Der elektrische Philosoph
"Männerphantasien" und "Das Buch der Könige" handelten von männlicher Gewalt, sein "Tor zur Welt" lieferte eine unterhaltsame Analyse des Phänomens Fußball. In seiner neuen Jimi-Hendrix-Biografie analysiert Theweleit nun dessen Musik und Lyrik als Resultat seiner psychedelischen Experimente - auch ein Ergebnis der Selbstbeobachtungen des Autors.
„Klaus Theweleit (AZ)“ steht auf dem obersten der drei Klingelschilder. Ich tippe auf Arbeitszimmer und habe Recht. Der Summer geht prompt, und mit schnellen Schritten kommt er mir entgegen, die Treppe hinunter, zeigt sich einigermaßen erstaunt über die Pünktlichkeit der Bahn, die er als gefragter Vortragsreisender auch schon mal anders erlebt hat. Die halblange Pianistenfrisur und der Bartkranz sind leicht ergraut, aber Bewegungen und Stimme lassen ihn jünger wirken – beweglich, dynamisch und ein bisschen feminin – oder besser: anti-viril.
Nach der Flucht aus Ostpreußen als Dreijähriger ist er in Norddeutschland, Husum und um Umgebung, aufgewachsen – und das hört man ihm immer noch an. Wir gehen in die helle, offene Wohnküche. Er macht einen Espresso und und zeigt mir dann den gepflegten, blühenden Garten, durch den ein kleiner Bach mäandert. Er erwartet Lob für diese pittoreske Szenerie, weil die Gartenarbeit in seinen Kompetenzbereich fällt, und das bekommt er dann auch von mir. Die Gesprächssituation ist von Anfang an entspannt, freundlich und erstaunlich distanzlos. Er steht fast immer so nah bei mir, dass unsere Arme sich beinahe berühren. Und unwillkürlich kommt einem der Gedanke, das seien dann wohl die ganz praktischen Lehren, die Theweleit aus seiner wissenschaftlichen Beschäftigung mit der soldatischen Verfasstheit von deutschen Männern und ihren „Körperpanzern“ gezogen habe, die ihn schon in seinem Debüt „Männerphantasien“ umgetrieben hat.
Der strukturelle Fascho im Mann, die stetige Konsolidierung der Männerherrschaft durch die Opferung der Frauen, die Usurpation des weiblichen Körpers usw. – dieses abendländische Krankhetts-Syndrom bildet auch den ideellen Magnetkern seiner folgenden, nicht minder voluminösen „Theorie-Romane“, wie dem „Buch der Könige“ (projektiert auf vier Bände, zwei bereits erschienen) oder dem „Pocahontas-Komplex“ (vier Bände, zwei erschienen), seiner kleineren Studien, etwa über Gewalt im Film („Deutschlandfilme“) und in seinen unzähligen Vorträgen, Essays, Interviews und Polemiken, die er zuletzt mal wieder gesammelt vorgelegt hat in dem Band „Friendly Fire. Deadline-Texte“. Den kann man übrigens ganz gut als Einführung in das auf sehr vielen Hochzeiten tanzende, in vielen Wäldern holzende, Hoch-, Pop- und Trivialkultur mit der gleichen Akribie sezierende und vor allem stets mit exegetischem Witz, stupender Gelehrsamkeit und enormer poetischer Energie geschriebene Werk lesen.
