Depeche Mode: Die 21 meistunterschätzten Songs
Von „Happiest Girl“ bis „The Darkest Star“: 21 Depeche-Mode-Songs, die eine Wiederentdeckung verdienen.
Wir listen Perlen und Geheimtipps, die Depeche Mode schon sehr lange nicht mehr, nie oder zu selten live aufgeführt haben. Ein Wunschtraum, natürlich, denn die Setlist der Band variiert während einer Tournee kaum. Aber wenn wir uns mal etwas aussuchen dürften …
Die 20 meistunterschätzten Songs, in chronologischer Reihenfolge:
01. Any Second Now (Voices) (1981)
„Voices“ im Titel, weil es auch eine „Instrumental“-Fassung gibt. Der Song etablierte Martin Gore als denjenigen Vokalisten, der für die Balladen zuständig ist, während Dave Gahan die schnelleren Stücke singt, von da an meist im Albumtrack-Verhältnis 1:4.
Warum führt Gore „Any Second Now“ heute nicht mehr auf? Vielleicht gefällt es ihm nicht mehr, wahrscheinlicher ist, dass er keine Werke seines ehemaligen Band-Chefs Vince Clarke solo vortragen will. Der wird hier als Komponist geführt.
02. Get The Balance Right! (1983)
Die Keyboard-Melodie trillert nahezu schwindelerregend, dieser Song handelt tatsächlich von der richtigen Balance – aus Eigennutz und Wohltat. Die Single bereitete für Depeche Mode den großen Blick aufs Ganze vor, Wirtschaft und Soziales global, wie im bald kommenden „Everything Counts“.
„Get The Balance Right!“ fügt sich in die Reihe großer Single-Only-Veröffentlichungen ein, zu denen „Shake The Disease“ und „It’s Called A Heart“ gehören. Diese frühen Stücke wirkten wie Statements. Spätere Single-Onlys wie „Only When I Lose Myself“ oder „Martyr“ erschienen nur wie übrig gebliebenes Session-Material, mit denen man die auf vier Jahre angeschwollene Wartezeit von Album zu Album überbrücken wollte.
03. Love, In Itself (1983)
Die Keyboard-Trompeten, Gores dezenter Einsatz einer Akustik-Gitarre und ein schräges Solo am Ende ergeben eine ihrer besten frühen Singles. Gahan singt „Now I find / That most of the time / Love’s not enough / In itself“, die Abkehr von den mit viel Bedeutung aufgeladenen Liebesliedern wie „The Meaning Of Love“ vom Vorgänger-Werk „A Broken Frame“. Allein das Komma im Titel wirkt etwas zu bemüht literarisch.
Depeche Mode sind sehr wählerisch, was die Live-Darbietung von Songs vor „Black Celebration“ 1986 angeht, und „Love, In Itself“ hat gegen den Albumkonkurrenten „Everything Counts“ sowie gegen „Leave in Silence“ oder „Just Can’t Get Enough“ leider keine Chance. Und als von Peter Gordeno auf dem Keyboard begleitete Solonummer kann man es sich schwer vorstellen.
04. It’s Called A Heart (1985)
Ein bisschen gedrechselt ist die Formulierung schon, „There’s something beating here inside my body / And it’s called a heart“. Aber die Ablehnung Martin Gores, der den Song nicht mag, teilen die meisten Fans zum Glück nicht.
Zwischen „Some Great Reward“ und „Black Celebration“ erschien diese Standalone-Single, und sie bildete eine perfekte Brücke zwischen den Industrial-Klängen der ersteren und den getupften, aber nicht minder düsteren der darauf folgenden Platte. Mit „Fly On The Windscreen“ enthielt sie zudem eine B-Seite, die derart mächtig war, dass Depeche Mode sie für „Black Celebration“ als Albumtrack neu aufnahmen. Ein für sie seltener, vielleicht einzigartiger Vorgang.
