Das Tor zur neuen Welt
Die Saga "Eine Reihe betrüblicher Ereignisse" von Daniel Handler alias Lemony Snicket löst eine wahre Manie aus
Uns fehlt ein Wort dafür. „Sadismus“ klingt zu pathologisch, „Schadenfreude“ zu schäbig – wie nennt man diesen leicht angefiesten Trost, den einem das Leid anderer beschert? Das behagliche Gefühl, vom sicheren Ufer aus zu betrachten, wie andere beim Sturm auf See in ihrem Boot herumgeschaukelt werden, wie der römische Dichter Lukrez schreibt: „nicht, als könne man sich am Unfall anderer ergötzen, sondern weil man sieht, von welcher Bedrängnis man frei ist“? Die amerikanische Buchreihe „A Series Of Unfortunate Events“ von Lemony Snicket (natürlich ein Pseudonym) kitzelt auf unvergleichliche Weise diese Empfindung.
Die Geschichte der auf 13 Bände angelegten Saga (elf sind im amerikanischen Original schon erschienen, auf deutsch werden sie unter dem Titel „Eine Reihe betrüblicher Ereignisse“ nun bei Goldmann Manhattan herausgegeben): Die Geschwister Violet, Klaus und Sunny Baudelaire werden zu Waisen, als ihre Eltern bei einem Brand umkommen. In jedem Band der Serie schickt sie ihr Vormund Mr. Poe zu einem anderen entfernten Verwandten, der für sie sorgen soll – doch diverse „unfortunate events“ sorgen stets dafür, dass die Baudelaires nicht zur Ruhe kommen: beschwerliche Arbeit in einer Sägemühle, ekelhafte Blutegel, kalte Gurkensuppe, ein
hundsgemeiner Vizerektor, kratzige Pullover und natürlich Graf Olaf, der Superschurke der Serie, der in jedem Band in immer abenteuerlicheren Kostümen versucht, sich der Baudelaires – und ihres geerbten Vermögens – zu bemächtigen.
Hinter dem Erzähler Snicket, der dem Leser immer wieder traurig rät, alle Hoffnung auf eine glückliche Wendung fahren zu lassen, verbirgt sich Daniel Handler, der unter anderem Akkordeonspieler der Band The Magnetic Fields ist. Das passt ausgezeichnet, weil es auch in deren Liedern oft leicht trübselig zugeht – und weil Bandchef Stephin Merritt für jede Folge der amerikanischen (vom Autor wunderbar ermattet und hoffnungslos eingelesenen) Hörbuchausgabe ein exklusives, sterbenstrauriges Stück spendiert. Nach der 13. Folge sollen die Klagelieder dann als eigenes Album erscheinen.
Bis dahin und zum Ende der Serie dürfen ihre in Amerika ausgesprochen zahlreichen Fans darüber nachdenken, ob es sich dabei wirklich, wie die äußere Form nahe legt, um Kinderbücher handelt, die nur eben – wie bei „Harry Potter“ geschehen von beharrlich kindischen Erwachsenen (so genannten kidults) gelesen werden. Dafür spricht, dass Handler die Schurkereien des Graf Olaf nach eigener Aussage gezielt als Alternative zu gängiger Kinderliteratur erdacht hat, in der es primär um glückliche Vorkommnisse in Feriencamps und sahniges Himbeereis ginge: „Ich mochte als Kind viel lieber Bücher, in denen eine Hexe einem Kind den Kopf abschneidet oder ein Rudel wilder Hunde eine Familie überfällt.“ Gegen das Kinderbuchgenre spricht, dass Handler den gängigen Elende-Waisenkinder-Topos (bekannt unter anderem aus „Oliver Twist“ und „Anne auf Green Gables“) so abstrus übersteigert hat, dass er eigentlich nur noch eine Referenz sein kann wie die ganze Serie voller kultureller Anspielungen steckt, die nur leidlich gebildete Erwachsene entdecken können. Allein die Namen der Baudelaires, ihres Vormunds Mr. Poe und des Erzganoven Graf Olafs sind kunstvoll miteinander verwoben: Charles Baudelaire übersetzte Edgar Allan Poe ins Französische und widmete seine „Blumen des Bösen“ dem Autor Theophile Gautier, in dessen Roman „Avatar“ wiederum ein gewisser Graf Olav auftritt.
Weitere kunstvolle Verstrickungen, die auf putzige Weise in bildungsbürgerlichen Internetforen diskutiert werden, weben unter anderem Dante, Dr. Caligari, Thomas Pynchon und Virginia Woolf in das dichte Netz der Erzählung, die ab der sechsten Folge obendrein noch eine verschwörungstheoretische Wendung nimmt: Womöglich steckt eine Geheimorganisation mit den Initialen VFD hinter dem Schamassel, in das die unschuldigen Baudelaires immer wieder geraten.
Ob die Verfilmung mit Jim Carrey, die Ende Januar in die Kinos kommt, die Komplexität der Bücher tatsächlich würdigen kann, bleibt abzuwarten. Vielleicht empfiehlt sich statt dessen doch eher die Lektüre von Daniel Handlers neuem, ausgewiesenen Erwachsenenroman „Adverbs“. Eine Liebesgeschichte soll das sein – und, überraschenderweise, wie eigentlich jede Liebesgeschichte: ziemlich traurig.