Das Prinzip Hoffnung – Manu Chao, die musikalische Speerspitze der Globalisierungs-Gegner, sieht Licht im Dunkel

Rund ums Mittelmeer, vor allem aber in Lateinamerika, ist der Multikulti-Aktivist bekannt wie ein bunter Hund. Seine politische Position, zumal seine Kritik an George W. Bush und sein Faible für Fidel Castro und Hugo Chavez, fällt gerade dort auf besonders fruchtbaren Boden.

Ende April, auf dem „Coachella-Festival in der kalifornischen Wüste^ steht er aut der Bühne und lässt seinen Gefühlen, freien Lauf: „Bush ist der größte Terrorist des Planeten!“ Zehn Tage später, in George W’s texanischer Heimat, formuliert er es nicht minder krass. Und als er Ende Juni bei einem Festival in Brooklyn, noch eins draufsetzt, ist der Applaus sogar noch frenetischer. Manu Chao hatte seine erste Tournee durch die USA nicht zuletzt deshalb unternommen, um das Land, das er so frontal kritisiert, ein bisschen besser kennen zu lernen. Die einhellige Zustimmung des Publikums , macht ihn aber nur noch ratloser. Er bekam nicht nur keine Antwort, sondern hat stattdessen plötzlich ein paar neue Fragen über dieses Land am Hals.

In einen Sessel in der Lobby eines grauen „Holiday Inn“ in Manhattan gelümmelt, nimmt Manu einen Schluck Espresso und sagt: „Überall, wo wir gespielt haben, sogar auf den Festivals, wo uns das Publikum gar nicht kannte, waren die Leute erstaunlich offen, superangenehm, auf unserer Seite. Aber für die nächste Frage, die sich mir jetzt stellt, habe ich keine Antwort. Schau: Ich habe einen französischen und spanischen Pass. Ich kann mich auch nicht damit brüsten, dass wir die tollsten Präsidenten in diesen Ländern haben. Aber ich verwette meinen rechten Arm darauf, dass wir, wenn wir in Frankreich oder Spanien einen Präsidenten wie den amerikanischen hätten, der sich auf der ganzen Welt dermaßen aufführt, genügend Zivilcourage hätten, um jeden Samstag zusammen mit 50 000 anderen vor dem Regierungspalast aufzukreuzen und gegen ihn zu protestieren. Dabin ich mir ganz sicher. In Coachella waren es fast 100 000 Menschen, die mit mir gegen Bush geschrieen haben, aber vor dem Weißen Haus war kein einziger von ihnen. Das ist die Art von Antwort, die mir einfach fehlt.“

Eine mögliche Antwort ist, dass die Sympathie, die Amerika gegenüber seinem Präsidenten hegt, schon seit zwei Jahren unter der 30 Prozent-Marke liegt und im Moment alle auf ihn einprügeln. Spätestens in eineinhalb Jahren wird er sowieso gehen. Es lohnt sich nicht mehr, ihn fortzujagen. Den omnipotenten Bush von 2002, der Kriege anzettelte, ohne sich um die Meinung von irgendjemandem zu scheren, der die Vereinigten Staaten in eine Megakirche ohne Gays, ohne Darwin und ohne Stammzellenforschung verwandeln wollte, den gibt es heute gar nicht mehr. Er ist zu einer Witzfigur verkommen, die niemand fürchtet und über die sich jeder lustig macht.

Nur Manu Chao nicht. Er nimmt ihn weiterhin sehr ernst -so, wie er eigentlich alles in den 20 Jahren seiner Musikerkarriere ziemlich ernst genommen hat: „Ich hasse den Zynismus, er ist für mich eine ganz feige Art der Flucht“, sagt er.