Für Improvisationen ist auf DeMo-Konzerten nie Platz, die Maschinen ließen sich wohl auch nicht einfach so umprogrammieren. Aber allein die Vorstellung, welche Begeisterungsstürme „It’s Called A Heart“ auslösen würde, spielten sie es nach 32 Jahren mal wieder live …
05. World Full Of Nothing (1986)
Der heimliche „Black Celebration“-Höhepunkt gehört seit 1990 nicht mehr zum inneren Kreis der Gore-Standards, die traditionell in der Mitte der Depeche-Mode-Konzerte stattfinden (im Gegensatz etwa zum „Black Celebration“-Song „It Doesn’t Matter Two“). Vielleicht, weil Gore die Naivität nicht mehr nachempfinden kann. In späteren Liedern wie „The Child Inside“ blickt er eher traurig auf seine frühen Jahre zurück.
Während der „World Violation“-Tour gehörte „World Full Of Nothing“ zum Set, überhaupt war der Gore-Block dieser Tour, bei dem der Komponist seine Songs überwiegend alleine auf der Akustikgitarre brachte (auch „Here Is The House“), der vielleicht überzeugendste ihrer Chronik. Die heutigen Versionen mit Peter Gordeno an den Tasten gleiten oft ins Theatralische ab, auch, weil Gore selbst dann oft beide Hände freihat. Er ist besser, wenn er selbst ein Instrument bedient.
06. Sacred (1987)
Die von Gore oft verwandte Geschichte des falschen Predigers, der Enthaltsamkeit predigt, aber vor irdischer Schönheit auf die Knie geht. Zu Anfang singen Gahan und Gore tatsächlich im Chor, im Taktschlag einer Glocke.
Auf „Music For The Masses“ hat „Sacred“ den undankbaren Platz als Track vier, zwischen der Single „Strangelove“ und dem bombastischen „Little 15“. Nach der 1987er-Tour wurde der Song eingemottet, auf dem Live-Album „101“ aus der Rose Bowl von Pasadena durfte er noch ein letztes Mal glänzen.
07. Nothing (1987)
Wenige Gore-Texte sind so nihilistisch, so poetisch und gleichzeitig pointiert wie dieser: „Life / Is full of surprises /It advertises /Nothing“. Es gibt einen Single-Mix (US 7“ Mix), also anscheinend für den amerikanischen Markt, der als B-Seite von „Strangelove“ mitgeliefert wurde. Mit seinem zeitgeistigen House-Beat ist er der Albumversion jedoch unterlegen.
Der dem Rhythmus angepasste Wassertropfen erinnert an die Experimente mit Alltagsklängen aus „Some Great Reward“, und er steht natürlich auch für die vermeintliche Monotonie des Lebens.
08. Pleasure, Little Treasure (1987)
Als „unseren Rock’n’Roll-Song“ bezeichnete Andy Fletcher diesen CD-Bonustrack bzw. B-Seite, der als eine der wenigen überhaupt von Depeche Mode live gespielt wurde. Auf dem „101“-Livealbum ist Gahans euphorische „Guitar!“-Ansage zu hören. Nach der Mitte des Sets wurde es auch mal Zeit, dass Gore sich das Instrument umschnallt.
Im selben Jahr erschien mit „Route 66“ auch ihre Coverversion des Klassikers von Bobby Troup. Es kündigte sich an, dass die Band sich in eine neue Richtung bewegen würde.
09. Sibeling (1990)
Die Klavier-B-Seiten „Memphisto“ und „Sibeling“ werden oft dem ausgebildeten Pianisten Alan Wilder zugeschrieben, komponiert wurden sie jedoch von Martin Gore. So oder so zeigen diese Gemeinschaftsarbeiten, Planung und Umsetzung, wie wichtig das Duo für Depeche Mode gewesen ist. Man darf dieser Zeit ruhig hinterhertrauern.
Beide Stücke sind Mini-Dramen, das Kopfkino zeigt den düstersten, sich vorzustellenden Film.