Die in der Hauptsache bei Stroemfeld erscheinenden, auch optisch reizvollen Text-Bild-Montagen, die neben dem ohnedies abschweifungsreichen Text und dem verzweigten Kanalsystem der Fußnoten auch noch gänzlich heterogene Bildbeigaben (Comics, Filmstills, Fotos, Plakate, alte Grafiken etc.) integrieren, verlangen eine umherschweifende, eine Multi-Tasking-Lektüre auf verschiedenen Ebenen, die offenkundig vor allem konservativere, auf die neuen, medial gewandelten Wahrnehmungsweisen noch nicht geeichte Leser überfordert. ,“Männerphantasien‘ hat mir die traditionelle Uni bis heute nicht verziehen“, sagt Theweleit im Laufe unseres Gesprächs und lacht dabei recht ausgelassen. „Ein Teil der Professoren findet es prima, macht es auch in ihren Seminaren, aber der überwiegende Teil ignoriert es total. Sie wollen ordentliche Seminararbeiten haben – ohne so einen Quatsch, ohne Bilder.“
Mitunter publiziert er aber auch ein wenig niedertourigere Bücher für eine breitere Leserschaft. Wie vorvier Jahre sein wunderbares Fußball-Traktat „Tor zur Welt. Fußball als Realitätsmodell“ (Kiepenheuer & Witsch), das bei seiner eigenen Fußballsozialisation beginnt und sich zu einer kulturphilosophischen, anthropologischen, kabbalistischen Exegese des Phänomens auswächst. Den Ball einwerfend beim abstrakten Raumgefühl der Holländer, die eben nicht nur einen Piet Mondrian hervorgebracht hätten, sondern genauso unvermeidlich einen Johann Cryuff und Rinus Michels, dessen Viererkette den Fußball strategisch revolutioniert habe, landet er mit kurzem, schnellem Analogie-Passspiel im Sechzehner des modernen Fußballs. War die Viererkette die Anwendung der Geometrie auf dem Platz, sei man nun bei der „Digitalisierung“ des Fußballs angelangt. Und seine Beobachtungen sind von stupender Plausibilität: Die Spielzüge entsprechen nicht mehr geometrischen Formen, sondern haben eher Netz- bzw. Rasterstruktur; gefordert ist nicht mehr ein Dirigent wie Beckenbauer, sondern der „schaltende Spielertyp“ äla Bernd Schneider, der überdies das ganze Arsenal der Spielweisen gleichzeitig abrufbar hat. Alles wie im Videospiel! Und er suggeriert, dass die modernen Spieler ihre veränderten Fähigkeiten genau hier auch gelernt haben – an der Spielkonsole. „Die Probe aufs Exempel wäre zu machen, ob und wie sich die Simulations-Fertigkeiten auf den Umgang mit dem Ball selber übertragen lassen. Wahrscheinlich sehen wir Samstag für Samstag in den Stadien oder im Fernsehen Proben dieser Umschaltung in Aktion, ohne es zu wissen.“
Man könnte nun die Analogie-Kette sogar noch fortsetzen – und diesen Befund auf ihn selbst anwenden. Theweleits Schreibweise ist ebenfalls „digitalisiert“. Seine Texte besitzen keine plane, lineare, sondern vielmehr eine komplexe Netzstruktur, er ist der schaltende Autortyp, der zwischen seinen weitverzeigten Primär- und Sekundärquellen, aus verschiedensten Wissenbereichen herbeizitierten Textbausteinen Kausal- und Analogieverbindungen herstellt; und er lässt sich eben auch nicht auf eine Methode festlegen, vielmehr erfindet er sich seine jeweilige Methode in der aktuellen Schreibsituation.
Theweleits eigentliches Interesse giltweiterhindem“ideologiseh formierten“, gewalttätigen Körper, wie er ihn in „Männerphantasien“ bei den Freikorps-Soldaten exemplarisch dingfest gemacht. „Tor zur Welt“ liest sich nachgerade komplementär dazu, denn für Theweleit ist Fußball „eins der bedeutendsten Mittel“, an der Zivilisierung gegebener Gewaltpotenziale mitzuwirken. „Exakter gesagt: 95 Prozent der Zuschauer in den Stadien bekämpfen Wochenende für Wochenende erfolgreich den eigenen Hooliganismus. Als Möglichkeit liegt er in ihnen wie in den manifesten Hooligans auch. Aber mit Hilfe von Zivilisierungsformeln wie: ,Die andern können auch Fußball spielen’… ,Es kann nicht zwei Sieger geben’… ,Es geht nicht immer gerecht zu auf der Welt, aber meistens gleicht sich das aus‘ wird das Kriegerische in Spielern wie Zuschauern ständig heruntergefahren. Während ,Krieg‘ ja heißt, so lange auf den Feind einzuschlagen oder einzuwirken, bis er sich nicht mehr rührt.“ Überdies nimmt der Sport eine „grundsätzliche Verschiebung“ vor, nämlich „die Verwandlung von Feinden in Gegner. Gegner mit gleichen Rechten spielen gegeneinander. Die oberste Regel des Spiels sagt, dass die körperliche Unversehrtheit des anderen genauso zu schätzen und zu bewahren ist wie die eigene. Das geschieht im Spiel durch die permanente Umwandlung von Vernichtungspotenzialen in spielerische Techniken. Jedes Stückchen Technikzuwachs ist ein Stück Gewaltabbau.“
Dieser letzte Satz hätte auch in der gerade bei Rowohlt erscheinenden Hendrix-Biografie stehen können, die er zusammen mit seinem „ehemaligen Schüler und Freund“ Rainer Höltschl geschrieben hat. Auch Hendrix‘ „Technik“, die Elektrifizierung ebenso wie sein artistisches Vermögen, erzeugt ihrer Ansicht nach eine „riesenhafte Anti-Zerstörungskraft“.