Das ist etwas, was ich von ihm wissen wollte. Fast ein Jahrzehnt, nachdem er und seine Musiker als Antiglobalisierungs-Band Furore gemacht haben, wollte ich hören, wie Manu sich heute fühlt, ob die Antiglobalisierungsbewegung an Schwung verloren hat, und ob das Alter (er wurde auf der Tour, in Toronto, 46 Jahre alt) etwas an seiner Sicht der Musik und der Welt geändert hat. Im Grunde wollte ich wissen, ob die nächste Station immer noch so wie sein letztes Album heißt: Esperanza. In den nächsten Stunden, die wir zusammen durch die Straßen des Viertels laufen, das Soho von Chinatown trennt, sagt er mir: Ja, er halte es weiterhin mit dem Prinzip Hoffnung – es gäbe kein anderes. Und er streitet ab, dass er den Glauben an die Antiglobalisierungsbewegung verloren hat. „Sie ist nur nicht mehr so stark in den Medien präsent“, sagt er. „Aber die Lage hat sich inzwischen noch verschlechtert. Es gibt eine Menge Leute, die kurz davor sind zu explodieren.“ Manu Chao, dem Stadtmenschen, gefällt New York.

„Hier ist wirklich etwas los“, sagt er. In Barcelona, wo er lebt, wenn er nicht gerade auf Tour ist, hält er sich vorwiegend im Barrio Götico, der Altstadt, auf. „Ich gehe nur zum Schlafen nach Hause. Sonst kannst du mich in den Bars und Straßen des Viertels finden.“

Wir verlassen das Hotel und gehen durch die Canal Street Richtung Broadway. Seit Stunden regnet es, nur wenige Leute sind auf der Straße. Manu hat ein hellblaues Jeanshemd an, das rot und gelb bemalt ist „von einem befreundeten polnischen Künstler“, sagt er. Braune Kappe, Fischerhosen in Hochwasserlänge, kurze Socken und weiße Turnschuhe. Er spricht ruhig, mit französischem Akzent in seinem Spanisch, und fast ohne Pausen. Er hat eine expressive Art zu sprechen, benutzt kurze Sätze, stellt Fragen, die er sich meist selbst beantwortet, zitiert Gespräche in wörtlicher Rede und reißt die Augen beim Sprechen auf, wenn ihm etwas besonders am Herzen liegt. Schon nach ein paar Metern kommt er mir wie ein 20-Jähriger vor. Die Mütze verdeckt seine dichte Matte aus grauem Haar. Nur von nahe sieht man um die Augen und auf den Wangen, dass er nicht mehr so jung ist wie er wirkt.

Gibt es eigentlich so etwas wie Routine in deinem Leben? Was ist, wenn die Tourneen und die Projekte vorbei sind?

„Ich habe meine Wohnung in der Altstadt von Barcelona. Sie gehört mir nicht. Ich würde sie gerne kaufen, aber die Besitzerin verkauft sie mir nicht. Dort bin ich zu Hause. Aber dort gibt es eigentlich auch keine Routine, weil ich nie länger als eineinhalb Monate am Stück in Barcelona bin. Ich hatte immer Panik vor der Routine. Ich beneide Leute, die gern in einem Alltag mit festen Gewohnheiten leben.“

Und mit dem Alter kommt keine Sehnsucht nach mehr Routine?

„Ich bin letzte Woche 46 geworden, aber ich glaube, dass ich immer noch mit Pubertätsproblemen beschäftigt bin. Ich brauche dringend einen Psychiater (er lacht). Aber mir geht’s gut. Das Leben hat mich gut behandelt, es hat mir viele Chancen gegeben. Meine jugendliche Leidenschaftlichkeit ist 30 Jahre später immer noch eine echte Leidenschaft und sie ernährt mich. Wieso sollte ich das ändern wollen? Ich habe in meinem Leben unwahrscheinlich viel Glück gehabt. Das genieße ich, und damit mache ich weiter. Ich habe meinen Sohn (Kira, 8 Jahre alt, lebt mit seiner Mutter in Brasilien), und ich habe meine Band. Sie ist wie eine große Familie“, sagt er, kreuzt Daumen und Zeigefinger der linken Hand und küsst sich geräuschvoll die Finger. Er will nichts über sein Privatleben erzählen. Er sagt, „manchmal“ lebe er mit jemandem zusammen, das hänge vom Augenblick ab. „Die Liebe ist da“, sagt er, und das muss als Antwort genügen.