10. Sea Of Sin (1990)
Dave Gahan hat jüngst diesen Song als einen derjenigen bezeichnet, hinter denen er heute gar nicht mehr stehen kann. Er findet den Text peinlich: „Sea of sin / I’m swimming in / And I’m taking a dive“. Die Sinnbilder mit Eintauchen, Schwimmen oder Hineingleiten in den „See“, also körperliche Vereinigung, sind vielleicht abgegriffen. Aber Depeche Mode wären nun wirklich nicht die ersten mit solchen Umschreibungen, jeder macht so was mal, und viel cleverer ist der Text von etwa „Strangelove“ auch nicht: „Strangelove / Strange highs and strange lows / Strangelove / That’s how my love goes.“
Der Song bildet eine Einheit mit …
11. Happiest Girl (1990)
… „Happiest Girl“. „Sea Of Sin“ und „Happiest Girl“, beides B-Seiten von „World In My Eyes“, haben eine gewisse Trance-artige Schwere, die dem auf Abwechslung und Single-Material bedachten „Violator“-Album abgeht. Zwei perfekte Tanzflächen-Songs, die bei denen der Gesang eher wie ein i-Tüpfelchen wirkt. Clubmusik, wie er im Jahr 1990 auf balearischen Dancefloors gut hätte laufen können.
12. Death’s Door (1991)
Die Zeit, in der Song-Soundtracks noch gut waren! Allein der Blick aufs Cover zeigt schon, wer alles für einen Wim-Wenders-Film bereit war in die Bresche zu springen. Der Beitrag von Depeche Mode, ihr einziger originärer Song nach „Violator“ 1990 und bis „Songs Of Faith and Devotion“, beschreibt den Moment der letzten Lebensminuten: „Mother, are you waiting?Father, are you pacing? I’m coming home“.
Nach 1993 spielten Depeche Mode die Klavierballade Martin Gores nicht mehr live, leider. Könnte wie jüngst „The Things You Said“ wieder entdeckt werden. Zumindest im Abspann des „Devotional“-Tourvideos war er zu hören, inklusive Chor.
„Death’s Door“ war eine Vorarbeit zum Gospel von „Songs of Faith and Devotion“, der „Jazz Mix“ inklusive längerem instrumentalem Outro ist die noch bessere Version (erhältlich auf der „Condemnation“-Single, die vielleicht mehr Leute kauften als den Wenders-Score).
13. My Joy (1993)
Die einzige B-Seite der „Songs of Faith and Devotion“-Ära. „I’m not a mountain, no, You move me“ ist als Text vielleicht etwas ungelenk formuliert. Als Depeche-Mode-Rocksong kommt an „My Joy“ allerdings nur wenig vorbei. Hätte anstelle von „Rush“ einen Platz auf dem Album verdient gehabt.
14. Mercy in You (1993)
Es gibt vierte Songs auf DM-Platten, die so viel Anerkennung erfahren wie die Singles („Halo“) und bis heute gespielt werden, und es gibt vierte, die nach der Plattentour in der Versenkung verschwinden. Dazu gehört leider auch der „Songs of Faith and Devotion“-Track „Mercy In You“.
Schon bei der 1993er-Tour wurde er nur im Wechsel mit dem etwas schwächeren „Get Right With Me“ gebracht. Es gab Chorsängerinnen und Gores bis heute schönste Wah-Wah-Gitarre:
15. The Love Thieves (1997)
Auf ihrer „Global Spirit“-Tour haben Depeche Mode die „Ultra“-Platte, vielleicht auch wegen des 20. Jubiläums, mit bis zu sechs Songs gewürdigt. „The Love Thieves“ wartet jedoch seit 1997 auf seine Live-Premiere (Martin Gore, führte es zumindest bei Solokonzerten auf, oben).
Ihre Alben leben von Berg-und-Tal-Konfigurationen, auf das mächtige „Never Let Me Down Again“ folgte einst die Zaghaftigkeit von „The Things You Said“, „World In My Eyes“ wurde abgelöst vom dräuenden „The Sweetest Perfection“. „The Love Thieves“ war der perfekte Come-Down-Song nach dem wie ein Panzer marschierenden „Ultra“-Eröffnungsstück „Barrel of a Gun“. Gareth Jones mischte hier wieder mit („Vocal Engineering“), und jedes Wort Gahans, dessen Drogenabhängigkeit die Band ins Aus führte, wurde, ob geschrieben von Gore oder nicht, auf seine Person gemünzt, auf ihn, den Überlebenden.
16. Comatose (2001)
Das Demo soll laut Gore und Andy Fletcher noch schöner, noch intimer gewesen sein. „Don’t be afraid / I’m floating away“ ist eine typische Gore-Zeile, die Gore auch selbst singt, weil er Liebe so oft als Abhängigkeit versteht.
