Der deutsche Sommer
Zum ersten Mal seit 25 Jahren haben R.E.M. wieder in Europa aufgenommen – im Berliner Hansa-Studio. Sie ließen sich in der Hauptsta dt von Kunst und Konzerten inspirieren, vom Nachtleben auch. Zwischen Bar 3 und Berghain blieb aber noch genug Zeit für die neuen Songs, die wieder opulenter klingen sollen. Von Birgit Fuß · Fotos von David Belisle
Michael Stipe kommt mit dem Fahrrad. Es sind die letzten glutheißen Tage in Berlin, aber der Sänger fühlt sich wohl – das enge Hemdchen ist kein bisschen verschwitzt, der Kopf trotz Helm auch nicht. Als Treffpunkt hat er das Café Bravo im KW Institute For Contemporary Art in Mitte vorgeschlagen, das ihm jetzt aber zu voll ist, auch die Musik fand er neulich eher schrecklich. Also ausweichen auf das Ausstellungshaus me collectors room, da sitzt kaum jemand an den riesigen Holztischen – und die Bilder gefallen Stipe. Er bestellt schwarzen Kaffee und erst nach längerem Überlegen noch ein Wasser. Er braucht keine Abkühlung. Wahrscheinlich kommt ihm bei diesen Temperaturen zugute, dass er in Georgia aufgewachsen ist. Dann springt er noch einmal kurz auf, um die Kunst aus der Nähe zu begutachten.
Es war eine kleine Sensation, als das Gerücht die Runde machte: R.E.M. nehmen in Berlin auf. Vor 25 Jahren waren sie zuletzt in einem europäischen Studio. In den vergangenen Jahren hatte sich das Trio vor allem in Vancouver getroffen, um an Songs zu arbeiten. Nun mieteten sie sich im Sommer einige Wochen im Hansa-Studio ein. Während der Aufnahmen wollten sie nicht von Journalisten gestört werden, danach sprachen sie dann ausnahmsweise doch über ihre Erfahrungen in der Hauptstadt. Es ist immer eine kleine logistische Meisterleistung, die drei Bandmitglieder zusammenzubringen, denn Sänger Michael Stipe wohnt in New York und manchmal noch in Athens, Georgia, wo Mike Mills zu Hause ist, während Peter Buck in Seattle immer in irgendeiner Band Gitarre spielt. Neben den dreien kam noch Jacknife Lee mit, der schon das letzte Album „Accelerate“ (2008) produziert hatte, zwei Toningenieure, außerdem ein Gitarrentechniker und Tourmanager Bob Whittaker, sozusagen das Mädchen für alles.
Aber warum nun ausgerechnet Berlin? Als David Bowie einst „Heroes“ aufnahm, war es der klaustrophobische Charme, der ihn anzog. U2 kamen für „Achtung Baby“ her, weil hier nach der Wiedervereinigung alles möglich zu sein schien. Diese großen Alben sind dem Musikhistoriker der Band, Peter Buck, natürlich wohlbekannt: „Die Hansa-Studios sind wegen ihrer Geschichte sicher jedem ein Begriff, Bowie und so. Aber wir kamen eigentlich darauf, weil Jacknife Lee dort 2008 mit Snow Patrol aufgenommen hat. Wir haben sie besucht, als wir in Berlin gespielt haben, und hingen ein bisschen dort herum. Die Atmosphäre gefiel uns. Wichtig ist aber eher die Stadt, nicht der Raum. Bisher waren wir für dieses nächste Album in New Orleans und Berlin, wobei Berlin wohl mehr Einfluss auf die Texte hatte. Michael ist ja nächtelang um die Häuser gezogen und hat die Atmosphäre aufgesogen.“
„Berlin is just a great place to be right now“, sagt Stipe. „Wenn man in einer langweiligen Stadt ist, die einen nicht inspiriert, ohne tolle Konzerte oder Kunstausstellungen und wo vielleicht auch noch das Essen mies ist, dann fällt es einem schwerer, kreativ zu sein. Ich zumindest verzweifle dann schneller. Während man in New Orleans oder Berlin, wo um einen herum so viel los ist, automatisch selbst ein höheres Energie-Level hat. Man will dann selbst auch das Beste geben. Ich glaube, das funktioniert. Ich hoffe es!“ Stipe kam gerade rechtzeitig zur „Berlin Biennale“ an, er traf sich mit vielen Leuten aus der Kunstszene und „fand so einen Platz hier in dieser Stadt“. Die ersten Songtexte entstanden, noch bevor der Rest des R.E.M.-Tross‘ ankam. Für die Fashion-Week hatte Stipe dann keine Zeit, und ein offizielles Treffen mit dem Bürgermeister konnte er sich sowieso sparen: Er kannte ihn längst. „Den haben wir schon in New York getroffen, wir haben gemeinsame Freunde. Klaus – er ist sehr nett.“
Hat Berlin denn die Erwartungen erfüllt, die Sie hatten?