Wir gehen zurück ms Haus, und ich trage ihn, wo er eigentlich seine Fender Stratocaster stehen hat. Er habe gar keine, er spiele ja Free Jazz. Na, dann eben die Semiakustische von Gibson. „Ich habe nur einen Gibson-Nachbau von Morris…“ Den will er mir aber gern zeigen, und so gehen wir eine schmale Treppe hinunter in den Keller zum Musikraum, in dem er es mit seiner Band BST (für die Musiker Berger, Schaefter und Theweleit) einmal wöchentlich ohne Masterplan und doppelten Boden klabautern lässt. „Acoustic improv mutates into a Motörhead live LP“, schrieb das Magazin „Wire“ recht einleuchtend über ihr erstes Album „Viosilence“ (erschienen bei suppose). Der Raum ist klein und mit Klavier, Schlagzeug, Cello, Gitarre und Peavey-Amps ziemlich vollgestellt; auch eine Geige liegt auf dem Verstärker, das 8-Spur-Mischpult, zwei Saxofone und allerlei Percussives. In den Wandregalen Video-Kassetten (laufende Nummerierung: 1293!), Lehrstoff für seine Vorlesungen an der Kunsthochschule Karlsruhe. „Heute ist übrigens ein historisches Datum“, sagt er. „Heute ist nämlich mein letzter Tag als Angestellter. Heute bin ich noch Kunstprofessor, morgen bin ich wieder freier Autor und Rentner, muss also vom Schreiben leben, denn die Rente ist mager, ich war ja wegen der späten Professur kein Beamter.“
Theweleit legt sich die Morris auf die Knie wie Jeff Healey, schmeißt den Peavey an, drückt das Wah-Wah-Pedal, greift dann aber zum Geigenbogen und sägt ein paar faserige, schroffe Noise-Klötze aus dem Holz; anschließend kommt dann auch eine Muschel zum Einsatz. Nach so etwas Profanem wie einem Plektrum wage ich gar nicht erst zu fragen. Klavier spielen kann er auch, wie er später mit einem zurückhaltend getupften „Satin Doll“ von Duke Ellington beweist.
Schließlich gehen wir eine steile Wendeltreppe hoch ins Dachgeschoss, wo er sein Arbeitszimmer hat – und so stellt man sich den Denker-Alkoven eines Pop-Polyhistors auch vor. Volle Bücherregale. Viel Theorie, kaum Belletristik (die stehe im Keller und eine Extra-Abteilung Lyrik im Wohnzimmer, wie er nicht zu erwähnen vergisst). Mehrere überfüllte Akten-Hängeregister, ein mit Papierstapeln und Ordnern bedeckter Arbeitstisch, in einer etwas beengten Nische sein Computer, aber dann unter der breiten Fensterfront zur Straße eine Musikanlage, Alben, CDs, aber auch viel Vinyl: Sun Ra, Art Ensemble of Chicago, Hendrix… Er setzt sich auf eine abgewetzte, krummgesessene braune Ledercouch, nimmt sich eine Akustikgitarre und spielt eine eher gesummte Version von Ray Charles‘ „Georgia On My Mind“. Er sei etwas schüchtern beim Vorsingen, bekennt er ironisch. Ich setze mich ebenfalls, neben mir stapelt sich Hendrix-Sekundärliteratur auf dem Boden.
