Kritik: Der deutsche ESC-Vorentscheid – Auf der Flucht vor Trends
In einer sehr langen Show qualifiziert sich Isaak mit „Always On The Run“ für das ESC-Finale in Malmö
Niemand könnte besser gelaunt sein als Barbara Schöneberger. Sie geht diesmal in Orange als eine Art gewundene Flamme, vielleicht auch als Kürbis mit Stulpen an den Unterarmen. Ihr zur Seite sitzen Florian Silbereisen, dem alle vorgestellten Songs irgendwie gefallen, Mary Roos, die ihre Gesangskarriere beendet hat, der Diversitätsbeauftragte Riccardo Simonetti und die Sängerin Alli Neumann. Wie kann man ein weiteres deutsches Desaster beim ESC verhindern? Nicht Trends hinterherlaufen, schlägt Silbereisen vor. Aber welche Trends könnten es in den letzten Jahren gewesen sein? Grime? Trap? Country? Simonetti hat kürzlich mit Björn Ulvaeus in einem Podcast gesprochen, und Björn riet zu deutschem Schlager. Abba nannten gefühlige Balladen „deutsche Lieder“.
Die einzige Vertreterin des Schlagers ist Marie Reim, Tochter von Michelle und Matthias, deren „Naiv“ zwar gefühlig, aber keine Ballade ist. Bei Silbereisens „Schlager-Boom“ wäre sie eine Prinzessin mit diesem Stück, das die frühe Helene Fischer ebenso evoziert wie Maries Eltern. Außerdem hat sie jenes Kleid umgestaltet, das Michelle 2001 bei ihrem ESC-Auftritt trug. Es ist jetzt durchsichtig geworden. Vier Tänzer entledigen sich ihrer Hemden. Beatrice Egli und Nino de Angelo, die nicht zum engeren Kreis der ESC-Aficionados gehören, hatten zur Wahl von Marie aufgerufen. Mutter Michelle ist im Publikum.
Aber die Sympathien im Saal gehören Isaak, der die Konkurrenz beginnt. „Always On The Run“ türmt sich mit wuchtigen Trommeln auf, und Isaak trollt sich drollig zum „Run, run, run“, dazu Feuerwerk. Freilich sollte er das Tragen von Turnschuhen noch einmal überlegen. Der elegant in schlichtes Schwarz gewandete Ryk hat vielleicht ein doch zu kompliziertes Lied mit einigen Brüchen. Silbereisens Formulierung „Isaak, Max Mutzke, auch Ryk“ nimmt das Ergebnis bereits vorweg: Ryk ist der Schönste, die anderen holen ab. Floryan aus der Show von Conchita und Rea Garvey wirkt verloren wie auch Leonie, deren konventionelle Ballade hier nicht zündet. Später fehlt sie sogar auf der Bank neben Max Mutzke. Die Cabaret-Nummer „Katze“ von Galant und NinetyNine als einzige Gitarren-Band schlagen sich achtbar.
Nun wird ein Jury-Parcours abgefragt, bei denen die Schweiz und Österreich, Kroatien und Litauen, Spanien und England ihre Stimmen einbringen dürfen. Aus diesem Votum entsteht ein buntes Bild, aber Isaak ist der Favorit. Die Buchmacher, die auf Ryk gesetzt haben, können schon einpacken. Lord Of The Lost sind immer noch fröhlich und formen die Hände zu Telefonen. Während die Anrufe für die öffentliche Stimme gezählt werden, führen die beteiligten Künstler ein Medley aus Abba-Songs auf: Vor 50 Jahren gewann „Waterloo“ den ESC in Brighton; man sieht noch einmal die Ausschnitte. „The Winner Takes It All“, „Gimme! Gimme!“, „Voulez-Vous“, “Thank You For The Music”, „Money Money Money“ – das Publikum schwelgt.
Aber die Anrufe. Der Justitiar bringt den Umschlag. Barbara Schöneberger kann die Schrift kaum lesen, Zwölfpunkt. Leonie ist Letzte, Marie Reim im Mittelfeld, Max Mutzke Zweiter und Isaak der Sieger. Pflichtschuldig findet er alle Beiträge „unfassbar“, obwohl sie sehr fassbar waren.
Unfassbar lang war es halt: zweieinhalb Stunden bei neun Songs. Sollte der deutsche Vorentscheid länger werden als das Finale, müsste Einhalt geboten werden. Früher hätte die Sendung übrigens „Unser Lied für Malmö“ geheißen.