Das sind die Chancen Deutschlands bei der WM: Ego – das Spiel des Lebens
Die deutsche Nationalmannschaft entspricht der Gesellschaft und Politik, die sie vertritt. Deutschland spielt gegen Mexiko und ROLLING-STONE-Autor Rüdiger Suchsland startet unseren WM-Blog.
„Wir werden erleben, dass sich Fans von Schalke und Dortmund in den Armen liegen, weil ein Spieler des FC Bayern ein Tor erzielt hat.“
(Reinhard Grindel, DFB-Präsident)
„Man muss aus Liebe zum Sieg spielen und nicht aus Angst zu verlieren.“
(Juan Carlos Osorio, der kolumbianische Nationaltrainer von Mexiko)
Am Sonntag geht’s los für die Deutschen, endlich nach all den Geplänkeln, Nebenschauplätzen und Vorbereitungsspielen. Dabei sind die schwachen Vorbereitungsspiele fast schon Routine. Schwerer wiegt der Zustand des Quartiers in Watutiki, dem der DFB selbst den „Charme einer Sportschule“ bescheinigt. So kann man das beschönigen, kann wie Bundes-Jogi Löw bemerken, „Wir müssen uns an die Schlichtheit, diese Kargheit auch gewöhnen.“ Fakt ist aber, dass bei einem großen Fußball-Turnier Stimmung, Gruppendynamik und Teamgeist alles sind. Und wie förderlich diese Unterkunft, die irgendwie aus alten Sowjetzeiten übriggeblieben ist, dem sein wird, muss sich zeigen: Im Campo Bahia vor vier Jahren bildete man bekanntlich vier Wohngemeinschaften, diesmal sind sie Spieler in Einzelzimmern untergebracht – schon das sagt viel, schon das wird Einfluss auf den Zusammenhalt haben.
Hat der DFB nichts Besseres gefunden?
Warum schottet sich die deutsche Mannschaft ab?
Was wird sonst getan, um das Wohlbefinden der Spieler zu stärken, die nötige Lässigkeit und die Hierarchien herzustellen. Es sagt sich gut, dass die Zeiten von Beckenbauer, Matthäus und Effenberg vorbei seien.
Aber jedes Team braucht einen Zusammenhalt und eine innere Ordnung – nur als Haufen von Individualisten und Geschäftspartnern hat noch niemand die WM gewonnen. Die Frage ist auch erlaubt: Muss ein PR-Termin den nächsten jagen? Muss (und darf?) die Nationalmannschaft so komplett auf Tauchstation gehen, wie die deutsche?
„Warum schottet ihr euch ab?“ fragt der Spiegel nun zu recht, obwohl er die Antwort wissen könnte. Schotten sich die Regierenden denn weniger ab? In Einzelzimmern oder klimatisierten Medienzelten? Viel öffentliche Gelder, aber keine Pflichterfüllung – auch das könnte man über beide Gruppen feststellen. In der Filterblase herrscht Angst vor Offensive. Probleme und Skandale werden schön geredet, schließlich sind wir Exportweltmeister und wollen den Wirtschaftsstandort Deutschland nicht gefährden. Und pünktlich zum Dieselskandal wechselt der Autosponsor des DFB von Mercedes zu Volkswagen. Timing ist alles.
Honorieren wir offenes Spiel mit dem Anderen?
„Was erlauben wir, welches Spiel wollen wir spielen? Wollen wir ein uneigentliches Spiel von verdeckten Schachzügen, von heimlichem, indirekten Reden in unseren Gesellschaften, in unseren Demokratien, oder wollen wir etwas anderes? Honorieren wir offenes Spiel mit dem Anderen?“
(Frank Schirrmacher)
Konfliktpotential Özil und Gündogan
Aber geben wir zu: Die deutsche Nationalmannschaft entspricht in ihrer in vielem irritierenden öffentlichen Kommunikation nur der Gesellschaft und Politik, die sie vertritt. Instinktlose Gesten und Kotaus der türkischstämmigen Nationalspieler Özil und Gündogan vor dem Autokraten Erdogan sind nur ehrlicher Ausdruck der real fehlenden Identifikation mit einem bestimmten Land, Ausdruck einer grundsätzlichen Söldnermentalität, die im modernen Profifußball vorherrscht.
Ein Bild mit Erdogan, signierte Trikots, frisch rasiert, mit gegelten Haaren und getunetem Schnauzbart – das macht man einfach nicht, nicht als Mensch und Politikinteressierter, erst recht nicht als Nationalspieler. Man kann von erwachsenen Fußballern mit hochbezahlten PR-Beratern verlangen, dass sie das so vermeiden, wie es Emre Can, derzeit leider kein Nationalspieler, auch vermieden hat.
Schlimmer noch sind aber alle nachträglichen Versuche, das Geschehen kleinzureden. „Wir sind da zufällig reingeraten“ – ist als Erklärung nur noch albern, wir sind nicht im Kindergarten. Missbraucht worden sind sie allenfalls von den PR-Managern des Erdogan-Wahlkampfs
Beide Spieler wussten, was sie tun, wäre man konsequent gewesen, dann hätte man eine unmissverständliche Entschuldigung und Distanzierung von ihnen gefordert, oder sie zuhause gelassen.