Ich komme auf die leidige Pflicht des Biografen zu sprechen, nämlich noch einmal das Faktenskelett zusammensetzen zu müssen, obwohl die großen Studien von Shapiro/Glebbeek, Charles Shaar Murray und Charles R. Cross da eigentlich nichts zu wünschen übrig lassen. Das liest sich bei Theweleit/Höltschl immerhin konzis und elegant, sie können die sprechendsten Quellen auswählen, während es ihren Vorgängern noch um positivistische Faktensicherungging. „Als ich mir Shapiro und Cross angesehen habe“, nickt er jetzt und verstaut seine Gitarre hinter dem Sofa, „habe ich schon gedacht, dass eine weitere Biografie eigentlich nicht nötig ist.“ Allerdings könne man durchaus noch ein paar neue Schwerpunkte setzen. „Zum Beispiel fand ich immer die Hendnx-Texte ganz stark unterbewertet, also die Betonung des Lyrikers war uns wichtig. Das ist absolut ernst gemeint. Denn das ist ja bei ihm mehr als das herkömmliche Blues-Text-Schreiben, das steht in der großen amerikanischen Lyrik-Tradition etwa eines Walt Whitman, die er sich- weiß der Geier wo – angeeignet hat. Wie er mit seiner ganzen literarischen Unbildung dazu kommt, diese Sorte Text zu schreiben im freien Vers, finde ich ungeheuerlich.“
Drogen? Er nickt. „Das ist mir auch erst bei der Beschäftigung richtig klar geworden, dass es nach der New Yorker Zeit praktisch kein Konzert mehr ohne LSD gibt, dass also die ganze produktive Existenz auf Drogen gebaut ist. Mal abgesehen von den fünf Jahren on the road davor, damit die gitarristischen Hände alles können, und zwar im Schlaf können. Das ist das eine. Und das alles dreht sich dann noch eine Schraube weiter durch das Drogenlevel. Das war mir in diesem Ausmaß nur bekannt von Robert Crumb und seinen Underground-Comics. Crumb sagt, und das habe ich von ihm selbst gehört: Seine ganzen Erfindungen in den Underground-Comics sind alle unter LSD entstanden. Also Fritz the Cat, Mr. Natural und dieses ganze irre Universum, das da bei ihm auftaucht, sind LSD-Produktionen. Man weiß ja nicht, wie Hendrix das, wenn er nicht mit 27 gestorben wäre, durch- und ausgehalten hätte. Albert Hofmann, der Erfinder und Durchsetzerdes LSD, ist damit ja über hundert Jahre alt geworden.“
Der hat sich das aber auch in Maßen und mit wissenschaftlicher Sorgfalt verabreicht, während man von Hendrix weiß, dass er es eingeworfen hat, als wären es Smarties. „Genau, mehrfache Dosen. Und während andere schon umgefallen sind, konnte er danach immer noch spielen. Und dann hat er ja, vor allem in den letzten beiden Lebensjahren, immer noch anderes Zeug dazu genommen. Also bei ihm kann man dann doch von Drogenmissbrauch reden am Ende, an dem er dann auch tatsächlich eingeht. Aber die ganze Produktivität des Song- und Textschreibens ist von LSD nicht zu trennen.“
Darüber hinaus führen Theweleit/Höltschl die zerrütteten Familienverhältnisse in Hendrix‘ Kindheit als Movens seiner Kreativität ins Feld. „Wiederhaben wollen, was man nie gehabt hat“, der Satz taucht refrainartig auf. Die frühkindliche Mangelsituation-ein gewalttätiger, vom Krieg mitgenommener Vater, eine saufende Mutter, die selten da ist und noch dazu früh stirbt- ist eben nicht nur Motor seines Ehrgeizes, sondern auch Ursache seiner artistischen Individuation.
