oder Kennedy bei der damaligen Präsidentschaftswahl gewinnen würde. Als Jim die Uni verließ und ins Greenwich Village zog, brach Phil sein Studium im letzten Schuljahr ab und folgte ihm einfach.“
Es ist 1962, als Ochs im Village eintrifft – ein Jahr nach Dylan, der sich bereits eine nennenswerte Gefolgschaft erspielt hat. Beide glauben, in ihrem Metier der Beste zu sein, und die Konkurrenz ist von Anfang an unvermeidbar. Doch es ist Dylans Karriere, die zuerst zum Höhenflug ansetzt, und wie so viele andere Kollegen muss auch Ochs sich damit arrangieren, in seinem Schatten zu leben.
Arthur Gorson, der damals als Ochs‘ Manager fungiert und enge Verbindungen zu den radikalen Studentengruppen SDS und SNCC pflegt, glaubt nicht, dass Ochs von Dylan verunsichert worden sei; anders als die Mehrheit der Village-Barden sei er von seinem Talent so überzeugt gewesen, dass Minderwertigkeitskomplexe überhaupt nicht zur Diskussion standen. „Phil hatte von allen die dickste Haut: Er war von sich selbst überzeugter als alle anderen, er hatte das größte Ego und war mit Abstand der Produktivste. Obwohl er sich manchmal von Dylans Anwesenheit irritiert fühlte, führte das zu keinerlei Selbstzweifeln. Im Gegenteil: Es bestärkte ihn eher darin, als kreativer Künstler zu wachsen. Die Stärke seines Repertoires bestand nun mal in der Provokation. Wenn ein Song, den er schrieb, nicht gefährlich war, wenn ein Song nicht das Potenzial hatte, jemanden so auf die Palme zu treiben, dass er Phil an die Gurgel wollte, dann war es in seinen Augen auch kein substanzieller Song.“
Zum Entsetzen der Folk-Gemeinde schlägt Dylan 1965 den Weg zum Rockstar ein und verzichtet auf Songs, die ihnen in der Vergangenheit so viel bedeutet haben – und die nach wie vor Ochs‘ zentrales Anliegen sind. Die orthodoxe Linke wittert Verrat, schimpft selbstgerecht auf den kulturellen Überläufer – und ernennt Ochs zum neuen Statthalter. Ochs verteidigt Dylan zwar tapfer, verbaut sich aber letztlich die Zukunft, weil er mit der ideologischen Borniertheit der „Broadside“-Gemeinde selbst nicht konsequent bricht.
Ochs treibt einen weiteren Keil in ihre Beziehung, als er Dylans Single „Can You Please Crawl Out Your Window“ öffentlich kritisiert. Er mimt den „todesmutigen Miesmacher“, wie Dylanologe Michael Gray es so hübsch formuliert, als er Dylans Mittsechziger-Erfolg denunziert und speziell die neue Single durch den Kakao zieht: Sie besitze, sagt er, auch nicht annähernd die Qualität von „Positively 4th Street“, der vorhergehenden Single. Sie sitzen entweder in einem Taxi oder in Dylans Limousine (die Erinnerungen gehen auseinander), als Ochs ihn mit seiner Kritik konfrontiert, woraufhin Dylan wütend antwortet: „Du bist auch kein Folksänger, du bist Journalist“, und ihn kurzerhand aus dem Auto wirft. Auch wenn es seinem Naturell entspricht, dem Gegenüber grundsätzlich Kontra zu geben, müssen Dylans Worte ihn doch verletzt haben.
