Der gefährlichste Mann im Cyberspace
Jacob Appelbaum — der amerikanische Hacker hinter Wikileaks — kämpft gegen repressive Regime in aller welt. nun ist er auf der flucht vor seiner eigenen regierung und führt ein Leben im Untergrund. Von Nathaniel Rich Foto von Peter Yang
Als er am 29. Juli von einem Europa-Trip in die USA zurückkehrte, wartete auf den 27-jährigen Mann im schwarzen T-Shirt eine unangenehme Überraschung. Am Flughafen in Newark nahm ihn eine FBI-Delegation in Empfang und verhörte ihn zu seiner Rolle bei Wikileaks – jener Whistleblower-Organisation, die eine Woche zuvor geheime US-Dokumente zum Afghanistan-Krieg ins Netz gestellt hatte. Die Agenten fotokopierten seine Unterlagen, konfiszierten seine drei Handys – Jacob Appelbaum besitzt mehr als ein Dutzend – und kassierten sein Laptop. Sie wollten wissen, wo sich Wikileaks-Gründer Julian Assange verstecke, und befragten ihn nach seiner Position zu den Kriegen in Irak und Afghanistan. Appelbaum verweigerte die Aussage. Nach drei Stunden ließ man ihn laufen.
Appelbaum ist Wikileaks‘ Sprecher und für die Software verantwortlich, die die Veröffentlichung der Afghanistan-Dokumente erst möglich machte. In gewisser Weise ist er das Gegenmodell zu Facebook-Gründer Mark Zuckerberg: Während sich Facebook die Aufgabe gestellt hat, „die Welt zu öffnen und miteinander zu verbinden“, will Appelbaum sie anonymer machen. „Ich mag nicht in einer Welt leben“, sagt er, „wo jeder meiner Schritte überwacht wird. Und ich möchte auch keine digitale Spur hinterlassen, die eh eine falsche Geschichte erzählt.“ Seit Jahren vertrauen wir unsere persönlichen Daten – Bankkonten, E-Mails, Fotos, medizinische Unterlagen – einem Netzwerk an, von dem wir uns eine diskrete Behandlung erhoffen. Appelbaum weiß, dass die Hoffnung auf Sand gebaut ist. Er weiß es, weil er selbst alle Daten jederzeit abrufen kann.
Was er damit meint, demonstriert er mir, als ich ihn im letzten Frühling treffe, zwei Wochen nachdem Wikileaks ein Video veröffentlichte, in dem US-Soldaten Zivilisten töten. Ich besuche ihn in seiner höhlenartigen Wohnung in San Francisco. Die einzigen Möbelstücke sind eine schwarze Couch, ein schwarzer Stuhl und ein schwarzer Tisch; an der Küchenwand hängt eine Guy-Fawkes-Maske. Der Boden ist übersät mit Gefrierbeuteln, die mit ausländischem Geld gefüllt sind: argentinische Pesos, schweizer Franken, rumänische Leu, alte irakische Dinar mit Saddam Husseins Konterfei. Auf dem Schreibtisch liegt eine Fotografie seines verstorbenen Vaters.
Appelbaum macht mich zunächst mit Blockfinder bekannt – einer von ihm geschriebenen Software, die es ihm ermöglicht, jedes Netzwerk der Welt zu identifizieren, zu kontaktieren – und im Zweifelsfall zu hacken. Er schaltet einen seiner acht Computer ein und drückt ein paar Tasten, um Blockfinder zu aktivieren. Innerhalb von 30 Sekunden listet das Programm alle Internet-Provider der Welt auf. Appelbaum greift sich als Beispiel Burma heraus und tippt den Länder-Code „mm“ (für Myanmar) ein. Blockfinder spuckt in Sekundenschnelle 12.284 IP-Adressen in Burma aus, die allesamt von staatlich kontrollierten Providern vergeben werden. Appelbaum drückt verschiedene Tasten, um mit allen Computern für Burma Kontakt aufzunehmen. Nur 118 antworten. „Was bedeutet“, so Appelbaum, „dass fast alle Netzwerke von der Außenwelt abgeschnitten sind – bis aus diese 118.“
Bei den 118 ungefilterten Netzwerken handelt es sich um Organisationen oder Einzelpersonen, denen die burmesische Regierung den ungehinderten Zugang zum Internet erlaubt – regimetreuen Politikern, dem Sicherheitsdienst oder den Geschäftsführern der staatlich kontrollierten Konzerne. „Und jetzt aufgepasst“, sagt Appelbaum. „Jetzt wird’s richtig spannend.“ Er wählt eins der 118 Netzwerke aus und versucht, es zu kontaktieren. Ein Fenster fragt ihn nach seinem Passwort – und Appelbaum wiehert vor Lachen. Das Netzwerk benutzt einen Cisco-Router – mit all den Schwachstellen, die Appelbaum bestens bekannt sind. Sich hier einzuhacken, wäre für ihn ein Kinderspiel.