„Wenn es bei ihm denn tatsächlich eine Mangelsituation war“, schränkt Theweleit ein. „Das ist einer der Einwände von Deleuze gegen Lacan. Er hat gesagt, es wird zu viel mit dem Mangel begründet, man soll lieber mit dem Überfluss argumentieren. Wenn nur der Mangel da ist und nur die Kompensation, dann kommt meistens Krampf raus. Beim Gelingen braucht es auch eine starke positive Stimulation, die dann die Überwindungskraft freisetzt. Bei Hendrix ist das die ganze Frauenriege, seine Mutter Lucille, die Tante, Pflegemutter, Großmutter usw. Er hat immer ein paar um sich gehabt, die gesagt haben, du bist was ganz Tolles. Das ist wie eine Art Stammesfrauenschaft, die sich kümmert um den kleinen Körper… Das ist ja die Einschränkung des Bürgerlichen, dass man da zwar eine gewisse Sicherheit hat, der Pflege, des Auskommens, aber andererseits auch eine Erfahrungslosigkeit. Während bei Hendrix immer was los war. Da fehlt das Geld, da ist Streit, da stimmt was nicht zwischen den Eltern, da gibt es Liebschaften, da erzählt diese Oma komische Geschichten von Gespenstern und Schamanen und so weiter. Das ist Befeuerung, wenn man nicht in diesem Elend zugrunde geht oder wie sein Bruder Leon zum Kleinkriminellen wird. Das ist eigentlich das Übliche.“
Was Theweleit/Höltschls Buch aber vor allem unterscheidet von einer „weiteren Hendrix-Biografie“, sind ihre spekulativen Teile. Dazu gehört zunächst einmal die Grundannahme, dass neue Technologien, wie sie etwa mit der Elektrifizierung des Pop seit Mitte der 50er Jahre virulent werden, sich in die Körper ihrer Hörer einmischen und sie verändern. Und jemand wie Hendrix, der die elektroakustischen Errungenschaften der Zeit wie kein zweiter instrumentalisiert hat, erreicht dabei folglich einen besonders hohen Wirkungsgrad.
Wie geht dieser „Körperumbau“ nun vor sich? Strukturell funktioniert er ähnlich wie eine Psychotherapie. Theweleit/Höltschl gehen aus von den Beobachtungen des Psychoanalytikers Thomas Ogden, der in Therapiegesprächen bemerkt hat, wie zwischen Therapeuten und Patienten „ein drittes Subjekt mit einem Eigenleben“ entsteht, „vom analytischen Paar gemeinsam geschaffen“, und übertragen diesen Befund auf die Rezeptionssituation des Musikhörens: „Schallwellen eines Lautsprechers“ treffen auf die Schwingungen des eigenen Körpers und verbinden sich „zu einer neuen Materialität im Raum“. Es entsteht also auch hier so etwas wie ein „dritter Körper“, der von beiden etwas enthält, von der Musik und vom eigenen Ich. So erklärt sich denn auch das Gefühl eines Über-sich-Hinauswachsens im Moment, in dem die Musik einen wirklich ergreift.
as ist Spekulation, wie Theweleit durchaus zugibt, fußt aber auf dem neuesten hirnphysiologischen Erkentnisstand. „Man darf zum Beispiel die Untersuchungen des Hirnforschers Wolf Singer nicht vergessen, wenn er die Zellschwingung misst mit 40 Hertz. Da kommt man dann zu etwas Messbaren im Raum, das man irgendwann mal experimentell schalten wird: also die Musikwellen aufnehmen, messen, welche Frequenz was mit dem Körper anstellt, das Gehirn verkabeln-dann wird sich auch das, was wir den ,dritten Körper‘ nennen, in irgendeiner Weise messbar darstellen. Da bin ich absolut sicher. Das ist keine Metapher. Das ist der Kunstprozess, wie ich ihn verstehe. Es ist eben keine Rezeption, also dass da was kommt, und ich nehme es auf, nein, man tut was dazu, und es entsteht etwas Drittes. Und aus dem nimmt man dann seine ästhetische Erfahrung mit, und die wirkt dann körperverändernd.“
Und man wird, ist sich Theweleit sicher, irgendwann auch Robert Jourdains Theorie messbar nachweisen können: „dass die musikalische Speicherung primär fleischlich-muskulär ist. Dass also hier, da und dort die musikalischen Reize reingehen, der Körper das ebendort speichert und ans Gehirn sendet, das dann wiederum diesen Reiz verbindet mit anderen Informationen: Was war los in dem Moment, mit wem habe ich das gehört, in welchen Betten, in welchen Häusern usw. Die Vorstellung also, dass die Musik gar nicht primär aufs Ohr trifft, sondern auf den ganzen Wahrnehmungsapparat der Haut, in erster Linie also taktil erfahrbar ist.“ Was dann wiederum ein überzeugender Beleg dafür wäre, warum die amplifizierte, stärkeren Schalldruck erzeugende Musik in den 50er Jahren eine so durchschlagende Wirkung haben musste.