Du bist jetzt auf dem Weg nach Hause. Wie wird es dann weitergehen?

„Es ist nichts geplant. Für mich ist es wichtig, nicht weiter als vier Monate im Voraus zu planen. Das ist meine geistige Freiheit, sozusagen. Sonst werde ich verrückt.“

Es gibt Leute, die verrückt werden, wenn sie nicht alles genau durchgeplant haben.

„Mein Problem ist, dass es so viele Dinge gibt, die ich machen möchte oder wo ich mich engagieren möchte. Wenn ich also fünf Jahre im Voraus planen würde, würde mir sofort klar werden, was ich in der Zeit alles nicht machen kann. Außerdem, was wissen wir schon, wie die Welt in zwei, drei Jahren aussehen wird?“

Soho ist nachts ziemlich ausgestorben. Vom Künstlerviertel ist nur wenig übrig geblieben. Inmitten der Stille dieser Nacht zieht Manu ein paar Mal an einer filterlosen dünnen Zigarette und fixiert einen Punkt hinter mir. Ich würde mich gern danach umdrehen oder ihn etwas fragen. Er spricht selbst weiter. „Mir geht es heute besser als vor ein paar Jahren. Früher wusste ich nicht, wer ich war. Jetzt weiß ich es. Ich kenne meine Stärken und Schwächen und ich kann damit leben. Du bildest dir nicht mehr ein. du könntest ein Errol Flynn oder Clark Gable werden. Du bist einfach der, der du bist. Fertig. Wie Eduardo Galeano in „Erinnerung an das Feuer“ schreibt: „Alles, was jetzt noch kommt, ist Zugabe.“

Oder, wie du bei deinen Konzerten sagst: Egal was auch passiert… (Pase lo que pase, sea lo que sea…) „…mach es auf deine Weise (,…a tu manera‘). Klar. Das war immer mein Motto. Ich hab es immer auf meine Weise gemacht. Ich bin immer dahin gegangen, wohin mein Bauch mich geschickt hat. Wenn mein Bauch mich im Stich gelassen und mit meinem Kopf allein gelassen hat, dann haben die Schwierigkeiten angefangen. Es gab eine Zeit, in der ich dachte, mein Instinkt hätte mich ganz verlassen. Damals ging es mir ziemlich schlecht. Ich versuchte, mein Leben ganz rational anzupacken, und das ist mir nicht gelungen. Ich respektiere die Vernunft, aber mich hat sie nicht weit gebracht. Lateinamerika war in dieser Hinsicht eine wichtige Lektion für mich. Die Verbindung mit bestimmten Menschen, mit bestimmten Pflanzen…“

Bist du mit den Jahren nicht ein Stück konservativer geworden?

„Ich habe einen senegalesischen Freund, der immer sagt: ,Pass auf, Manu, ab 40 geht alles ganz ganz schnell.‘ Das ist alles, was ich weiß. Natürlich machst du dir mit 20 viel mehr Illusionen, dass du die Welt verändern kannst. Und dann kriegst du ein paar Schläge vom Leben. Irgendwann wird dir klar, wie die Menschen funktionieren, du siehst die Probleme, die das Ego schafft und das Zusammenleben. Wenn du dir die Geschichte der Menschheit ansiehst, stellst du fest, sie ist eine ewige Wiederholung der immer gleichen Irrtümer. Und hier kommt das Thema Hoffnung ins Spiel. Heute gibt es für die Jugend viel weniger Perspektiven als damals, als wir jung waren. Damals haben wir noch relativ leicht einen Job finden können.“

