Das System Löw: philosophische Überlegungen vor dem ersten deutschen WM-Gruppenspiel

Deutschland ist seit 18 Jahren ohne Titel. Schön gespielt hat das deutsche Team vor allem phasenweise bei der letzten WM. Davor und danach war viel Sand im Getriebe und längst nicht alles Gold.

Der Filmjournalist, Kritiker und ROLLING-STONE-Autor Rüdiger Suchsland schreibt hier über die Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien.

VfB Deutschland: Ein paar philosophische Überlegungen vor dem ersten deutschen WM-Gruppenspiel, der Schwaben-Fluch und fünf goldene Regeln – WM-Blog, Folge 4

„Mit dem Fußball geht es wahrscheinlich dem Ende zu. Die Zeichen des Verfalls sind nicht zu übersehen.“ – diese grauslig-apokalyptische Vision hatte Sepp Herberger, der Fundamentalontologe und Schamane des deutschen Fußballtums kurz vor seinem Tod 1977. „Wenn es um Fußball geht, kann man nicht gleichgültig bleiben,“ wusste einst auch Bundeskanzler Gerhard Schröder. Fußball, das ist klar, ist nie nur ein Spiel.

Die interessanteste Frage vor dem ersten deutschen WM-Gruppenspiel heute Abend ist daher die, was nun überhaupt aus dem deutschen Fußball wird: Geht er an den eigenen, irgendwie maßlosen Ansprüchen kaputt? Oder zieht er sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf der immer höheren Erwartungen?

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„Mich hat das noch nie überzeugt.“ sagt Oliver Kahn im ZDF maliziös auf die Frage, ob ein Stürmer für die komplette WM reicht. Klar: Olli hat mehr als eine Rechnung mit Jogi Löw zu begleichen. Das heißt aber nicht, dass er unrecht hat. Nicht auszudenken, wenn Miro Klose sich verletzt. Richtig in Form ist er sowieso nicht; ein Jubiläumstor gegen Armenien kann das nicht übertünchen.

Was also, grundsätzlicher formuliert, machen die Deutschen, wenn sie in Rückstand geraten, und schnell Druck machen, Torchancen erzielen müssen. Müller, Podolski und Götze können, falls sie einen guten Tag erwischen, eine effektive zweite Spitze spielen. Aber wenn nicht?

Deutschland hat keinen Benzema, keinen Balotelli, keinen Neymar und einen Messi schon gar nicht. Es fehlt ein schneller, sicherer Vollstrecker, ein Striker in der Nachfolge von Klinsmann, Bierhoff und Völler, es fehlt aber erst recht einer, der taktisch Spiele entscheiden kann. Vielleicht entwickelt sich Götze dahin, aber bisher sehe ich das nicht. Das System Löw ähnelt mehr Hallenhandball, als einem modernen, auf vier Wochen angelegten Turnierfußball.

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Beginnen wir mit Löw selbst: Auch Löw hat erkannt „…dass wir schon auch viele Chancen brauchen, bis wir ein Tor schießen.“ Nach dem Armenien-Spiel meinte er: „Wir haben schon erkannt, dass wir einiges noch machen müssen“ Schön für ihn. Wir sind gespannt.

Die Gruppe G ist neben der Gruppe B die Todesgruppe der WM. Portugal „is gefährlich“ (Mehmet Scholl). Ghana überstand die letzten zwei WM-Turniere die Vorrunde. Grund genug Respekt zu haben, wenn auch keine Angst. Und die USA, vielleicht die schwächste Mannschaft der Gruppe sind gegen das DFB-Team besonders motiviert und gut eingestellt. Nicht auszudenken, wenn heute Abend gegen Portugal verloren würde.

Aber wer sagt eigentlich, dass Deutschland die Vorrunde übersteht?

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Nehmen wir einmal Philipp Lahm. Nein, keine Namenswitze. Erinnern wir uns: 2006 schoss er nach nur sechs Minuten im Eröffnungsspiel das 1-0 und damit das erste WM-Tor. Ein kometenhafter Aufstieg und Verdienst des damaligen Bayern-Trainers Felix Magath, der dem nach Stuttgart ausgeliehenen Dauerverletzten erst acht Monate vor der WM den ersten Einsatz im Bayern-Trikot ermöglichte und ihn zur Bestform führte.

Seitdem spielt Lahm, der einzige deutsche Nationalspieler, der sämtliche 90 Minuten aller deutschen Partien während des „Sommermärchens“ 2006 mitspielte, eine Schlüsselrolle in der Nationalelf: Prototyp des flachen, schnellen, kurzpässigen Offensivspiels aus der Abwehr heraus, das Bundestrainer Löw in der deutschen Nationalmannschaft ständig perfektioniert, und das jetzt, beim fünften Turnier mit Lahm, und beim vierten unter Löw endgültig vor seiner Bewährungsprobe steht.

Es wird sich jetzt zeigen müssen, wie überzeugend dieses System Löw wirklich ist. Die positive Lesart seiner bisherigen Amtszeit lautet: Unter Löw spielt die Mannschaft so schön wie selten, sie ist konstant erfolgreich, sie ist aktuell zweitbeste europäische Mannschaft und Zweiter der FIFA-Weltrangliste, sie war bei den letzten vier Turnieren jeweils unter den besten vier Mannschaften. Zudem ist sie eine der jüngsten Mannschaften des Turniers, bei der EM 2012 und der WM 2010 war sie die jüngste überhaupt. Deutsche Spieler sind international attraktiv wie lange nicht. Die Mannschaft ist zudem ein sehr effektiver Botschafter der Nation, sie zeigt ein positives, neues, junges, multikulturelles, lockeres, kurz: sympathisches Bild Deutschlands. Was will man mehr?