Ochs nahm drei Alben für Elektra auf – „All The News That’s Fit To Sing“ (1964), „I Ain’t Marching Anymore“ (1965) und „Phil Ochs In Concert“ (1966) -, die einige seiner nachhaltigsten Songs beinhalten und allesamt wohlwollend aufgenommen werden, allerdings miserabel verkaufen. (Einer Schätzung nach gehen in den ersten Jahren nach Veröffentlichung zusammen gerade mal 50.000 Exemplare über den Ladentisch.) Was macht er falsch – was Dylan und andere offensichtlich richtig machen? Auf den Elektra-Alben hört man fast ausnahmslos nur seine Stimme und die Akustikgitarre, der Sound ist nackt und nüchtern und nicht zu vergleichen mit den atemberaubenden Produktionen, die gleichzeitig das Licht der Popwelt erblicken. Irgendetwas muss passieren. Sein Bruder Michael ersetzt Gorson als Manager, er selbst verlässt Elektra, unterschreibt bei A&M, zieht nach Los Angeles und nimmt dort „Pleasures Of The Harbor“ auf, das von vielen als sein Meisterstück angesehen wird. Das Album ist eine gewagte Mischung aus barockem Folk und melodischem Pop, die Songs sind auch nicht mehr topical wie bisher, sollen aber trotzdem den Zustand der Nation in Zeiten von Krieg und Krise wiedergeben. Das Kernstück des Albums – und einer von Ochs‘ bemerkenswertesten Songs – ist das neunminütige „Crucifixion“, ein allegorisches Epos, das auf die Ermordung von John F. Kennedy anspielt. Es gibt Streicher-Arrangements und wilde elektronische Spielereien des Avantgarde-Musikers Joseph Byrd, der wenig später die Gruppe United States Of America ins Leben rufen wird. Das Album verkauft mehr als seine Vorgänger, aber weit weniger, als es sich Ochs erhofft hat. Er erhält einen weiteren Tiefschlag, als sich die angegrauten „Broadside“-Barden nun natürlich auch gegen ihn wenden und ihm – wie bei Dylan – den Verrat an der gemeinsamen Sache vorwerfen. „Phils Arbeit wurde einfach subtiler“, sagt seine Schwester Sonny zu seiner Verteidigung, „und war deshalb automatisch weniger Folk-orientiert. Was aber in keiner Weise bedeutete, dass er sein Engagement für die Bürgerrechte und die Kriegsgegner zurückschraubte.“
In der Tat organisiert er zwei Veranstaltungen unter dem Motto „The War Is Over“, obwohl der Krieg in Vietnam heftiger tobt denn je. Tausende ziehen mit ihm durch die Straßen von New York und Los Angeles. Zusammen mit radikalen Aktivisten wie Jerry Rubin, Abbie Hoffman, Paul Krassner und Ed Sanders von den Fugs ist er Mitbegründer der „Youth International Party“, auch Yippies genannt. Er ist 1968 in Chicago, als dort die „Democratic Convention“ stattfindet, die in einem Blutbad endet, als die Polizei auf friedvolle Demonstranten losgelassen wird.
„Chicago sollte eine Demonstration unserer Einigkeit gegen den Vietnamkrieg werden“, sagt Ed Sanders heute, „auch eine Feier des politischen Undergrounds. Aber außer Phil war eigentlich niemand der Rockstars, die ihr Erscheinen zugesagt hatten, tatsächlich vor Ort.“ Ochs ist von den Ereignissen in Chicago erschüttert. Auch wenn er nie ein Blatt vor den Mund nahm, wenn er die Regierung oder andere Missstände in Amerika kritisierte, so glaubte er doch immer an das Potenzial, an das uneingelöste Versprechen, das in diesem Land schlummerte. Tief in seinem Herzen war er ein Patriot, doch nun beginnt er zu verzweifeln.
„Chicago war die Totenglocke für diese Generation radikaler Idealisten“, sagt Sonny Ochs. „Sie glaubten wirklich, sie könnten die Welt verändern. Sie glaubten, man könne innerhalb des bestehenden Systems einen Kandidaten wählen, der den Krieg kurzerhand beendet. Chicago war für sie alle ein Schlag ins Gesicht: Niemand schien den Krieg aufhalten zu können. Und das war der Punkt, an dem Phil wirklich den Mut verlor – und an dem sein Abstieg begann. In seinem Herzen starb er bereits in Chicago.“
Ochs‘ Desillusionierung schlägt sich unmittelbar in der Musik nieder, die er von nun an machen wird. „Rehearsal For Retirement“ von 1969 zeigt auf dem Cover einen Grabstein mit den Worten „Phil Ochs (American). Born: El Paso, Texas 1940. Died: Chicago, Illinois 1968.“ Es gibt einen Vorgeschmack auf künftige Wirrungen, dass er sich inzwischen zu einer verwegenen Theorie versteigt: Es wird eine wahre Revolution nur dann geben, wenn Elvis Presley in die Rolle von Che Guevara schlüpft! Bei Nudie Cohn, dem Schneider in L.A., der vor allem für C&W-Größen kuriose Outfits fertigt, bestellt er einen Goldlamé-Anzug, wie ihn sonst nur Elvis trägt. Ochs posiert damit auf Promo-Fotos und schwingt dazu ein Maschinengewehr und eine Gitarre. Das Goldlamé-Motiv verwendet er auch auf seiner letzten Platte, die er höhnisch „Phil Ochs‘ Greatest Hits“ betitelt. Das Album, von Van Dyke Parks produziert, beinhaltet neben anderen bitteren Pillen auch die deprimierende Ballade „No More Songs“, mit der er seine eigene, wenig rosige Zukunft vorwegnimmt.
