Der deutsche Punk und die Neue Deutsche Welle im Schnelldurchlauf
Mitte der siebziger Jahre war alles irgendwie. Menschen und Dinge hatten die Form verloren. Die Musik ging aus dem Leim und hörte sich grau an. Superfrickeligkeit und Bombast herrschten vor: John McLaughlin, Ten Years After, Yes. Die Rebellion war verbeamtet.
Als dann in England die ersten Punks ins Bild taumelten, war alles voller Rotz und Schreie, wie es sich für eine Geburt gehört. Etwas Unbändiges ließ Adrenalin in die Medienkanäle schießen. Junge Menschen fühlten, wie etwas tief in ihnen einrastete. Anders als die Generation vor ihnen waren Punks aber nicht an Dauer interessiert. Punk war Musik im Übergang, glühende Gegenwart, keine Zukunftsmusik, no More.
Die mit ausdiskutiertem Sinn und öder Musik vollgestopfte Welt wich vor Punk erschrocken zurück. In das entstehende Vakuum schössen wie Sauerstoff neue Einflüsse. Aus England donnerten die Sex Pistols, Clash, Wire, aus Übersee die Rarnones und die schrägen Klänge von Devo, Snakefinger, den Residents. Die Musik war voller Entsetzen. Die Sänger schrien wie bei einem Autounfall, die Lenksäule im Brustkorb, die Musik dazu wie das Fräsen und Schweißen der Bergungsmannschaft. Albert Camus konnte nicht ahnen, wie sein berühmter Satz von der zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt am Wendepunkt zwischen den 70er und 80er Jahren noch mal reinhauen würde.
In dem Vakuum war genug Platz, etwas Neues, ganz speziell Hierzulandiges entstehen zu lassen. Nachdem Udo Lindenberg zum Schlagzeilenvorbeter verkommen war und Nina Hagen ihren Operettenpunk vorgeführt hatte, versuchten sich nun neue Gruppen an einer eigenständigen deutschsprachigen Popmusik. Die englische Starthilfe war rasch obsolet, aus Charley’s Girls wurden Mittagspause, aus Janey J. Jones wieder Peter Hein. 1980 wachte ich mal auf, als sich vier junge Männer über mein Bett beugten. Sie hießen Male und suchten einen neuen, deutschen Namen. Jemand hatte sie zu mir geschickt, ich sei Schriftsteller.
In Jürgen Teipels Doku-Bestseller „Verschwende deine Jugend“ bin ich der einzige Schriftsteller. Das hat damit zu tun, dass es damals eigentlich unvorstellbar war, dass jemand nicht Musiker und Popstar werden wollte. Die meisten meiner Freunde waren Musiker: Xao Seffcheque, Thomas Schwebel und Peter Hein von Fehlfarben, die Jungs vom Plan, Franz Bielmeier vom Rondo-Label, die Mädels von Östro 430, Mike Hentz von Minus Delta t, Chrislo Haas und Beate Bartel von Liaisons Dangereuses – und ich fand es großartig, wie sie mich und meine Schreibmaschine tolerierten, junge Menschen voller Großmut und Freundlichkeit: Punks.
Lang später, in den neunziger Jahren, lief nachts gelegentlich ein TV-Werbespot, in dem ein ergrauter ehemaliger MTV-Moderator jubilierte „Das waren die achtziger Jahre!“ und einem ein paar CDs voller Mist verkaufen wollte, und ich dachte in stillem Grimm: Nein, du Ratte, das waren nicht die achtziger Jahre. Dieser Ärger, mit dem ich beileibe nicht allein war, ist mitTeipels Buch verflogen. Jürgen Teipel hat alles erreicht, was man als Fan erreichen kann: Er hat die Zeit gerettet, die ihm und uns etwas bedeutet. Und er hat ein erstaunliches, neues Interesse daran geweckt.
