Der Glamour der Gitarrengreise
„Ich möchte Teil einer Seniorenbewegung sein" - Cashs Comeback war möglich, weil sich das MTV-Publikum nach authentisch schmeckendem Stoff sehnte, glaubt Karl Bruckmaier
Wer spät nachts durch die TV-Kanäle stakst, kann ihm begegnen: Johnny Cash als Mörder in der „Columbo“-Folge „Schwanengesang“. Er spielt dort einen Gospelstar, der von seiner verhassten Frau gezwungen wird, „I Saw the Light“ zu singen. Bis zur Mitte des Movies hat man genug Sympathie mit dem gequälten John aufgebaut, dass man den Mord an der Matrone nur gutheißen kann. Selbst Columbo lässt maximale Nachsicht walten: Er müsse Johnny Cash eigentlich gar nicht verhaften, sagt er, denn der hätte genug Charakter, um sich selbst der Polizei zu stellen. Die wahre Strafe erlege er sich in seinem Inneren ohnehin selber auf. Schlusstitel.
Womit wir direkt bei Cashs ganz großem Lebenstrick wären. Der hat ihm zu seiner erstaunlichen Spätkarriere verholfen – welche damit begann, dass Delia fort ist. Mit dieser Information fängt „American Recordings“ an, „Delia’s Gone“ – dann merkt der Zuhörer, dass „gone“ tot bedeutet. Der Bariton, der sie umgebracht hat, ist allein mit einer Gitarre und seiner Aggression, in einer Blockhütte in Tennessee; nur ein bärtiges, barfüßiges Hippiegetüm sitzt ihm gegenüber, Rick Rubin, Spezialist für Hip-Hop und Metal, bald auch Spezialist für die Widerbelebung totgeglaubter Karrieren.
Rubin und Cash – beide Namen stehen im Wortsinn für solide Werte – nehmen das in der Stimme, den einfachen Melodien, dem archaischen Setting eingebaute Wissen um das Böse im Menschen und seine Sehnsucht nach dem Guten – und pimpen Cashs Image und Repertoire auf zu der überlebensgroßen, dunklen Star-Persona, als die Cash durch die letzten zehn Jahre seiner Karriere, seines Lebens stapft. In einem weiten Mantel, halb schon im Jenseits beheimatet. Ein Zombie familias, ein Geist, dem man jede noch so fiese Untat verzeiht, als sei man selbst der Gute Hirte. Großes Kino, sagt man heute dazu. Früher hieß sowas Pop.
Diese Lebenslüge zieht sich durch Cashs Dasein seit Kindertagen. In Filmen, Autobiografien und anderen Schwarten können wir ihr begegnen: „I shot a man in Reno just to watch him die.“ Niemals! Höchstens: Ich nahm ein paar Pillen in Nashville und kotzte mächtig rum. Aber glaubt bitte daran, eigentlich habe ich das böse Tier in mir, huaaaarrrg!
In den ersten Jahrzehnten seiner Karriere deutete sich die massenkompatible Möchtegern-Verdorbenheit nur an, in den Gefängnisauftritten, den lächerlichen Ordnungswidrigkeiten, seinen selbstmitleidigen Drogeneskapaden. Und in den Songs natürlich. Das Wissen, dass einem Johnny Cash nie ernstlich etwas zustößt und dass alle ihm nur zu gern vergeben, wenn er mal wieder abgekackt hat – es wird ihm zur zweiten Natur. Und das Urvertrauen in seine eigene Kunstfigur erlaubt ihm, sich auf eine Art und Weise selbst zu stilisieren, die ihn 1994 dann ein für allemal unsterblich macht.
Aber nicht nur Cash war reif für diese konsequente Überhöhung, sondern auch das Pop-Publikum war es. Gitarrengetriebene Musik hatte in den Jahren zuvor ihre Bedeutung als „Musik zur Zeit“ weitgehend eingebüßt. Techno, also Fleisch gewordene Wortlosigkeit, herrschte auf den Tanzflächen, Erstsemester war wieder King, dazu die knalligen Sexismen von Hip-Hop – alter gewordene Liebhaber von Country, Rock und selbst Punk mussten mit immer dünner werdenden Aufgüssen leben lernen. Grunge? Geh scheißen! Cow Punk? Hör ma auf! Noch eine Rolling-Stones-Tournee? Bittä!
Das Nostalgiesüppchen mit etwas nahrhafter Brühe für den Sechs-Saiten-Menschen wurde nur noch lauwarm serviert, in einer Schnabeltasse namens „Unplugged oder „VH-1 Storytellers“ – erst Rubins kühne Idee, durch die kompromisslose Inszenierung von Authentizität einen neuen Standard für ein älter werdendes Publikum (und älter werdende Rockstars) zu schaffen, löste das Problem. Der alte Sack wurde durch einen Perspektivwechsel zur Ikone – hier stimmt das Wort endlich einmal: Nicht ein Bild von jemand wird gezeigt, sondern sein Potenzial.
Dass Bob Dylan in seinem muffligen Starrsinn zwei Jahre vor Johnny Cash zwei eigentlich herausragende Alben mit akustischen Aufnahmen – „World Gone Wrong“ und „Good As I Been To You“ – am Start hatte, ging an der Öffentlichkeit dagegen komplett vorbei. Dylan? Das ist doch der Jesus-Typ mit „Blowing In The Wind“, der betrunken um die Welt torkelt und das Repertoire in der Vorvergangenheit der amerikanischen Musik wählt. 2Oer-Jahre, 60er-Jahre – alles eins. Rubin dagegen schob seiner Cash-Kuh Songs von Glenn Danzig, Nick Cave oder Will Oldham unter und kreierte damit ein neues Universum des Hip, in dem jeder genreübergreifend dabei sein wollte: Die poptypische Sehnsucht, „Teil einer Jugendbewegung“ (Tocotronic) sein zu dürfen – sie wurde wieder möglich, indem man Teil der grassierenden Greisenverehrung wurde. Endlich gab es eine Blaupause, wie man im Musikgeschäft alt werden kann, ohne einen Narren aus sich zu machen. Las Vegas ade – Glastonbury, wir kommen!
Jahr für Jahr erscheinen seit „American Recordings“ großartige Alterswerke, die bewusst auf die Mechanismen einst moderner Karriererezepte pfeifen und dafür Echtheit, Idiosynkrasie und Unabhängigkeit so inszenieren, dass man sich wünscht, das Werk der jeweiligen Musiker wäre immer so entschieden gewesen. So unverschnitten, so würdevoll. Neil Diamond und Solomon Burke, Al Green und Geoff Muldaur, B.B. King und Levon Helm – die Liste lässt sich hoffentlich noch lange auf dem von Johnny Cash vorgegebenen Niveau fortsetzen.
Gefährlich schillernde Altersweisheit, stolz zur Schau getragene Gebrechen, coole Greise hinter aufgemotzten Rolatoren: Auf dem Pop-Highway ist wieder einmal die Hölle los. Und Columbo schüttelt bloß den Kopf, dreht sich zur Tür, blickt nochmals um, weil ihm ein seltsamer Geruch in die Nase steigt, säuerlich, als wäre ein Urinbeutel geplatzt: „Eine Frage hätte ich da noch …“