Stipe: Berlin hat ja international diesen Ruf, dass man hier alles machen kann, wann immer man will. Natürlich stellt man hier dann fest, dass es gar nicht ganz so wild ist, aber es ist schon ziemlich offen und liberal. Wenn man aus New York kommt, merkt man, dass die Leute viel darüber reden, dass Berlin so ähnlich ist wie New York in den späten 70er-, frühen 80er-Jahren. Was nicht ganz unrichtig ist, obwohl sich diese Zeiten kaum vergleichen lassen. Berlin hat auch eine ganz andere Energie.
Gar nicht „typisch deutsch“?
Als Kind habe ich ja eine Weile in Deutschland gelebt, in der Nähe von Frankfurt. Als ich jetzt wieder hier war, habe ich sofort wieder diese irgendwie deutsche Mentalität angenommen. Ich musste nur meine Erinnerung anzapfen. Als kurzzeitig hier arbeitender Ausländer – also nicht als Einwanderer – habe ich mich sofort anpassen können. Mir fiel es leicht, sozusagen deutsch zu denken und so durch den Tag zu kommen. Ich habe auch viele Freunde hier, und mein Freund und ich hatten genug Leute, mit denen wir essen gehen konnten und ausgehen. Leute, die mit Musik zu tun haben, Künstler, Fotografen. Das Berlin, das wir gesehen haben, war also nicht das der Touristen oder das des reisenden Popstars oder das des jungen, kämpfenden Künstlers, der hierhergezogen ist, um sich einen Namen zu machen. Es war eine ganz andere, eine großartige Erfahrung. Diese Stadt öffnet sich jetzt wirklich den Menschen, die sich für sie interessieren. Alle möglichen Menschen, was super-inspirierend ist.
Anders als früher?
Ich war in den 80er-Jahren oft hier. Ich erinnere mich gut an die geteilte Stadt und daran, wie man den Osten durchqueren musste, um nach West-Berlin zu kommen. Wir waren ja im Van unterwegs, weil wir uns keine Flüge leisten konnten. Offensichtlich ist heute alles sehr, sehr anders – sogar extrem anders als in den frühen 90er-Jahren. Mitte der 90er-Jahre hatte ich in meinem Erfahrungsbereich der Welt das Gefühl – und das liegt vielleicht auch daran, dass ich noch nicht groß in China oder Indien herumgereist bin -, dass sich Berlin in meiner Lebenszeit am radikalsten und schnellsten von allen Städten verändert hat, die ich je besucht habe. Jetzt ähnelt sie langsam einer modernen Stadt des 21. Jahrhundert, sie findet ihren Platz.
Was auffällt: Michael Stipe sagt jetzt einfach so „mein Freund“, als wäre es, was es ja ist: eine Selbstverständlichkeit. Und doch hatte er es sich jahrelang verbeten, sein Privatleben zu thematisieren, er wollte keine „Labels“ („Die sind nur was für Dosenfutter“), er wollte seine Ruhe. Während die meisten Menschen in ihren Zwanzigern die Nächte durchfeiern und dann irgendwann den sogenannten Ernst des Lebens entdecken und sesshaft werden, ging der Sänger den anderen Weg. In den 80er-Jahren wirkte er oft so verschlossen und grüblerisch, dass man dachte, er trage die Last der Welt auf seinen Schultern. Politik war das Hauptthema von R.E.M., heute ist es eines von vielen. Ein paar exaltierte Tanzbewegungen deuteten damals schon darauf hin, dass er auch anders konnte, doch erst in den 90er-Jahren entdeckte er die Lust an buntem Make-up, man sah ihn plötzlich in Marc-Jacobs-Anzeigen und auf Modeschauen. Der neue Stipe versteckte sich nicht mehr, er zeigte sich – oder zumindest seine Oberfläche. Wer mehr will, muss ihn weiterhin singen hören.
