Das Schwein fliegt noch
Viele sehen ihn als Relikt der Siebziger. Dafür ist der Progressive Rock allerdings noch ganz schön lebendig.
Ein paar Hammerschläge hält der kleine iPod aus, dann zerknackt er in noch kleinere Teile. Den nächsten Player erledigt das Jagdgewehr, den übernächsten der Flammenwerfer, dann kommt noch einer unters Auto. Das sieht man in „Insurgentes“, der neuen DVD-Doku über den 43-jährigen Londoner Musiker Steven Wilson, der extra für den Film zehn iPods kaufte, um sie auf unterschiedliche Art zu zerstören. „Bei allen Vorteilen, die ein solches Ding hat – für mich symbolisiert es, wie die Kultur des Zuhörens in den letzten Jahren vor die Hunde gegangen ist“, erklärt er. „Leute hören jämmerlich komprimierte Dateien, statt sich einer echten musikalischen Erfahrung auszusetzen.“ Bei den letzten US-Konzerten von Wilsons Band Porcupine Tree kamen dann tatsächlich junge Fans mit ihren iPods und baten ihn, sie vor ihren Augen zu vernichten. Hat er das gemacht? „Klar“, grinst er. „Bisschen albern, oder?“
So stellt der flüchtige Betrachter sie sich vor, die Musiker und Fans des sogenannten Progressive Rock. Schrullig und fortschrittsfeindlich, eher religiös, wenn es um die Mission für die wahre Kunst geht. Oder, ins Positive gedreht: Sie nehmen die Musik so ernst, dass sie eben wirklich leiden, wenn sie zu leicht verdaulicher Ware verkommt. Während andere sich abwenden, sobald ein Song länger als fünf Minuten dauert, ein Gitarrensolo sich zieht oder jemand über Sonnensysteme oder König Arthur singt, bleiben Prog-Fans dran. Wie Bücherfreunde, wie Schachstudenten.
Man kann sie sehen, beim Porcupine-Tree-Konzert im Berliner Admirals-palast, nur hören kann man sie nicht. Wenn die Band spielt, die traumtrunkenen Begleitfilme auf der Leinwand laufen, das blau-pinke Licht blendet, dann ist es für Rockverhältnisse unfassbar ruhig im Saal. Der Außenstehende, der sich das mal so anschauen will, merkt erstaunt: Hoppla, man hört plötzlich wieder richtig hin. Hört die mondsüchtigen Melodieführungen, die rhythmischen Arabesken vom wirklich sehr großen Schlagzeug, die Spannung des kühnen Entwurfs. Aber auch das Gedudel, das Geholze, die Orgelei. In keinem anderen Genre liegen literarischer Feingeist und chauvinistische Rockergesten so nah beieinander.
Aber wieso nun eigentlich Prog Rock? Weil es da viel zu klären gibt. Weil viele nicht mal wissen, dass es das – seit die große Zeit der 70er-Jahre vorbei ist, in denen sprichwörtliche Monsterbands wie Pink Floyd, Yes, Rush oder Genesis über den Planeten walzten – überhaupt noch gibt. Auch Porcupine Tree verkaufen heute die Radio City Music Hall und die Albert Hall aus, setzen ihre Alben in sechsstelligen Stückzahlen ab. Roger Waters von den Urvätern Pink Floyd reist derzeit mit der Prog-Oper „The Wall“ durch die Welt, King Crimsons „21st Century Schizoid Man“ wurde publikumswirksam von Kanye West gesampelt. Im Frühjahr 2009 startete in Großbri-tannien die Monatszeitschrift „Prog“, die sich respektabel schlägt. Vor allem: Seit einigen Jahren operieren auch jüngere Bands aus ganz anderen Sphären mit Prog-Standards, klotzen mit wendungsreichen Suiten, öffnen die Spektralpalette. Ob Muse, Mogwai oder Coheed & Cambria am Ende wirklich Prog sind, wer drin ist, wer draußen und warum – das soll später in Online-Foren diskutiert werden.