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Titel vielleicht? Die negative Lesart lautet: Deutschland ist seit 18 Jahren ohne Titel. Schön gespielt hat das deutsche Team vor allem phasenweise bei der letzten WM. Davor und danach war viel Sand im Getriebe und längst nicht alles Gold. Man kann auch Dinge schönreden, zumal wenn man sie mit dem Holperfußball und Ribbeck und Völler vergleicht, von Berti Vogts einmal ganz zu schweigen. Dass deutsche Spieler international wieder attraktiv sind, ist nicht Löws Verdienst, sondern das von innovativen Vereinstrainern wie Klopp, Tuchel, auch Labbadia, aber auch von älteren, erfahreneren wie Heynckes und Magath und von einem Götterboten wie Guardiola.

Wenn das Team jünger, lockerer und moderner wirkt, dann spiegelt das vor allem die veränderten Zeiten. Und multikulturell, das waren die Franzosen schon 1998 – da ist Deutschland immer noch dabei, etwas nachzuholen, was in anderen Ländern, man könnte auch Holland oder England nennen, längst eine Selbstverständlichkeit ist.

Es ist ein schöner Nebeneffekt, wenn eine Nationalelf für ihr Land wirbt, aber nicht ihr eigentlicher Sinn. Und das jüngste Team eines Turniers muss eine Mannschaft auch nicht sein, sondern das beste. Nachhaltigkeit ist im Fußball eine sekundäre Tugend. Löw muss nicht die WM im Jahr 2030 planen, er sollte jetzt endlich auch einmal einen Titel holen. Das hat sogar Berti Vogts geschafft.

Bei einem EM- oder WM-Turnier unter den besten vier Teams zu sein, das ist für ein deutsches Nationalteam in den letzten 50 Jahren fast schon eine Selbstverständlichkeit. Jedenfalls genau die Minimalerwartung. Alles andere würde als Misserfolg gewertet. Solche Erwartungen mögen überzogen sein, und natürlich kann man viel an ihnen aussetzen. Aber es ändert nichts daran, dass sie existieren. Man muss mehr wollen als immer nur das Halbfinale.

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Und hier sind wir wieder bei Philipp Lahm. Denn die Karriere von Lahm, einem der besten, und nicht nur in ihrer Konstanz beeindruckendsten deutschen Nationalspieler ist vor allem durch eines gekennzeichnet, das frühere deutsche Fußballergenerationen nicht kannten: Es fehlen die internationalen Erfolge.

Lahm der immer noch jung wirkt, den Charme des bubenhaften Anfängers ausstrahlt, ist seit zehn Jahren Nationalspieler. Seit acht Jahren Stammspieler. Wie Podolski, wie Schweinsteiger, wie Mertesacker. Sie alle gehören wie der viel ältere Klose, wie auch Müller, Khedira, Özil, wie einst Ballack zu jenen Spielern auf Top-Niveau, denen der entscheidende Nationalmannschafts-Erfolg versagt geblieben ist. Eine Generation der Titellosen.

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Schließlich das Irrationale. Das, was man im Fußball nicht unterschätzen sollte. Wie Traditionen, auch sie sollte man nicht vernachlässigen, in der Musik, wie im Fußball. Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft hat im letzten Jahrzehnt wie beschrieben schon so manche Tradition ignoriert: Man spielt offensiv über die Flügel und grätscht sich nicht mehr ins Finale, sondern geht im Halbfinale mit fliegenden Fahnen unter, wie sonst nur die Holländer. Und wie bei denen das Trikot Oranje sind die deutschen Farben seit jeher schwarze Hose, weißes Hemd. Doch nun der Traditionsbruch:

Ganz in Weiß! Wie die Fahne der Kapitulation. Wie das Unschuldslamm, das Deutschland aus guten Gründen politisch sein möchte. Oder eben doch nicht. Nicht galaktisch weiß, wie Real Madrid, die man nicht mögen muss, um sie zu respektieren, sondern mit rotem Brustbalken – wie beim VfB Stuttgart. Wie kann man nur! Geschmacklos wird man nie Weltmeister. Gut, in seiner Geschmacklosigkeit übertrumpft das neue Trikot noch jenes von 1990 mit schwarzrotgoldenem Zickzackstreifen an der Hüfte. Damit wurde Deutschland immerhin Weltmeister. Aber Jogi Löws Ex-Verein VfB, taugt wirklich nicht als Vorbild. Fußball ist irrational, funktioniert über Gefühl und Magie. Und das Loser-Gen des VfB wird wie ein böser Zauber über dem deutschen Team hängen. Die deutsche Nationalmannschaft fliegt spätestens im Viertelfinale raus. Wetten das? Der Grund dafür ist dann natürlich das Trikot!

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– Bisher hat jede Mannschaft in komplett weißen Trikots ihr WM-Spiel verloren.

– Fußball ist keine Mathematik.

– Offense wins game, defense wins Championship.

– Im Fußball gibt’s keinen Schönheitspreis.

– Jede Serie geht einmal zu Ende

– Die Deutsche Mannschaft ist eine Turniermannschaft.

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