Auch in Interviews ist der 50-Jährige noch heute eher vorsichtig, will nie zu viel preisgeben und niemandem zu nahe treten. Wenn er einen Berlin-Reiseführer schreiben würde, wäre zum Beispiel das Hipster-Restaurant Grill Royal wohl nicht unter den Top-Tipps, aber er ist natürlich viel zu höflich, um das so direkt zu sagen. Er will sich auch nicht festlegen, welches seine Lieblingsplätze in der Stadt sind: „Am Sonntagmorgen war ich im Berghain. Nach dem Frühstück bin ich ein paar Stunden tanzen gegangen, das war supernett. Obwohl es gar nicht einer meiner Lieblings-Orte ist. Ich mag diverse Cafés, da halte ich mich gern auf. Und auch an den Seen, in verschiedenen Kunstgalerien. Am liebsten gehe ich allerdings zu Freunden zum Abendessen.“
Viel Deutsch hat er leider auch nicht gelernt, weil ja jeder Englisch kann. Das erinnert ihn – warum auch immer – jetzt an das Bixels, einen Kartoffel-Laden in der Mulackstraße. Er spricht das perfekt aus. Und springt dann schon zum nächsten Thema: „Im Bemühen, die schwierige Vergangenheit zu bewältigen und irgendwie weiterzukommen, auch unter den komplizierten weltpolitischen Verhältnissen, scheint mir die Idee hier gewesen zu sein: Lasst uns offen sein, alle willkommen heißen. Auch über alles reden, das Vergangene annehmen und dann in die Zukunft schauen. Put the past behind and move forward. Ich begrüße das. Ich finde, das ist unglaublich modern und zukunftsweisend und gar nicht revisionistisch. Weil die Vergangenheit ja eben nicht verdrängt wird, sondern einen festen Platz bekommt.“
Mit einem Freund hat er auch das Denkmal für die ermordeten Juden Europas besucht. „Er war geschockt von dem Namen, denn in Amerika wäre es undenkbar, dass man das Wort, ermordet‘ benutzt. Das wäre einfach zu direkt, man würde das nicht so …“ Er blickt kurz in die Ferne, schüttelt den Kopf und murmelt: „Hm, das muss jetzt nicht in den Artikel, das passt vielleicht nicht hierher?“ Aber warum eigentlich nicht, frage ich ihn. Den meisten Deutschen ist wohl gar nicht bewusst, dass Amerikanern die Bezeichnung so drastisch vorkommt. „Unsere Mentalität ist eben anders. Das wäre zu unverblümt, zu real, zu grausam. Es würde zu deutlich das tatsächlich Geschehene in Erinnerung bringen. Amerikaner würden eher sanftere Begriffen benutzen, damit sich keiner angegriffen fühlt. Aber ich finde das bewundernswert: It is what it is.“ Er überlegt noch einmal lange und fasst seine Erlebnisse hier dann zu einem großen Kompliment zusammen: „Berlin ist mit beiden Beinen im 21. Jahrhundert gelandet, was man nicht von allen Städten sagen kann, die ich liebe.“
Während Stipe immer noch Berlin erforscht, befindet sich Peter Buck längst in Spanien, um etwas Urlaub zu machen – soweit das möglich ist, wenn man an das nächste R.E.M.-Album denkt und außerdem Konzerte mit einem anderen Projekt, Tired Pony, vorbereitet: „Man muss sich gut konzentrieren können. Ich spiele ja nicht nur in verschiedenen Bands, sondern auch verschiedene Instrumente. Das ist nicht leicht, aber es geht, wenn man seine Zeit in verschiedene Abschnitte aufteilt – ein paar Wochen in London mit Tired Pony, ein paar Wochen mit R.E.M. – und jetzt ein paar Wochen frei. Ich bin ganz gut im Jonglieren.“ Mike Mills weilt indes in New York City, wo er bei einem Auftritt des Baseball Project wiederum den verreisten Peter Buck vertritt.