Wer sich hinter dem Account verbirgt, lässt sich ohne dass Passwort nicht eruieren. Es könnte der private E-Mail-Account des Premierministers sein, die Geheimpolizei oder die Kommandozentrale des Militärs. Die Lösung der Frage ist nur einige Klicks entfernt. Wird Appelbaum unsere Neugier befriedigen?
„Natürlich könnte ich es“, sagt er lachend. „Aber das wäre ja illegal. Oder nicht?“
In seinem angestammten Job arbeitet Appelbaum als Sprecher des „Tor Project“ – einer Gruppe, die sich die Anonymität des Netzes auf die Fahnen geschrieben hat und dabei eine Software benutzt, die ursprünglich vor 15 Jahren vom „US Naval Research Laboratory“ entwickelt wurde. Appelbaum reist rund um die Erde und schult Dissidenten und Menschenrechtsaktivisten in der Nutzung von Tor, um ihre Verfolgung durch politische Gegner zu verhindern.
Das Tor Project wird jedoch nicht nur von Menschenrechts-Organisationen und namhaften Firmen wie Google unterstützt, sondern auch vom amerikanischen Militär, das es für seine Spionage-Aktivitäten verwendet. Natürlich war man im Pentagon wenig begeistert, dass Tor nun von Wikileaks genutzt wurde, um die eigenen Geheimdokumente in die Öffentlichkeit zu zerren. Auch wenn Appelbaum bei Tor angestellt ist, arbeitet er gleichzeitig für Wikileaks, speziell für Wikileaks-Gründer Julian Assange. „Tors Bedeutung für Wikileaks“, so Assange, „kann gar nicht überschätzt werden. Und Jake hat hinter den Kulissen unermüdlich die Trommel für uns gerührt.“
Im Juli, kurz vor Veröffentlichung der Pentagon-Papiere, sollte Assange einen Vortrag bei den „Hackers on Planet Earth“ (HOPE) halten, die zu einer Konferenz in ein New Yorker Hotel geladen hatten. Doch nachdem im Publikum FBI-Beamten gesichtet wurden, war es nicht Assange, sondern Appelbaum, der die Bühne betrat. „Ich grüße alle meine Fans und Freunde aus der Spionage-Szene“, begann er seinen Vortrag. „Ich bin heute hier, weil ich an eine bessere Welt glaube. Julian kann leider nicht hier sein, weil wir diese bessere Welt heute noch nicht haben. Aber ich habe eine Botschaft für all die Agenten, die heute hier sind: Ich habe in meiner Tasche etwas Geld, die Bill of Rights‘ und meinen Führerschein – sonst nichts. Es gibt absolut keinen Grund, mich zu verhaften oder anderweitig zu belästigen.“
Nach einem 75-minütigen Vortrag über die Ziele von Wikileaks forderte er die anwesenden Hacker auf, sich für das Projekt zu engagieren. Dann wurde das Licht ausgeschaltet – und Appelbaum, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, wurde von einigen Freiwilligen ins Foyer des Hotels geleitet. Als er die Kapuze lüftete, war es … nicht Appelbaum. Der richtige Appelbaum hatte das Hotel durch einen Hinterausgang verlassen. Zwei Stunden später saß er in einem Flugzeug nach Berlin.
Als er zwölf Tage später in Newark vorübergehend festgesetzt und drei Stunden lang befragt wurde, berichteten die Medien davon, dass durch die Dokumente Dutzende von afghanischen Informanten kompromittiert worden seien. Das Echo im konservativen Amerika war verheerend. Marc Thiessen, früher Ghostwriter von George Bush, rief dazu auf, Wikileaks mit der gleichen Unnachgiebigkeit zu verfolgen wie Al-Qaida.