Bei der „Exciter“-Tour führte er es nicht auf, man ahnte damals schon, dass es eine spätere Gelegenheit auch nicht geben würde. Der etwas bessere Electro-Blues von „Breathe“ erhielt live den Vorzug.
17. Macro (2005)
Mit „Macro“ widmet Gore sich, wie später in den „Sounds Of The Universe“, der Singularität: „See the microcosm / In macro vision / One universal celebration /One evolution / One creation.“ Der Songwriter würde ab dem neuen Jahrtausend einige spirituell bis astrologisch angehauchter Texte verfassen. Was „Macro“ so besonders macht, ist die Lautstärke-Dynamik, der krachende Drumcomputer, der den Liedern Gores eine Dramatik verleiht, die sie sonst selten haben.
Auf der Bühne bot „Macro“ auch Dave Gahan den seltenen Anlass, einfach im Hintergrund abzutanzen, statt sich backstage abzutrocknen.
18. The Darkest Star (2005)
„The Darkest Star“ ist unter allen bis heute nicht live gespielten der vielleicht beste: ein Ende wie der Sog in ein schwarzes Loch, ein typisches Schluss-Stück von Depeche Mode. Es fasst auch das Motto des Albums zusammen, denn „Playing The Angel“ wird darin referenziert.
Es lohne sich nicht, unschuldig zu tun, denn wir alle haben unsere dunklen Seiten. Binsenweisheiten, natürlich, aber eben auch ein Bekenntnis zu dem, was DM auszeichnete. Das Schwarze, nie das Weiße. „Stay as you are / the Darkest Star /Shining for me /Majestically“.
19. Newborn (2005)
Die beste ihrer späteren B-Seiten. Nicht nachvollziehbar, warum „Newborn“ nicht auf „Playing The Angel“ erschien – vielleicht war der erst mit der dritten Albumsingle „A Pain That I’m Used To“ veröffentlichte Song nicht rechtzeitig fertig, um auf der Platte zu landen. „I Want It All“ und „Nothing’s Impossible“ waren deutlich schlechter, womöglich wollte Gahan beide Songs einschleusen, fungierte er doch auf ihnen doch als Co-Songwriter.
Ein Lied mit ungewohnter Leise-Laut-Dynamik und einem ebenso an sich optimistischen Text, der durch die DM-typische Färbung dann doch seine Todesdramatik erhält: „Newborn / For the first time / I’m not born again /I have never lived at all.“
20. Light (2009)
Als Bonustrack von „Sounds Of The Universe“ erschienen. Überhaupt, die Bonustracks: Der Album-Nachfolger „Delta Machine“ hat zwar eine noch hochkarätiger besetzte Ersatzbank („Happens All The Time“, „Always“, „All That’s Mine“). Aber auch hier zeigt sich, wie schwer es für Gore, Gahan und Andy Fletcher gewesen sein muss, sich auf die Tracklist der regulären Platte zu einigen.
Als Instrumental übertrifft „Esque“ das Albumstück „Spacewalker“, „The Sun and the Moon and the Stars“ hätte auf „Sounds of the Universe“ gehört („In Sympathy“ raus), der Techno-Song „Oh Well“ ist zumindest interessant. „Light“ sticht hervor, allein schon, weil der Song so positiv ist und von Aufbruch handelt. Depeche Mode als Missionare: „You know we have to make a case for love / It’s more of a duty / It’s clear we have a mission from above /A mission of beauty.“
21. Happens All The Time (2013)
Wie schon bei „Sounds of the Universe“ lohnt sich auch hier die Bonus-CD. „Always“ zeigt Martin Gore von einer ungewohnt aggressiven Seite, aber das von Dave Gahan und seinem Partner Kurt Uenala komponierte „Happens All The Time“ ist der Höhepunkt – es hätte seinen Platz auf dem regulären Album verdient, das erstaunlich viel Füllmaterial aufwies („My Little Universe“, „Slow“, „Alone“ …)
Die Widersprüche sind bewegend, die Stimmung wechselt zwischen Abgeklärtheit („We Can’t Live In The Past“) und trauriger Einsicht: „No Need To Feel Ashamed / There’s Nothing To Be Gained /When Your Dreams Are In The Past“. Die Musik von Depeche Mode lebt von Melancholie, auch Nostalgie. Die Perspektivlosigkeit war neu.