DFB-Präsident Grindel, der jahrelang für die CDU im Sportausschuß des Bundestags saß, hätte wissen müssen, was für eine Dimension so ein Photo hat. Seine Reaktion war die Merkel-Taktik: „Wir sitzen das aus“.
Stattdessen gab sich Özil, der Mekkapilger, auch nach massiver öffentlicher Kritik maulfaul und verweigerte alle Presseinterviews – es wächst der Eindruck eines gestörten, störrischen Unbelehrbaren mit autistischen Zügen – das Gegenteil einer Symbolfigur für das weltoffene Deutschland. Die Pfiffe deutscher Fans für Özil und Gündogan sind in diesem Zusammenhang nur allzu verständlich – es sind nicht AfD-Rassisten, die hier mehrheitlich skandieren, sondern Repräsentanten einer deutschen Republik, die sich in Erdogan-Supportern nicht wiedererkennen (wollen). Der Instinkt der Fans schlägt hier an gegen die Instinktlosigkeit der Fußballsöldner.
DFB-Team, ein Schrebergarten des Unpolitischen
Diese wiederum wird aber gespiegelt durch Bundestrainer Jogi Löw, den Autokrat auf dem Trainerstuhl. Er pflegt das Bild der Nationalmannschaft als Schrebergärtchen des Unpolitischen – und damit das derzeit von Populisten und Rechtsextremisten propagierte Bild der Selbstlähmung der Demokraten. Weltmeistertitel hin oder her: In jedem Turnier spielt die von Löw organisierte Nationalmannschaft langweiliger und liebloser, auch stilloser, weniger offensiv, abwartender, als müsse sie der Müdigkeit und fehlenden Leidenschaft der Demokraten auch noch auf dem Platz ästhetischen Ausdruck verleihen.
Kein multikultureller Ballzauber mehr, sondern am ehesten noch der Stil Real Madrids, abgeklärt, abgefuckt, aber ohne Ramos und ohne Ronaldo – merkelesk.
Frühes Ausscheiden wäre gut für Bundesliga
Es ist kein Zufall, dass parallel dazu auch die Bundesliga langweiliger geworden ist und international an Bedeutung verloren hat. 2010 bis 2014 war geprägt vom Zweikampf zwischen Bayern München und Borussia Dortmund, einem Duell auf Augenhöhe, von zwei Championsleague-Finalteilnahmen und einem CL-Titel. 2014 bis 2018 sind geprägt von Langeweile in der Liga, mit einem zu dominierenden FC Bayern, und keiner einzigen CL-Finalteilnahme.
Auch die allgemeine Rolle der Bundesliga bei der Fußball-WM wird immer kleiner: Die Anzahl der Profis aus den deutschen Spitzenligen sinkt 2018 im Vergleich zu 2014 deutlich. 67 Spieler deutscher Vereine sind diesmal nominiert, vor vier Jahren waren es 77, 2010 in Südafrika sogar noch 84 Spieler.
Vielleicht müsste, wer den deutschen Fußball liebt, der deutschen Nationalmannschaft daher diesmal ein frühes Ausscheiden wünschen, im Achtelfinale gegen Brasilien zum Beispiel.
Denn nur wenn sich etwas ändern muss, ändert sich wirklich etwas.
Özil und Gündogan müssen liefern
Allerdings: Wenn die WM jetzt schlecht läuft, dann wird es Özil und Gündogan angehängt werden. Sie müssen jetzt Leistung bringen, und man darf gespannt sein, wie sie auf den Druck reagieren.
Das erste Spiel entscheidet
Entspanntheit ist etwas anderes. Andererseits muss man, wenn man Weltmeister werden will, es schaffen, mit derartigen Problemen fertig zu werden. Mehr denn je hängt aber sehr viel von diesem ersten Spiel ab.
Den heutigen Gegner Mexiko charakterisierte der Bundestrainer im ZDF interessant und treffend: „Sie versuchen beim Gegner Chaos anzurichten, indem sie mit fünf, sechs, sieben, acht Spielern nach vorne stoßen. Diesem Druck müssen wir auch standhalten, aber ich glaube, wir haben auch Lösungen mit unserer Spielweise dem Gegner diese Kraft zu nehmen, nach vorne zu verteidigen. Wir haben gute Kombinationsspieler, wenn wir das auf den Platz bringen, dann wird Mexiko gegen uns auch ihre Probleme haben.“ Die Mexikaner sind immer schnell, kampfstark, mutig und selbstbewusst. Sie verteidigen nach vorne.
Warum werden die Deutschen so hoch gehandelt?
Wer sind die Favoriten auf den Titel? Bei den Wettanbietern und vielen Fans die Brasilianer. Das muss nicht weiter irritieren, denn Brasilien ist eigentlich immer Favorit. Es verwundert schon eher, dass Deutschland wieder so hoch gehandelt wird, wo wir doch wissen, dass seit 1962 kein Weltmeister mehr den Titel verteidigen konnte.
Und als amtierender Weltmeister hat Deutschland noch nie eine gute WM gespielt: 1958, 1978 und 1994 gab es jeweils in Zwischenrunden und Viertelfinals ein ruhmloses frühes Aus. Weil Deutschland unter Löw (und auch 2002 und 2006) bei einer WM immer unter die besten vier gekommen ist, wird es wohl auch diesmal klappen. Besser aber wäre ein frühes Ausscheiden.