Als im September 1979 die Neue Deutsche Welle (NDW) geboren wurde – eine Erfindung der Hamburger Punk-Koryphäe Alfred Hilsberg, der in der Musikzeitschrift „Sounds“ eine Artikelserie „Aus grauer Städte Mauern – die neue deutsche Welle“ betitelte – nahm zum ersten Mal jemand öffentlich Notiz von den explodierenden Aktivitäten junger einheimischer Musiker. Es war wie bei einem Vulkanausbruch in der Arktis: Alles war gleichzeitig da, Glut und Eis, eine Menge Lärm, und alles reagierte blitzartig aufeinander. Punk war das Brennende an der Bewegung, die Neue Welle der kühle, elegante Rand.
Ohne erst groß Ansprüche aufzustellen, wurden schnelle, zielsichere Würfe gelandet. Peter Hein brachte es zu Wege, sogar ein Wort wie Lieblingsfernsehonkel mitreißend zu singen. Rousseau, der alte Hippie, wurde auf den Kopf gestellt („Zurück zum Beton“; Harry Rag, S.Y.P.H.). Und wenn Wirtschaftswunder ein „armes Hippiemädchen“ zu Wort kommen ließen („Der Kommissar“), waren die Anführungszeichen in der Musik spürbar wie die Vibrationen eines Erdbebens.
1980 und 1981 kriegte man kaum Luft vor lauter famosen Neuerscheinungen – DAF, Abwärts, Mania D, Neubauten, Krupps, Palais Schaumburg, jldeal. Fehlfarben veröffentlichten mit „Monarchie und Alltag“ das Album zur Ära. „Fred vom Jupiter“ stürmte die Hitparade.
Wenn man sich in den Punk-Epizentren Düsseldorf (Ratinger Hof), Hamburg (Marktstube) und Berlin (SO 36) bewegte, war klar, dass die Weltherrschaft kurz bevorstand; und dann waren es doch immer dieselben Tausend Leute, die Maxisingles (mit Endlosrille) in Tausenderauflagen produzierten und sich, das allerdings mit Vergnügen, am eigenen Überschwang berauschten. Die Autonomieträume der frisch gegründeten Independent-Labels („Keine Mark der Plattenindustrie“) endeten mit der Erkenntnis, dass Vertriebsstrukturen bei Weitem nicht so schnell wachsen wie die Popularität angesagter Bands, „wir tanzen bis zum ende/ zum herzschlag der besten musik/ jeden abend jeden tag/ wir dachten schon das war ein sieg“ (Fehlfarben, „Das war vor Jahren“).
1982 ließ die imperiale Kraft von Punk merklich nach. Der NDW-Sommerhit „Ich will Spaß“ von Markus machte unmissverständlich klar, wohin die Reise ging. Punk tauchte ab in den tiefen Strom der Überlieferung.
Als ich 1983 nach Hamburg umzog, traf sich eine Weile jeden Donnerstag der Chaos Computer Club in meiner Wohnung. Ich will das jetzt nicht weiter ausführen, aber auf seine Art war das natürlich auch Punk in Deutschland: dass sich nämlich das Chaos als eingetragener Verein organisiert. Eines Abends kam ein Freund von mir, Bühnentechniker, mit Nina Hagen an. Bevor sie anfing, uns vorn im Wohnzimmer von Captain Ashtar und seiner rosaroten Ufoflotte zu erzählen, ging ich in die Küche, um Winni Bescheid zu sagen. Winni, ein virtuoser Programmierer, ist glühender Nina-Hagen-Fan. Also sagte ich in die Küche rein: Nina Hagen sitzt im Wohnzimmer.
Schallendes, nicht endenwollendes Gelächter.
Zwei Stunden später, die Hagen war längst weg, kommt Winni aus der Küche. „Nina Hagen war nicht wirklich da, oder?“
Auch das war Punk: der heldenhafte Verzicht auf die nur angenehmen Arten von Wirklichkeit.