„Porcupine Tree werden in der Regel von Leuten entdeckt, die aktiv nach solcher Musik suchen „, analysiert Steven Wilson backstage. „Meistens Männer, nicht mehr ganz jung, die dem Angebot der Mainstream-Medien skeptisch gegenüberstehen, die von Musik mehr erwarten als Blur und Oasis.“ Wilson, im schwarzen T-Shirt, Typ Elektrotechnikdozent mit langen Haaren, Brille, Drei-Tage-Bart, gilt als artikulierter Wortführer der neueren Prog-Szene – obwohl seine Band bei Insidern umstritten ist. Die alte Liebe Pink Floyd habe er verleugnet, den Gruppensound mit Metal und Mätzchen verunreinigt, um sich beim zahlungskräftigen Publikum ranzuwanzen, sagen einige.
Was daran liegen könnte, dass Wilson mehr von Marketing und Außenwahrnehmung zu verstehen scheint als andere in der Szene. Porcupine Tree hatte er Ende der 80er-Jahre als Fantasiegruppe gestartet: Seine Home-Recordings verschickte er mit detaillierten Lügengeschichten über die angebliche Band, die Reaktionen brachten ihn dazu, die Musik dann doch auf die Bühne zu bringen. „Der Drei-Minuten-Pop-Song hat sich seit den Beatles und den Beach Boys nicht groß weiterentwickelt“, erklärt er. „Ich sehe mich lieber als Produzent. Als einer, der wunderbare Alben macht.“
Dass der Prog einen so schlechten Ruf hat, liegt in Wilsons Augen auch an einem historischen Irrtum: Als Punk 1976 die große Ära des Art Rock beendete, sei das keineswegs ein geistiger Befreiungsschlag gewesen. „Viele, vor allem die Journalisten, wünschten sich die steinzeitliche Stumpfheit, den Sex, die Drogen der 60er-Jahre zurück. Mit der Meinung stehe ich einsam da, aber für mich hat das etwas Reaktionäres.“ Der große Bruch zum Besseren war Ende der Neunziger der Erfolg von Radiohead. „Sie waren unverdächtig, weil sie aus der Indie-Szene kamen. Sie haben wie ein trojanisches Pferd die progressive Musik zurück in den Mainstream geschmuggelt.“
Die Toleranzgrenze hat sich im Lauf des letzten Jahrzehnts in der Tat verschoben. Heute zählen auch junge Bands ganz offen Yes und King Crimson zu ihren Einflüssen, ohne damit gleich Identitätskämpfe im eigenen Lager auszulösen. Wer progressive Musik macht, hat sich damit nicht automatisch für den Indie-Sektor disqualifiziert. Und wer Black Metal, Psychedelic-Rock oder Experimental-Jazz mit Pop mixt, gilt nicht augenblicklich als Mainstream-Überläufer. Yogi Lang, Sänger der international erfolgreichen Prog-Band RPWL aus Freising, erklärt es so: „Du hast diesen großen Kreis, an dessen Rand du angeln kannst. Wenn du in den Metal-Bereich gehst, kommen die Jungs in den schwarzen T-Shirts, wenn du in den Pop-Bereich gehst kommen die Frauen. Wir kriegen also mehr Frauen ab.“
RPWL gehören zu einer Reihe von Bands aus dem engeren Prog-Kreis, die sich seit Mitte der 90er-Jahre eher wegbewegen vom zwanzigminütigen Mega-Track, hin zum einfachen Popsong – eine ähnliche Entwicklung also, wie sie auch Genesis in ihrer Spätphase durchliefen, wenn auch mit wesentlich mehr Erfolg. „Kompliziert ist nicht gleich besser“, sagt Lang. Für viele der Jüngeren gibt es nichts Schlimmeres als Musiker, die vor allem darauf bedacht sind, ihr virtuoses Spiel zu verfeinern. Bands wie Dream Theater, die in den Neunzigern in Classic-Rock-Blättern und Audiophilen-Zeitschriften als Hoffnungsträger gefeiert wurden, wirken heute wie träge Monster, deren Musik oft älter klingt als die der erschöpfend zitierten Vorbilder.
