Der Dauerbrenner
Paul Kalkbrenner ist der neue deutsche Techno-Superstar, der große Hallen füllt und das Ausland fasziniert. Jetzt beginnt er seine Tournee.
Was, sagt Paul Kalkbrenner und lehnt sich gemütlich zurück auf seiner Couch zu Hause in Berlin-Mitte, würde mir ein Vertrag mit einem Majorlabel noch bringen? Die Frage sollte den großen Musikfirmen echte Sorgen bereiten. Kalkbrenner hat Ende vergangenen Jahres seinen Vertrag mit dem kleinen, aber feinen Techno-Label Bpitch Control von Ellen Allien aufgelöst. Er ist derzeit ohne Plattendeal. Angebote gibt es reichlich, doch er weiß gar nicht, ob er überhaupt noch einen traditionellen Plattenvertrag braucht.
Paul Kalkbrenner, geboren in Leipzig, aufgewachsen im ehemaligen Ost-Berlin, ist in vielerlei Hinsicht ein Phänomen, und das nicht nur, weil die klassischen Medien seinen erstaunlichen Aufstieg bislang fast völlig verschlafen haben. Vom letzten Album hat er nach eigenen Angaben knapp hunderttausend Exemplare verkauft, ohne dass es in den Charts aufgetaucht wäre. Man muss sich auf Kalkbrenners Angaben verlassen, weil die Verkäufe an der deutschen Chart-Institution Media Control vorbei getätigt wurden – wer dort nicht angemeldet ist, wird auch nicht gezählt. Die Charts aber sind Paul Kalkbrenner egal. Das ist, so absurd es auch zunächst klingt, einer der Gründe, weshalb er so erfolgreich ist: Er gehorcht keiner einzigen Branchenregel.
Kalkbrenners Karriere ist eigentlich ein Traum für alle Musiknostalgiker, die nicht müde werden, die Majorlabels für ihre Kurzfristdenke und Hype-Gläubigkeit zu kritisieren: Der 32-Jährige verdankt seinen Aufstieg keiner PR-Maschine oder Castingshow, sondern ganz altmodischer Zähigkeit. Er hat sich sein Publikum zusammengespielt, dafür hatte er genug Zeit, nicht ganz freiwillig allerdings. Denn Mitte der neunziger Jahre, auf dem kommerziellen Höhepunkt der Techno-Bewegung, begann Kalkbrenner mit dem Plattenauflegen, doch damit kam er im Grunde schon etwas zu spät.
Zwar zappelten noch bis zur Jahrtausendwende die Massen auf der Berliner Loveparade, aber die Techno-Welle war bereits gebrochen, die Claims abgesteckt: Die erste Generation der DJ-Superstars wie Westbam, Sven Väth und Paul van Dyk kassierte Traumgagen -Kalkbrenner stand noch in der endlos langen Schlange der unentdeckten Talente, weit weg von der Kasse.
Das reine Plattenauflegen langweilte ihn bald, er wollte selbst welche machen und mit einem echten Live-Set auftreten. Das Ende des Techno-Booms und die beginnenden Schwierigkeiten der Musikindustrie Anfang der nuller Jahre führten Leute wie ihn zwangsläufig in einen neuen Untergrund, der sich langsam in der Berliner Nacht formierte. Auf kleineren Labels wie eben Bpitch Control und in neuen Clubs wie Berghain, Watergate und Maria am Ostbahnhof. Da etablierte sich unbemerkt von der großen Öffentlichkeit eine künstlerisch kerngesunde, wirtschaftlich florierende Art neuer Techno-Schattenwirtschaft, als die Medien Techno nur noch hämische Nachrufe widmeten. Der heutige Feuilletonhype ums Berghain und das vermeintliche literarische Wunderkind Helene Hegemann, das die Berghain-Darkrooms nur aus den Blogs anderer Leute kannte, war noch weit weg.
In diesen Jahren wurde Paul Kalkbrenner langsam zum Live-Phänomen. Dann kam 2008 der Film „Berlin Calling“, danach war für ihn nichts mehr wie vorher. Die Welt hatte plötzlich die richtigen Bilder zur Welthauptstadt des Feierns – und einen passenden Star. Kalkbrenner spielte die Hauptrolle und nahm den Soundtrack auf. „Berlin Calling“, ein Indie-Film mit kleinem Budget, hat sich zum Programmkino-Dauerbrenner entwickelt, 120 000 Leute haben ihn mittlerweile gesehen, und noch ist er im sehr interessierten Ausland gar nicht richtig angelaufen. Kalkbrenner startete durch: die hunderttausend verkauften Alben – das ist sein Soundtrack für „Berlin Calling“.
Weil fast die Hälfte als Downloads wegging, brauchte die Platte nicht mal einen Riesenvertrieb. Und deshalb kann sich Paul Kalkbrenner nun so entspannt zurücklehnen: Er benötigt kein Majorlabel zur Promotion und zum Vertrieb seiner Musik; er hat seine gerade angelaufene Deutschlandtour fast ohne mediale Vorberichterstattung und ohne aktuelle Plattenveröffentlichung nahezu ausverkauft, und zwar die großen Hallen: In Berlin spielt er im April zum Auftakt vor 9500 Menschen, die Tickets sind seit Wochen weg. Er ist bis Ende des Jahres ausgebucht mit weiteren Club-Gigs in ganz Europa und darüber hinaus. Man muss sich Paul Kalkbrenner, jedenfalls für den Moment, als den glücklichsten Musiker der Welt vorstellen. Niemand zwingt ihn zu was, er muss sich schon selbst zwingen.
Wenn er nicht gerade auftritt, sitzt er am liebsten zu Hause auf der Couch, hört ein bisschen Klassikradio – und liest. Aktuelles Buch: Walter Kempowski: „Das Echolot – Barbarossa ’41 -Ein kollektives Tagebuch“. Wie gesagt, er ist in vielerlei Hinsicht ein Phänomen.