Mills glaubt nicht daran, dass man hören kann, wo verschiedene Songs aufgenommen wurden – „aber man hört wahrscheinlich, wie glücklich wir dort gerade waren oder nicht“. Als Berlin als möglicher Ort ins Gespräch kam, war er sofort dafür: „Bei der Tournee 2008 haben wir schon gesagt, dass wir in Berlin immer zu wenig Zeit haben, um die Stadt wirklich anzuschauen. Wir waren ja immer nur ein, zwei Tage da. Und wir kannten natürlich die Hansa-Studios. Wenn man also eine Stadt, die man mag, verbinden kann mit einem Studio, das so viel Geschichte hat – that’s a no brainer. That’ll be fun!“ Er gibt unumwunden zu, dass Stipe sicher am meisten gesehen hat, während er vor allem die Gegend ums Ritz-Carlton-Hotel durchwandert hat – genau wie Peter Buck. „Im Radius von drei Meilen um den Potsdamer Platz“ kennen sich die beiden jetzt richtig gut aus. Zum Abendessen sind sie meistens zu Fuß gegangen, wobei zumindest bei Mills der Weg definitiv nicht das Ziel war: „All die kleinen Restaurants mochte ich sehr. Am besten hat mir sowieso das Essen gefallen. I wanted to eat all the Wurst I could. So that’s what I did.“ Hin und wieder zog das Trio auch gemeinsam los. Mit Gary Lightbody, dem Sänger von Snow Patrol und Tired Pony, waren sie in der Bar 3, man sah die Band beim Pearl-Jam-Konzert in der Wuhlheide auftauchen, später auch bei Patti Smith in der Zitadelle Spandau. Deutsche Speisekarten kann Mills inzwischen recht gut lesen, aber vorsichtshalber hat er sich eine Englisch/Deutsch-Übersetzungs-App aufs iPhone geladen.
Stipes Telefon liegt auch betriebsbereit auf dem Tisch, doch er steht den modernen Kommunikationsformen eher kritisch gegenüber. „Früher hatte man gar nicht das Bedürfnis, dauernd zu kommunizieren. Ein Grund, woanders hinzugehen war ja, weg zu sein! Dieses Gefühl, ständig mit anderen verbunden sein zu müssen, hat sich erst entwickelt, als es die technischen Möglichkeiten dazu gab. Es wird immer schwerer, sich zu konzentrieren.“ Auch für ihn persönlich? „Ich bin ganz gut im Fokussieren. Die richtigen Prioritäten setzen. Das Wichtige sehen und den Rest auch mal liegenlassen. Nicht, dass das eine großartige Fähigkeit wäre, aber es hilft, wenn man sich klarmacht, was gerade an erster Stelle steht. Das ist viel wichtiger, als sofort auf eine SMS zu antworten. Und manchmal ist es das Allerwichtigste auf der Welt, einen guten Chorus zu Ende zu bringen – und nicht, rechtzeitig zum Frühstück zu kommen.“
Gerade wurde das dritte R.E.M.-Album, „Fables Of The Reconstruction“, wiederveröffentlicht. Das hatten sie vor 25 Jahren zum Teil in London aufgenommen. Eine komplett andere Erfahrung als der Sommer in Berlin. Alle erinnern sich vor allem daran, dass sie im Dunklen zum muffigen Studio laufen mussten und permanent froren. Buck findet kaum noch Parallelen zur heutigen Situation: „Damals war es wirklich kalt, und wir waren wirklich arm. Wir haben 18 Stunden am Tag gearbeitet und sonst nichts unternommen.“ Mit Schaudern denkt Stipe daran, dass es kaum vernünftige Heizungen gab – während ihm jetzt in Berlin wiederum die Ventiloren fehlten. Von Klimaanlagen hält er nicht viel – schlecht für die Stimme -, aber Ventilatoren liebt er. „Während der Aufnahmen zu, Fables‘ haben wir ein paar wichtige Lektionen gelernt. Von da an haben wir nie mehr im Winter an kalten Orten aufgenommen! Von, Lifes Rich Pageant‘ an sind wir, sobald es kühler wurde, immer so weit Richtung Süden gezogen, wie es gerade ging. Alles, um Kälte zu vermeiden.“ Dass es im Ritz-Carlton zudem wohl angenehmer ist als in einer gemieteten englischen Bruchbude, ist klar.