Ein Konzert in der New Yorker Carnegie Hall wird angesetzt, um „Phil Ochs‘ Greatest Hits“ zu promoten. Phil trägt seinen Goldlamé-Anzug und singt Songs von Elvis, Merle Haggard und Buddy Holly. Es ist ein einziges Desaster. Ochs möchte trotzdem, dass die Aufnahme als Live-Album veröffentlicht wird, doch A&M-Chef Jerry Moss weigert sich. (Eine limitierte Auflage erscheint 1975 in Kanada unter dem Titel „Gunfight At Carnegie Hall“.)
Als die Sechziger zu Ende gehen und ein neues, ominöses Jahrzehnt am Horizont auftaucht, beginnt der Stern von Phil Ochs endgültig zu sinken. Er trinkt mehr und schreibt weniger, obwohl ihm die Songs doch früher nur so zuflossen. Im August 1971 fährt er mit Jerry Rubin nach Chile, wo im Jahr zuvor die marxistische Partei von Salvador Allende die Regierung übernahm. Für kurze Zeit ist Ochs wieder in seinem Element, zumal er sich mit Viktor Jara anfreundet, dem chilenischen Folksinger und Aktivisten, der sich für Allende eingesetzt hat, dann aber in Argentinien festgenommen und nach Bolivien ausgeliefert wird.
1973 besucht Ochs Afrika, wo er in Daressalam überfallen, beraubt und so stranguliert wird, dass seine Stimmbänder für immer beschädigt sind. Nachdem er schon nicht mehr mental in der Lage war, neue Songs zu schreiben, ist es ihm nun auch unmöglich, seine alten Songs zu singen. Ochs ist überzeugt, dass die CIA hinter dem Überfall steckt – genauso wie sie hinter dem chilenischen Militärputsch im September 1973 steckt, der die Allende-Episode blutig beendet. Allende selbst wird bei einem Bombenangriff auf den Präsidentenpalast getötet, während Tausende von sogenannten Dissidenten, auch Victor Jara, im Stadion der Hauptstadt zusammengepfercht werden. Fünf Tage lang wird Jara gefoltert, geschlagen und mit Elektroschocks malträtiert. Die Hände werden ihm gebrochen – anderen Augenzeugen zufolge sogar abgehackt -, und die Folterknechte reiben ihm hämisch unter die Nase, dass er nun ja wohl nie mehr Gitarre spielen könne. Also singt er, und er singt die sozialistische Hymne „Venceremos“. Erst mit dem Maschinengewehr bringt man ihn für immer zum Schweigen.
Ochs ist am Boden zerstört. Seinem sich rapide verschlimmernden Zustand zum Trotz organisiert er „An Evening With Salvador Allende“. Pete Seeger, Arlo Guthrie, Dave Van Ronk und Dennis Hopper sagen ihre Teilnahme zu, aber die schleppenden Ticketverkäufe bekommen erst im letzten Moment Auftrieb, als auch Dylan seinen Auftritt bestätigt. Ochs ist allerdings zu betrunken, um seinen Triumph noch genießen zu können – und wird bis zum Ende seines Lebens eigentlich auch nie wieder aus seinem Rausch erwachen.
Am 30. April 1975 geht der Vietnam-Krieg offiziell zu Ende. Ochs mobilisiert noch einmal die Friedensbewegung, um den Waffenstillstand zu feiern. Über 100.000 Zuschauer finden sich im Central Park ein, um Harry Belafonte, Odetta, Pete Seeger – und auch Phil Ochs zu hören, der zusammen mit Joan Baez „There But For Fortune“ singt, einen ihrer großen Hits aus dem Jahr 1965.
„Es war ein bewegender Augenblick“, sagt Sonny Ochs, „auch wenn er körperlich schon in miserabler Verfassung war. Er hatte nur zwei Wochen Zeit, um das Konzert zu organisieren, und war in dieser Zeit völlig von der Rolle. Das Konzert war ein Erfolg, aber er selbst schien danach geradezu in sich zusammenzufallen.“
„Ich konnte verfolgen“, so Ed Sanders, „wie nicht nur sein Alkoholkonsum, sondern auch seine Panikattacken immer extremer wurden. Es war der Zeitpunkt, als er die Person von John Train annahm.“ John Butler Train ist die Hülle, in die Ochs schlüpft, wenn er es nicht länger aushält, Phil Ochs zu sein: ein derangiertes Alter Ego, das sich wutentbrannt darüber auslässt, dass Ochs ein wertloses, überflüssiges Lebewesen geworden sei – und aus diesem Grund auch von Train ermordet wurde.
