Der Abenteurer
Da ihm die Arrangements auf „Hearts And Bones“ nicht gefielen, wollte Simon für sein nächstes Album zunächst ein interessantes musikalisches Bett zimmern, bevor er mit dem Songwriting begann. Wie das klingen könnte, wurde ihm klar, als eine junge Songwriterin, die er produzieren sollte, ihm eine Kassette mit südafrikanischem Township Jive zusteckte, einem Amalgam aus traditioneller Zulu-Musik, Soul, Jazz und Reggae. So sehr hatte ihn seit Doo Wop keine Musik mehr elektrisiert. Er flog mit seinem Produzenten Roy Halee, der ihm schon bei Simon & Garfunkel ein Komplize gewesen war, nach Johannesburg, was in Zeiten der Apartheid und des als Reaktion darauf von der UN ausgerufenen Kulturboykotts ziemlich heikel war. Auch vor dem Hintergrund der in letzter Zeit viel diskutierten „kulturellen Aneignung“ ist die Idee, dass ein reicher weißer amerikanischer Songwriter sich bei unterdrückten schwarzen Musikern aus dem Getto eine musikalische Frischzellenkur holt und damit den größten Erfolg seiner Solokarriere landet, natürlich mehr als fragwürdig. Simon sah die Sache naturgemäß anders, weder habe man den Erfolg voraussehen können, noch habe er sich von einer Organisation in seiner Kunst einschränken lassen wollen, die Musiker habe er gut entlohnt und einigen die Möglichkeit gegeben, als Teil seiner Live-Band der Apartheid zu entkommen. Zudem habe der Erfolg seiner Arbeit eine neue Aufmerksamkeit auf die schwarze Kultur Südafrikas gelenkt und Künstlern aus der Region einen weltweiten Markt eröffnet. Politisch nicht unbedingt die korrekte Sichtweise, war diese Ignoranz künstlerisch für seine Zuhörer ein Gewinn. Die Songs, die er zu der in Südafrika aufgenommenen Musik schrieb, gehören zu seinen besten. Das daraus resultierende Album „Graceland“ (1986) und der musikalisch nicht weniger interessante, von westafrikanischer und indigener brasilianischer Musik inspirierte Nachfolger „The Rhythm Of The Saints“ (1990) wurden Klassiker, und der tiefe Eindruck, den dieser kulturelle Austausch bei ihm hinterlassen hat, ist bis heute in seiner Musik spürbar.
Ein Abenteurer und Entdecker ist Simon auch in den Jahren nach dem Erfolg geblieben, setzte mit seinem von karibischer Musik und – nun tatsächlich – Doo Wop beeinflussten Musical „The Capeman“ (1997) viel aufs Spiel, scheiterte, fing mit dem reduzierten „You’re The One“ (2000) neu an, und setzte seine musikalische Entdeckungsreise auf „Surprise“ (2006) fort, auf dem er seine Lieder um Brian Enos Klanglandschaften baute. Auch auf „So Beautiful Or So What“ (2011) und „Stranger To Stranger“ (2016) blieb er ein Suchender. Er vermählte westafrikanische Musik mit Bluesgrass und Gospel, setzte Samples und elektronische Beats gegen exotische analoge Instrumente und schrieb eines seiner schönsten Lieder, „Insomniac’s Lullaby“, nach der Tonlehre des Avantgardisten Harry Partch. „Oh Lord, don’t keep me up all night/ With questions I can’t understand/ While I wrestle my fears/ The sound in my ears/ Is the music that’s sweeping the land/ The Insomniac’s lullaby.” Es ist wohl kein Zufall, dass der Agnostiker Simon in den höchsten, für normalsterbliche Songwriter nicht zugänglichen Sphären schließlich doch auf Gott stößt. 2018 ließ Simon einige seiner Schöpfungen auf „In A Blue Light“ in neuem Licht erscheinen. Erwartungen anderer muss er schon lange nicht mehr erfüllen. Man weiß, dass es bereichernd ist, ihm zuzuhören, weil er Paul Simon ist.