In den Monaten zwischen den ersten Aufnahmen in New Orleans und denen in Berlin hatten Buck und Mills schon wieder fleißig neue Songs geschrieben – weshalb einige der älteren prompt wieder verworfen wurden. Ein natürlicher Prozess, findet Stipe: „Die guten Songs schwimmen am Ende oben, die schlechteren gehen unter.“ Und wo geht es momentan hin? Der Sänger runzelt die Stirn. „It’s still in a state of flux. Aber ich habe das Gefühl, dass wir gut in Form sind. Es gibt einige Überraschungen, über die ich aber lieber noch nicht reden will – stilistische, aber auch thematische Überraschungen. Ich habe mich selbst ein paar Mal überrascht und die Band auch. Was sehr erfreulich ist.“
Der ehemalige Tour-Keyboarder der Band, Ken Stringfellow (The Posies), beschrieb die neuen Songs kürzlich als „old school R.E.M.“, was bei Mills einen kleinen Heiterkeitsausbruch bewirkt – und eine Gegendarstellung: „Ich würde diesen Begriff nicht benutzen. Wir haben uns über die Jahre so verändert, aber wir sind natürlich immer noch die selben Songschreiber. Ich vergleiche das Neue nicht gern mit dem Alten. Für mich fühlt es sich frisch an. Der einzige Grund zurückzuschauen ist, um sicherzugehen, dass man sich nicht zu sehr wiederholt.“
Dass wieder Produzent Jacknife Lee für den Sound verantwortlich sein sollte, war von Anfang an klar. Auch wenn das nächste Album ganz anders werden soll als das letzte, „Accelerate“. Da hatten R.E.M. sich – vielleicht zum ersten Mal in ihrer Karriere – strenge Regeln auferlegt: Alles sollte schnell gehen, kurz und prägnant klingen. Damals eine gute Idee, weil sich durch die spontane Aufnahmesituation die Stimmung im Trio wieder verbesserte. Peter Buck war vorher etwas genervt gewesen, dass bei R.E.M. immer alles so lang dauert und allzu viel nachgedacht wird. Inzwischen freut sich aber auch er wieder über eine größere Bandbreite und keinerlei Beschränkungen. In Nashville werden nun noch ein paar Gesangsteile aufgenommen, dann gemixt. „Tennessee ist sozusagen auf dem Heimweg für alle“, findet Buck und stellt nach 30 Jahren R.E.M. immer noch überrascht fest: „Man weiß einfach nie, was man tut. Man kann noch so viele Songs schreiben, am Ende kommt immer etwas anderes heraus. In Berlin haben wir noch mal drei neue Songs geschrieben, alles ist immer im Fluss. Aber ich glaube, wir decken diesmal eine extrem breites Spektrum ab, musikalisch und emotional. Es gibt ein paar ziemlich akustische Stücke, sehr dunkle Sachen und auch ein paar richtige Pop-Songs. Spannend.“
Im Frühjahr 2011 soll das Werk veröffentlicht werden – bei der Plattenfirma Warner, der R.E.M. seit 22 Jahre treu sind. Sie sehen einfach keinen Grund für einen Wechsel, so Mills: „Mit vielen Leuten dort arbeiten wir schon ewig zusammen. Man weiß das gerade jetzt zu schätzen, da das Musikgeschäft an allen Ecken und Ende zusammenbricht. Es haben ja sowieso alle Labels dasselbe Problem: dass keiner mehr Platten kauft. Was insofern gar nicht so schlecht ist, weil die Musiker gezwungen sind, ihr Geld auf Tournee zu verdienen.“ Ob sie selbst wieder auf Tour gehen werden, wissen sie noch nicht. Die letzte Reise 2008 war lang, am Ende waren alle geschafft. Und allzu langfristige Pläne hat die Band noch nie gern gemacht. Für Michael Stipe ist zumindest am Tag des Interviews klar, wie es jetzt gleich weitergehen soll: Er will endlich die Lyrics fertigstellen, an denen er schon am Morgen gearbeitet hat. Die kurze Unterbrechung hat ihn nicht gestört, „ich musste sowieso raus, um mir einen Salat zu holen. Und ich habe auf dem Weg einige faszinierende Wandmalereien entdeckt.“ Auf seiner kleinen Digital-Kamera zeigt er Aufnahmen von einem Laden, dessen Schriftzug ihm gefiel („Dieser Fond braucht einen Schatten, weil er so dünn ist, und der Lichteinfall garantiert das. Wunderbar.“), und einem Baugerüst: „Die werden hier in Berlin ganz anders gemacht als in New York. Wie die Paneele zusammengesetzt sind – das hat eine ganz besondere Schönheit.“ Details, auf die sonst keiner achtet, haben ihn schon immer fasziniert.
Vor dem Café fragt Michael Stipe, kurzzeitig desorientiert, in welcher Richtung es zur Friedrichstraße geht. Dann überlegt er es sich plötzlich anders: „Ich gehe doch noch mal rein und schaue mir diese Bilder genauer an.“ Die Neugier hat wieder einmal gesiegt, der Songtext muss noch ein wenig warten.