An der Ecke Howard und Crosby kommen wir an einem etwa 50-jährigen Mann vorbei, der am Boden, neben einer fast leeren Flasche Gin, eingeschlafen ist. Manu schaut ihn längere Zeit an, sagt aber nichts. Ein paar Stunden später, als wir hier wieder vorbeikommen, sagt er: „Als wir nach Slowenien fuhren, sahen wir eine Menge Leute, die auf den Straßen lagen. Ich fragte die Leute dort, seit wann es so etwas bei ihnen gäbe, und sie sagten mir, dass es sie vor dem Fall der Mauer nicht gegeben hätte. Dass es ein Problem sei, das erst mit dem Kapitalismus und der Demokratie aufgetaucht sei. Ich bin mir nicht sicher, ob es den Leuten heute besser geht als vorher.“

„La Radiolina“ ist Manus erstes Album seit sechs Jahren. Er hat seinen langjährigen Vertrag mit EMI aufgelöst und arbeitet jetzt mit Because, einem unabhängigen anglo-französischen Label, für das er schon 2005 eine CD des Duos Amadou & Mariam aus Mali produziert hat. Wie „La Radiolina“ klingt? Das ist nicht so recht aus ihm herauszubekommen, denn es

ist zum Zeitpunkt unseres Gespächs noch nicht abgemischt. Was man jetzt schon erfährt, ist, dass es mehr Gitarren geben wird und dass die Stücke schneller sein werden. Mehr The Clash und weniger Bob Marley. Mehr Stadtsound, weniger Karibik. Das kann man aus „Rainin In Paradize“ schließen, der Single, die vorab auf seiner Website zu hören war, und von der Handvoll Lieder, die er auf der US-Tournee gespielt hat.

„Es wird sechs, sieben Stücke in der Art von ,Rainin‘ auf dem Album geben. Es wird ein bisschen härter sein, mit mehr Gitarren. Das kommt daher, dass ich das erste Album mit Madjid (Fahem, Gitarrist) und David (Bourguignon, Schlagzeuger) mache. Sie sind seit Jahren bei mir in der Band und wunderbare Musiker.“

Heißt das, dass weniger karibische, lateinamerikanische Einflüsse da sein werden?

„Nein, die Karibik hört man schon. Aber die Weltlage ist ziemlich angespannt. Es gibt heute mehr Probleme als vor fünf Jahren. Der starke Gitarrensound spiegelt diese Spannung wider, die in der Luft liegt. Es ist kein ätherisch zartes Album wie ,Clandestino‘ werden. Das war eine bunte Seifenblase mit einem Schuss New Age.“

Denkst du, wenn du ein Album aufnimmst, daran, was die Leute darüber sagen werden?

„Nein, wenn ich aufnehme, bin ich total in meine Arbeit versunken. Wenn ich dabei ständig daran denken würde, wie sie bei den Leuten ankommen wird, wie sie sie analysieren und interpretieren werden… Nein, wirklich nicht. Dabin ich total egoistisch. Die Musik muss gut für mich sein. Denn die Musik ist meine Therapie. Ich schütze mich damit vor der Welt, vor dem, was mir in dieser Welt nicht gefällt. Musik ist für mich eine Möglichkeit, meine Wut zu kanalisieren. Die Musik ist mei n Arzt und meine Medizin.“

Wie ist deine Beziehung zum Hip-Hop. In deinen Pariser Vorstadtvierteln ist das wohl derzeit die Nummer eins.

„Es ist ganz klar die Nummer eins. Meine Beziehung zum HipHop ist gut, aber ich bin nicht so gut im Improvisieren von Texten und solchen Sachen.“

„La Radtolina“ wird Manus erstes Album im Zeitalter der Internet-Downloads und der Krise der Plattenindustrie sein. Ich frage ihn, ob er es schlimm findet, dass sich die CD angesichts der illegalen Downloads vermutlich schlecht verkaufen wird.