Auch was die körperlichen Konsequenzen dieser Wahrnehmungsrevolution angeht, haben Theweleit/Höltschl ganz konkrete Vorstellungen. „In Hendrix‘ Musik verlöscht der Ideologie-Körper des 20. Jahrhunderts, der Gehorsamkeitskörper der faschistischen Blöcke wie auch der Zurichtungskörper der sozialistischen Überzeugungs-Garden.“ Sie schafft einen „Übergang aus dem formierten Körper in einen individuell vibrierenden; drogengefährdet, hedonistisch, sexualisiert, kunstinfiziert, semitolerant, verantwortungsfrei.“ Die beiden haben keine Marshall-Wand im Rücken, aber das kracht doch auch so schon ganz hübsch im Gebälk.
Der hier beschriebene „Wachstumsunterricht“ resultiere aus der spezifischen „transgressiven“ Qualität des Hendrix-Sounds: seine Gegensätze harmonisierende, fließende, organische Weichheit; seine Assonanz zu „körperlichen Aggregatzuständen, ihren Wechseln, Schmelz-, Kondensations-, Sublimierungstemperaturen“; seinen psychedelischen, pantheistischen, spacigen, elektrischen Love’n’Peace-Impuls, der sowohl textlich als auch in der klanglichen Gestalt wirksam wird.
Spätestens hier kann man ein paar Fragezeichen setzen. Etwa inwieweit diese friedensstiftende Wirkung seiner Musik nicht nur temporär, also während der Dauer einer Platte, eines Konzerts wirksam ist, sondern nachhaltig. Theweleit gibt zu. das „zurzeit nur auf der Selbstbeobachtungsebene beweisen oder belegen“ zu können. „Wenn ich überlege, was auf mich stärker gewirkt haben kann… Autoritäre Familie, relativ gewalttätiger Vater, der auf die Kinder eindrosch, wenn es nicht so lief, wie er wollte, von dem man natürlich auch ein Teil selbst hat, das eigene Cholerische. Mit der Erkenntnis, das steckt in einer bestimmten Weise in mir, stellt sich die Frage: Wie bearbeitet man das, wie wird man das los? Sowas wird man nicht los ohne Hilfen. Die massivste Hilfe sind Liebesverhältnisse, auf die man sich einlässt. Man wird entsprechend von der Frau zivilisiert, umgewandelt, wenn sie das mitmacht. Das andere sind die Künste. Film? Oft sehr gewalttätig, hat, würde ich sagen, nicht sehr pazifierend gewirkt. Literatur? Auch partiell gewalttätig, oft ideologisch. Also für mich war das in erster Linie die Musik. Elvis wurde nicht als gewalttätig wahrgenommen, sondern als Körperexplosion, in der Schule, mit 14 oder 15. Man konnte nicht mehr stillhalten, der Fuß begann zu zucken, das wuchs ein in den Körper. Aber die wirkliche Zivilisierungskraft kam mit der zweiten Welle, mit den Beatles, und Hendrix drehte das noch eine Umdrehung weiter. Zuerst war durchaus die Abwehr da. Ich erinnere mich genau, wie ich zum ersten Mal ,Star Spangled Banner‘ gehört und gedacht habe:
Was macht der da? Der zieht einem die Haut ab. Aber nach mehrmaligem Hören drehte sich das um, und das war genau in der Phase, in der man über Gewalt diskutierte. Hat man mit der RAF zu tun? Geht man in so eine Gruppe? Wo man dann argumentierte, eigentlich ist es richtig, was die machen, diese imperialistischen Staaten müssen zerstört werden. Gegen die amerikanische Besatzung ist das erlaubt, im ganzen antikolonialistischen Kampf ist das erlaubt, das war gar keine Frage. Die Frage war nur, geht das auch hier? Und wir kamen dann zu dem Ergebnis, nein, das geht hier nicht, gerade aufgrund der faschistischen Geschichte muss man grundsätzlich auf Gewalt verzichten, und bei dieser Entscheidung spielte die Hendrix-Musik eine Riesenrolle. Die half, gab einem die Sicherheit, das zu entwickeln. Und das habe ich als haltbar erlebt. Da hat sich etwas bei mir im Körper umstrukturiert. Das, was bei mir immer da war, die cholerische Gewaltfähigkeit, hat sich gemildert.