Im Sommer 1975 ist sein Alkoholismus völlig außer Kontrolle. Er schläft in Gassen oder verkriecht sich in Heizkellern. Tagsüber torkelt er durch die Straßen – aufgedunsen, ungewaschen, wirr – und bricht in den Bars Streit vom Zaun. Er ist stets bewaffnet – entweder mit einem Hammer oder einem Eisenrohr, später mit einem Messer. Die meisten Lokalitäten, in denen er einst seine Erfolge feierte, erteilen ihm Hausverbot. Alte Freunde wie Van Ronk verriegeln die Tür, wenn er bei ihnen aufkreuzt. Obwohl man nach dem Allende-Konzert noch über eine gemeinsame Tour gesprochen hat, nimmt ihn Dylan nicht mit auf seine „Rolling Thunder Revue“ – was Ochs der endgültigen Verzweiflung wieder einen Schritt näher bringt.
Er fliegt noch einmal nach Los Angeles, wo er in Drecklöchern haust und eine Schneise der Verwüstung hinterlässt. Tom Waits erinnert sich, dass er mit einem Samurai-Schwert durch die Stadt läuft oder vor dem „Troubadour“ auf dem Boden schläft. Die Geduld von „Troubadour“-Besitzer Doug Weston hat aber auch ein Ende, als er einmal mit einer Machete an der Tür erscheint. Oder als er – nachdem es Van Morrison abgelehnt hat, ihn auf die Bühne zu holen – den Club zu verwüsten beginnt. Es gibt Festnahmen am laufenden Band: für Erregung öffentlichen Ärgernisses, Trunkenheit, Körperverletzung oder Autounfälle, unter anderem einem fast tödlichen Crash, bei dem Ochs all seine Zähne verliert.
„Michael und ich kamen zu der traurigen Erkenntnis, dass wir ihm nicht mehr helfen konnten“, sagt Sonny Ochs. „Im Winter besuchte er mich noch einmal für ein paar Tage und blieb bis zu seinem Selbstmord. Wir wussten, dass es früher oder später passieren würde. Wenn ich von der Schule nach Hause kam und ihn nicht im Wohnzimmer oder am Klavier sah, ging ich durchs ganze Haus – in der Erwartung, irgendwo seine Leiche zu finden.“ Am Ende ist es Sonnys 14-jähriger Sohn David, der ihn entdeckt: Phil Ochs hat sich an der Tür des Badezimmers erhängt.
Man mag die Theorie vertreten, dass Ochs sein Leben dem Frieden und dem Kampf um soziale Gerechtigkeit verschrieb – und dabei seine eigene Karriere, seine eigene Gesundheit mit Füßen trat. „Es heißt, dass jeder Mann seinen Preis hat“, sagt Van Dyke Parks, „aber für Phil traf das nicht zu. Er war so etwas wie der Polarstern der Gegenkultur: Er war vollkommen unbestechlich und einfach nicht käuflich.“
„Phils größte Leistung“, glaubt Joan Baez, „bestand darin, sein Leben so zu leben, wie es ihm seine Musik vorgab. Einige Leute werden behaupten, dass das sein Untergang war. Aber wenn wir seiner gedenken, werden wir uns nicht an die Umstände erinnern, wie sein Leben endete. Es ist nicht sein Tod, sondern es sind seine Songs, die noch immer zu uns sprechen.“
Power And Glory
Phil Ochs‘ beste Alben
All The News That’s Fit To Sing ELEKTRA, 1964
Das Debüt, erwartungsgemäß dominiert von den typischen Protestsongs dieser Jahre. Highlights: „The Power And
The Glory“ und „Bound For Glory“.
I Ain’t
Marching Anymore ELEKTRA, 1965 Der Titeltrack und „Here’s To The State Of Mississippi“ sollten Perlen seines Repertoires werden. Auch in den Liner Notes liefert Ochs diesmal bissige Kommentare zur gesellschaft-lichen Misere.
Phil Ochs In Concert ELEKTRA, 1966
Ende ’65 und Anfang ’66 in Boston und New York aufgenommen, zeigt sich Ochs diesmal eher von seiner nachdenklichen und sarkastischen Seite.
Pleasures Of The Harbor A&M, 1967
Umrahmt von Harfen, Flöten und Streichern, lässt Ochs die Welt des Protests hinter sich und schreibt erstaunlich persönliche Songs mit präzisen Beobachtungen.