Zwei Tage später, Appelbaum war bei einer Hacker-Konferenz in Las Vegas, standen plötzlich zwei FBI-Agenten in Zivil vor ihm. „Wir würden gerne ein paar Minuten mit Ihnen reden.“ Es folgte ein längeres Verhör. Seitdem hat sich Appelbaum rar gemacht. Er schlägt um Flughäfen einen weiten Bogen, fährt lieber im Auto durchs Land; er meidet unbekannte und suspekte Lokalitäten und hält selbst seine Freunde auf Abstand. Er hat fünf Jahre seines Lebens damit verbracht, Aktivisten vor dem Zugriff repressiver Regierungen zu schützen. Nun ist er auf der Flucht vor seiner eigenen.
Appelbaums Hang zum Privaten mag sich zum Teil daraus erklären, dass er in seiner gesamten Kindheit darauf verzichten musste. Seine Eltern begannen einen zehnjährigen Sorgerechts-Prozess, bevor er überhaupt geboren wurde. Er verbrachte die ersten fünf Jahre bei seiner Mutter, die laut Appelbaum unter paranoider Schizophrenie litt. Seine Tante übernahm das Sorgerecht, setzte ihn dann aber in einem Heim für Waisenkinder ab. Hier lernte er, gerade acht Jahre alt, seinen ersten Hack. Ein älterer Junge brachte ihm bei, wie man den PIN-Code im Sicherheitssystem des Jugendheims knackte.
Als er zehn war, wurde das Sorgerecht seinem Vater übertragen, mit dem er sich Zeit seines Lebens verbunden fühlte. Allerdings war sein Vater gerade zu dieser Zeit heroinsüchtig – was zur Folge hatte, dass Appelbaum seine Teen-Jahre überwiegend in Obdachlosen-Asylen verbrachte oder im Greyhound kreuz und quer durch Nord-Kalifornien kurvte. Als der Vater eines Freundes ihn mit dem Programmieren vertraut machte, sah Appelbaum plötzlich das Licht am Ende des Tunnels: „Das Internet ist der einzige Grund, dass ich heute noch lebe.“
Mit 20 zog er nach Oakland und arbeitete als IT-Berater für „Rainforest Network“ und Greenpeace. 2005 fuhr er auf eigene Faust in den Irak und installierte in Kurdistan Internet-Connections via Satellit. Angesichts seiner ausgeprägten Sensibilisierung für Sicherheitsfragen war es kein Wunder, dass er früher oder später beim Tor Project landete. Er verdingte sich als Programmierer, aber schon bald wurde klar, dass seine größten Talente in der Überzeugungsarbeit lagen. „Jake“, so Roger Dingledine, einer der Gründer, „weiß genau, wie er seine Argumente einsetzen muss. Er sagt zum Beispiel:, Wenn jemand dich ausspionieren möchte, würde er genau so vorgehen …‘ Und dann demonstriert er es den Leuten am Computer – und sie flippen aus, wenn sie das sehen.“
„Die Information, die einmal im Netz steht“, so Appelbaum, „kannst du nie wieder ausradieren. Und man braucht nur wenige Informationen, um eine andere Person zu ruinieren.“ Die Gefahren des Netzes mögen in der westlichen Welt noch nicht ins Bewusstsein der Menschen gedrungen sein, in anderen Regionen des Globus aber kann schon der Besuch einer unautorisierten Website zu Gefängnis, Folter oder Tod führen. Mehr als 60 Staaten verwehren ihren Bürgern den freien Zugang zum Netz.
Es ist ein sonniger Nachmittag in San Francisco, und Appelbaum ist in seiner üblichen Hacker-Montur gekleidet: schwarze Stiefel, schwarze Socken, schwarze Hose und schwarzes T-Shirt. Er erklärt mir, dass wir ein Taxi nehmen müssen, um seine Post abzuholen. Appelbaum lässt sie an einen privaten Post-Verteiler schicken, wo sie ein Angestellter in Empfang nimmt. Auf diese Weise kann er – und all die Dissidenten und Hacker, mit denen er kommuniziert – die bestehenden Vertriebswege anonymisieren.