„Nein, das ist mir egal. Ich werde wegen der Internet-Piraterie kein Problem bekommen, meinen Sohn durchzubringen. Ich habe schon genügend verdient, meine Familie ist ausreichend versorgt. Das Piratentum ist für mich kein Problem. Für neue Gruppen vielleicht, die mein Verkaufslevel noch nicht erreicht haben, und die noch nicht so viele Leute in ihre Konzerte bekommen. Außerdem hat es das immer gegeben. Als ich jung war, haben wir in meinem Viertel von jeder Schallplatte, die einer von uns gekauft hat, Kassetten für alle anderen aufgenommen. Ich hatte alles auf Kassette. Ich sehe nicht, was sich da großartig verändert hat. Jetzt ist es ein bisschen einfacher geworden, früher haben wir eine Stunde dafür gebraucht. Aber im Grunde ist es doch dasselbe.

Heißt das, die Industrie hat keinen Grund, dagegen zu protestieren?

„Die Klagen der Industrie machen mich ziemlich wütend. Es stimmt, dass die Verkaufszahlen für CDs sinken, aber woran verdienen sie inzwischen denn wie blöd? Am Verkauf von Geräten, mit denen die Musiker auch wieder betrogen werden. Da wird heute das große Geschäft gemacht.“

Während wir die Mercer Street hinaufgehen feuchtes Kopfsteinpflaster, alte Metallbalkone und Beton, in Multtmillionärs-Lofts umgewandelt – raucht Manu wieder seine dünnen Zigaretten, die er aus einem zerdrückten Päckchen aus der Hemdtasche zieht.

Ich frage ihn noch einmal nachdem Zusammenhang zwischen seiner Musik und seiner politischen Militanz. Er überlegt. Er mag es nicht, wenn jemand sagt, dass seine Musik politisch oder er das Sprachrohr irgendeiner Bewegung ist. Er akzeptiert nicht einmal das wohl wollende Etikett des Rebellen. „Das sind alles Dinge, die über mich gesagt wurden. Aber darum habe ich mich selbst nie gekümmert.“

Wenn er über diese Themen spricht und über die Bedeutung seiner Songs, wirkt er unsicher und konfus, als ob er sich ein wenig schämen würde. Er schämt sich allerdings nicht, einen Song auf dem neuen Album „Politik Kills“ zu nennen oder „democracy“ auf „atrocity“ oder „calamity“ zu reimen. Wie vielen Künstlern widerstrebt es ihm, seine Arbeit zu erklären. Denn das macht sie zu offensichtlich und banal.

Ganz anders ist es, wenn er nicht als Musiker, sondern als militanter Kritikerüber Politik spricht. Hier brilliert er, ist redegewandt, und obwohl er manchmal Dinge sagt, die unmöglich nachzuprüfen sind (Wie ommt er beispielsweise darauf, dass die Weltlage heute viel schlimmer ist als vor fünf fahren?), ist alles, was er sagt, interessant. Die Leidenschaft, die er hineinlegt, ist so ansteckend, dass man sich unwillkürlich auf seine Seite schlagen will.

„Die Antiglobalisierungsbewegung wird immer breiter, denn die Lage wird immer kritischer und immer mehr Menschen sehen, dass die Ampel bereits auf Orange steht. Immer mehr Leute kapieren, dass wir, wenn wir so weitermachen, gegen die Wand fahren werden. Schon allein unser Selbsterhaltungstrieb sagt uns, dass wir so nicht weitermachen dürfen.“

Dann bist du also Optimist…

,Wir befinden uns auf einem Wettlauf gegen die Zeit, zwischen der Verrücktheit des Systems und dem Selbsterhaltungstrieb der Menschen. Wir haben schon ziemlich viel Rückstand, aber an einem bestimmten Moment werden wir wieder aufholen. Die große Frage wird sein, ob es dann nicht zu spät ist.“

Gibt dir die Entwicklung in Lateinamerika keine Hoffnung?