“ Aber könnte ein anderer Körper nicht auch ganz anders reagieren? „Absolut. Deshalb sage ich ja auch Selbstbeobachtung.“ Dann fragt sich nur, wie repräsentativ das ist, was er wahrnimmt. „Überhaupt nicht.“ Er lacht laut. „Naja, es wird wohl einige geben, die das so ähnlich sehen, manche trifft man ja auch. Bei Lesungen aus dem Fußballbuch zum Beispiel habe ich ganz viele Leute kennengelernt, die dann sagten, was du da beschreibst, das ist genau meine Biografie.“
n „Tor zur Welt“ gibt es einen kleinen Exkurs zu den Anfängen seiner Schriftstellerei, der spart aber aus, wie er dann von der reinen Belletristik zu der jetzigen Hybrid-Form, dieser Wissenschaftspoesie gekommen ist. „Das hat angefangen mit dem Flugblattschreiben, obwohl das vielleicht merkwürdig klingt erst mal. Das ist auch so eine Mischform. Ich habe Gedichte und Theaterstückegeschrieben, Studentenbühne in Kiel gemacht, hab das alles weggeschmissen, genügte meinen Ansprüchen nicht. Was ich in dem Bereich so kannte, war alles besser. Mit der Politisierung der Studenten kam ich zu einem anderen Schreiben, das war eine schnelle Produktion, weil man diese Texte am nächsten Tag vor der Mensa verteilte, und sie musste die Leute erreichen. Es musste also interessant genug sein, es musste gut genug geschrieben sein, kurz, präzise, prägnant, wobei einem eine bestimmte Ausbildung in Lyrik entgegenkommt. Flugblätter haben ja ein bisschen was von Gedichten, wenn Sie einigermaßen gut gemacht sind. Und es musste stimmen, was da drauf steht. Sei es zum Vietnam-Krieg, sei es zu den Notstandsgesetzen, sei es zur Uni-Gesetzgebung, man musste sich da kundig machen. Und das ging dann weiter mit der Dissertation. Ich habe vorher drei Jahre Radio gemacht als freier Mitarbeiter, dann ein Graduiertenstipendium gekriegt, da war ich 30. Und der Anspruch ans Schreiben war da schon ein ganz anderer: Man hatte schon Derrida im Kopf, Roland Barthes und diese Sachen, diese Mischung aus ästhetischem, kritischem und Wisser-Schreiben, wie ich es aus der Filmkritik kannte, das war das Ideal.“
Und diese entgrenzende, Genres sprengende Qualität seines Schreibens ist dann offenbar auch das tertium comparationis zu Hendrix. Der Biograf sucht sich immer eine ihm gemäße Persönlichkeit – oder auch umgekehrt. Er nickt. „Und was wir im SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) gemacht haben, das ging in die gleiche Richtung. Das war ja nicht in erster Linie Widerstand gegen die Notstandsgesetze, das war Uni-Politik. Wir wollten andere Seminare, andere Stoffe, wir wollten die Popgeschichte integriert haben – und haben das angeboten. Wir haben Vorlesungen gesprengt, und als die Professoren sagten, wir machen keine mehr, haben wir das einfach übernommen.“ „Sehen Sie, und das will Götz Aly alles gar nicht wahrnehmen!“ „Nee“, er lacht versöhnlich, „der Blödmann.“