„Für viele Musiker ist dieser Standard-Prog die leichteste Option. Weil man da keinen guten Song schreiben muss, sondern einfach nur irgendwas zusammenmischen kann“, urteilt Thomas Waber, der auf seinem Label InsideOut unter anderem Platten von Spock’s Beard, Pain Of Salvation und Transatlantic herausgebracht hat. „Das Wort progressiv ergibt in dem Zusammenhang sowieso keinen Sinn mehr. Ich bekomme Berge von Demos italienischer Progressive-Metal-Bands, die man ungehört in die Tonne schmeißen könnte.“
Dabei ist gerade das Pochen auf musikalische Werte eine Forderung, auf die sich die meisten Bands in der zerklüfteten Szene einigen können. Auch die politische Weltlage ist ein Thema: RPWL zum Beispiel haben Dylans „Masters Of War“ zu einem Pink-Floyd-meets-Enya-Eso-Kitsch-Lamento umgedeutet. Sänger Lang spürt vor allem bei den jüngeren Fans eine Suche nach mehr Inhalten. Auch Michael Holmes, Gitarrist der englischen Band IQ, lobt die Anhänger: „Die Fans hören unsere Musik aufmerksamer als Leute, die Popmusik hören.“ Wie schon bei Steven Wilsons iPod-Aktion: Der Wertkonservatismus, der Prog-Hörern oft blind angedichtet wird – er klingt hier mehr wie ein selbstbewusstes Credo. In Zeiten, in denen das Streben nach Wohlstand zum gesellschaftlichen Ideal erklärt wurde, wirkt es auf viele schon wie eine rebellische Außenseitertugend, wenn man konservative Werte bewahrt.
Für Humor bleibt bei soviel Ernsthaftigkeit kaum Platz. Einen Versuch starteten RPWL schon 1998 mit dem Song „This Is Not A Prog Song“, um sich vom lästig gewordenen Genre-Begriff abzugrenzen. Was aber wie biederste Holzhammer-Ironie wirkt, wenn man das grob behauene Arrangement des Songs hört. Die sozialen Netzwerke funktionieren dagegen prächtig in der Szene, der Austausch unter Musikern und Fans (zum Beispiel auf dprp.net oder babyblaue-seiten.de) könnte andere tribes neidisch machen. In der Provinz ist die Anhängerschaft seit Jahrzehnten die treueste. Das haben auch viele der ehemaligen Berühmtheiten begriffen.
Ein Freitagabend im Berliner Vorort Hohen Neuendorf. Durch die Glasfront der Frühstückslounge des Hotels am Lunik-Park dringen Bässe nach draußen. Drinnen spielt nicht etwa Alleinunterhalter DJ Harry, nein: Es ist Fish, eigentlich Derek William Dick, ehemaliger Sänger der Band Marillion, die es mit „Kayleigh“ 1985 zum letzten Mal geschafft hatten, einen Prog-Song in die Top Ten zu bringen. Zu Akustikgitarre und Keyboard stimmt er die alten Klassiker an, die rund 100 Fans, keiner unter 30, die Männer mit Pferdeschwanz oder kreisrundem Haarausfall, die Frauen mit frischer Kaltwelle, sind außer Rand und Band und singen erstaunlich textsicher mit.
„Fish mag diese intime Atmoshäre“, sagt Tourmanager Ernst Albrecht Scholz, „und das Publikum weiß es zu schätzen.“ Auf der kleinen Bühne wirkt der Sänger wie eine Mischung aus Manfred Krug und Phil Collins, und genau wie letzterer hat Fish in seiner Karriere den Rückschritt vom Komplexen zum Simplen vollzogen. Progressiv im eigentlichen Sinn sind bei Fish, RPWL oder Porcupine Tree allenfalls noch die Ideen, echte Fortschritte werden in der Musik längst anderswo gemacht. Aber diese Illusion von geglückter Sinnsuche und Entschleunigung, die gibt es hier eben noch. Prog Rock im Jahr 2011 ist ein Aussteigerprogramm.
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