„Das, was in Lateinamerika gerade passiert, ist politisch viel interessanter als alles, was in Europa passiert. Die Erste Welt ist alt, das ist ein Generationenproblem. Die Mehrzahl der Wähler ist alt, sie haben ihr ganzes Leben in einer Angst gelebt, die ihnen das Fernsehen und die Medien eingejagt haben. Es sind reaktionäre Wähler. Lateinamerika ist viel jünger als Europa. Das merkt man auch politisch. Viele werfen mir meine Unterstützung der venezolanischen Revolution vor. Ich unterstütze sie ohne Wenn undAber, denn sie ist auf jeden Fall besser als das, was vorher

war. Aber ich bin kein Chavez-Anhänger. Ich bin Manu Chao und ich habe mich noch nie von irgendjemandem vereinnahmen lassen. Ich sehe Chävez durchaus auch kritisch.“

Was gefällt dir nicht an Sudamerika?

„Die symbolische Bedeutung von Simon Bolivar zum Beispiel. Bolivar hat Lateinamerika mit den Waffen der Engländer befreit. Um die Spanier rauszuwerfen, hat er Lateinamerika an die Engländer verkauft. Deshalb ist er für mich kein Nationalheld. Gib mir einen modernen Helden. Gib mir den Chavo del ocho, einen Straßenjungen, was weiß ich.“

Manu Chao ist empört darüber, wie man in Europa über Chävez und Fidel Castro denkt. „In Spanien ist es nicht ganz so schlimm, aber wenn du in Frankreich etwas Positives über Fidel sagst, wirst du gleich als Stalinist beschimpft“, sagt er. In Lateinamerika ist das anders. Die benachbarten Länder sehen ganz klar die Verdienste von Castro, was beispielsweise den Bildungssektor und das Gesundheitswesen betrifft. Die offen aggressive Haltung der Europäer gegen Kuba und Venezuela macht Manu Chao wütend. Er sieht beide Länder durchaus kritisch, besonders, was die Behandlung von Dissidenten in Kuba betrifft. Es sei gut, dass die Presse das immer wieder anprangere. „Aber sie sollen auch über die positiven Dinge berichten. Sprecht nicht nur von den schlechten Dingen, das ist einfach ungerecht. Venezuela hat einen Fernsehkanal schließen lassen? Okay, aber dafür wurden 15 andere eröffnet, und außerdem Kooperativen in den einzelnen Stadtvierteln. Darüber berichtet keiner.“

Im März letzten Jahres traten Manu Chao und Band an einem Mittwoch in Havanna, auf der „Tribuna Antiimperialista“, auf und zwei Tage später im Poliedro von Caracas. „Auf dem Flug von Havanna nach Caracas waren wir acht Musiker und 200 kubanische Ärzte“, erzählt er. In Havanna, vor 100 000 Menschen, sagte Manu Chao den Leuten, die ihm zuhörten, dass sie nicht viel versäumten auf ihrer Insel: „Alle Mafias, die die Welt beherrschen, verstecken sich hinter dem Wort „Demokratie“. Die Demokratie wird als Diktatur des Geldes missbraucht.“

In Venezuela bewunderte er, wie viel die Regierung für die jungen Menschen tut. Die Organisatoren seines Konzertes im größten Saal der Hauptstadt Caracas waren eine Gruppe von Jungs und Mädchen aus einem nahe gelegenen Stadtviertel. Manu Chao, der vom Bürgermeister der Stadt eingeladen worden war, fand’s ganz toll. „Es gab keine der üblichen Veranstalter-Typen, die sich als Profis aufspielen. Und diese Jungs und Mädchen waren genau so professionell wie sonst jemand.“ Das Bild, das er von der venezolanischen Regierung gewann, war definitiv positiv. „In den Vierteln stehen sie zu 100 Prozent hinter der Revolution.“

Während wir ins Hotel zurückgehen, hat Manu Chao alle seine Widersprüche selbst genannt: Sein Wunsch, erwachsen zu werden und dagegen der Impuls, für immer in der Pubertät stecken zu bleiben. Gut drauf sein und gleichzeitig ziemlich wütend, einer, der gern feiert, dem aber auch das soziale und politische Engagement wichtig ist. Das Leben genießen und die Welt verändern. Hoffnung und Enttäuschung.

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