Tor funktioniert ähnlich. Wenn man das Internet benutzt, startet der Computer eine Verbindung zu dem Web-Server, den man ansteuern möchte. Der Server erkennt den Computer, notiert die IP-Adresse und schickt die angeforderte Seite zurück. Einem Hacker – oder den Web-Kontrolleuren eines repressiven Regimes – fällt es nicht schwer, diesen Vorgang zu verfolgen. Er kann den Server überwachen und feststellen, wer sich dort anmeldet – oder er kann jeden Computer überwachen und registrieren, mit welchem Server er Kontakt aufnimmt. Tor unterbindet diese Überwachung durch die Einführung von Mittelsmännern. Sagen wir, man lebt in San Francisco und möchte eine E-Mail an einen Freund schicken, der ein systemkritischer Informant in Teherans Revolutionärer Garde ist. Wenn man die E-Mail direkt an ihn schicken würde, könnten iranische Web-Kontrolleure die IP-Adresse erkennen und dann auch den Namen des Absenders und weitere Informationen rekonstruieren. Wenn man Tor installiert hat, wird eine Mail über 2000 Zwischenstationen umgeleitet, die über die ganze Welt verstreut sind. Die Mail wandert also zunächst an eine Zwischenstation in Paris, die sie weiter nach Tokio schickt, von da aus nach Amsterdam, von wo aus sie dann den Freund in Teheran erreicht. Der iranische Web-Kontrolleur erkennt nur, dass aus Amsterdam eine Mail verschickt wurde. Jemand, der den Computer des Absenders überwachen würde, könnte nur feststellen, dass eine Mail nach Paris abgeschickt wurde.
Einen substanziellen Teil des Jahres ist Appelbaum unterwegs, um Aktivisten mit Tor vertraut zu machen. Einige Teilnehmer – wie eine „Sex Worker“-Initiative in Südost-Asien – haben nur rudimentäre Computerkenntnisse, andere – wie eine Gruppe von Studenten in Katar – sind hochqualifiziert. In Mauretanien stellte die Militärdiktatur ihre Zensur-Bemühungen ein, nachdem ein Dissident namens Nasser Weddady eine arabische Version von Tor geschrieben und an Oppositionelle verteilt hatte. Appelbaum unterscheidet nicht zwischen Guten und Bösen, wenn es um die Verbreitung von Tor geht. Wichtiger ist ihm dagegen, dass Menschen miteinander kommunizieren können, ohne dabei überwacht zu werden.
Als das Aushängeschild einer Firma, die Anonymität propagiert, hat Appelbaum natürlich ein hausgemachtes Problem: Es kann den Zielen der Firma nur dienlich sein, wenn Tor so viel Publicity wie möglich bekommt. Je häufiger Tor installiert wird, umso mehr Computer stehen als Mittelsmänner zur Verfügung. Gleichzeitig hat Appelbaum allen Grund, seine Paranoia zu pflegen. Wenn er unterwegs ist und seinen Laptop für längere Zeit aus den Augen verloren hat, zerstört er die Festplatte und wirft das Gerät in den Müll. Um Tor durch den Zoll einiger besonders problematischer Länder zu schaffen, muss er sich besondere Tricks einfallen lassen. „Ich habe mich schlau gemacht, wie Drogendealer es machen“, sagt er grinsend. Er zeigt mir eine Fünf-Cent-Münze, im deren Inneren sich ein winziger 8-GB-MicroSD-Chip befindet.
Doch so sehr die Verbreitung von Tor auch fortgeschritten ist: Die Überwachungsmöglichkeiten des Internet-Traffics sind im gleichen Zeitraum noch schneller perfektioniert worden. „Man macht sich keine Vorstellung davon, wieviel Macht eine Person ausüben könnte, die ungehinderten Zugang zu Googles Datenbank hätte. Wenn Google es darauf ankommen ließe, könnte es jede Regierung der Welt stürzen und genug Schmutz ausgraben, um jede Ehe in Amerika zu zerstören. Ich liebe Google. Aber ich habe Angst vor der nächsten Generation. Ein wohlmeinender Diktator ist noch immer ein Diktator.“
In Gefolge des Wikileaks-Afghanistan-Eklats ist Appelbaum gänzlich untergetaucht und hält seinen Aufenthalt selbst vor den besten Freunden geheim. (Wikileaks-Kollege Julian Assange wird inzwischen von der Polizei gesucht: Er soll nach einem mehrtägigen Aufenthalt in Schweden, dem Land in dem sich einige Server seiner Website befinden, eine Frau vergewaltigt und eine weitere körperlich verletzt haben. Assange wies die Vorwürfe rigoros zurück und bezeichnete seine Verurteilung als Hetzkampagne von Wikileaks-Gegnern. Auch sein Aufenthaltsort ist momentan unbekannt.) Eine Woche nach dem Verhör in Newark ruft Appelbaum mich allerdings noch einmal an, nachdem ihn meine Bitte um Rückruf über diverse Mittelsmänner erreicht hat. Er ist sich seiner bizarren Situation wohl bewusst. „Ich bin einer der Gejagten geworden, denen ich in den letzten Jahren geholfen habe. Es ist Zeit, dass ich mir meine eigenen Ratschläge zu Herzen nehme.“