Das Leben als Plattensammlung
Ausgerechnet einen desolaten Musikexperten erhob Nick Hornby in seinem Roman "High Fidelity" zum liebenswerten Helden - und definierte damit die "Popliteratur" der 90er Jahre
Auf einmal war der Glatzkopf überall, lächelte verschmitzt in jede Kamera und erzählte von seinen schwierigen Familienverhältnissen. Gründete einen Verein für bessere Erziehung autistischer Kinder, wurde ein guter Mensch und so was Ähnliches wie erwachsen. Er schrieb dann nicht mehr so gute Romane (auch wenn sie immer noch besser waren, als die meisten Rezensenten es ihnen zugestanden), während Dutzende von Kollegen versuchten, seinen Buch-Hit zu kopieren, ohne dass es allzu sehr auffiel. Irgendwann nervte Nick Hornby ein bisschen, obwohl man gar nicht genau sagen konnte, warum. Es gab einfach so viele neue Hornbys, dass der alte sein Gesicht verlor. Would the real Nick Hornby please stand up?
All das wussten wir nicht, als im Jahre 1995 „High Fidelity“ erschien. Versuchen Sie sich zu erinnern, auch wenn es schwerfällt: Der Begriff „Popliteratur“ war – zumindest aktuell, also jenseits von Beatniks und Hunter S. Thompsons Gonzo-Journalismus – noch nicht in aller Munde, kein ernstzunehmender Schriftsteller dachte sich einen Protagonisten aus, der den ganzen Tag in einem muffigen Plattenladen namens „Championship Vinyl“ steht und mit seinen Angestellten Dick und Barry darüber diskutiert, welche die fünf besten Songs von Elvis Costello sind. Das Trio überbietet sich tagtäglich an Klugscheißerei, jeder will mehr als der andere wissen, und nie würde einer von diesen Typen zugeben, dass er eine Platte nicht kennt, die von den anderen für essenziell gehalten wird. Auch steht für alle drei außer frage, dass der Weg zum Herzen eines Mädchens immer noch über eine eigenhändig zusammengestellte Compilation führt.
Diese drei sind die Prototypen des modernen nerd, der auf sein Pop-Experten-Wissen so stolz ist, dass er gar keine normale Karriere hinkriegen kann, eine normale Beziehung meistens auch nicht. Es geht in „High Fidelity“ nicht, wie so oft behauptet wird, nur darum, ob man mit Menschen befreundet sein kann, die Tina-Turner-Platten besitzen. Es geht darum, wie man disponiert sein muss, damit man überhaupt auf solche Fragen kommt.
Die Einbindung von Popkultur in Romanen ist natürlich nicht Hornbys Erfindung. Schließlich hörte schon in den 80er Jahren das Personal von Bret Easton Ellis und Jay Mclnerney gern Popmusik, spielten dort Huey Lewis, Genesis und R.E.M. Nebenrollen. Aber eben doch nur das: Nebenrollen. Die gesamte Existenz von Rob Fleming dagegen dreht sich um Musik, und erst in zweiter Linie um Frauen. Seine Biografie erklärt sich aus seiner Plattensammlung, und jenseits davon bleibt nicht so viel Leben übrig.
Im selben Jahr, 1995, veröffentlichte Christian Kracht „Faserland“ und erntete vor allem Verrisse. In der verblichenen „Die Woche“ unterstellte man ihm „reaktionäres Schnöseltum ohne jeden Biss“. Die spätpubertäre Reise durch Deutschland, vom versnobten Sylter Fischbrötchen-Stand bis zu Koks-und-Kotz-Parties, irritierte nicht nur durch den seichten, plauderhaften Essay-Stil, der in pseudo-naiver Detailliertheit die Hohlheit des bürgerlichen Daseins ausstellte, sondern auch durch die Persiflage von zeitgenössischen Stilfragen und Markenfetischismus. Wie wichtig können Barbourjacken sein? Und gibt es einen Ausweg aus den Bordrestaurants der deutschen ICE-Züge?
Erst drei Jahre später erschien Benjamin von Stuckrad-Barres „Soloalbum“, das mit seiner larmoyanten Liebeskummer-Geschichte ungefähr dieselbe Zielgruppe (aber viel mehr Leser) einfing: Menschen, die lieber über die Pet Shop Boys und die Spice Girls reden als über die angeblich wirklich wichtigen Dinge im Leben. Die Kapitelüberschriften: Songtitel von Oasis. Es war die journalistische Herangehensweise, die genaue Beobachtung und das Spiel mit Klatsch und willkürlicher Bezichtigung, das dazu führte, dass plötzlich auch Schriftsteller attraktive Groupies hatten und sich endlich selbst ein bisschen wie Popstars fühlen durften.
Noch mal zwei Jahre darauf adaptierte Frank Goosen schließlich dreist Hornbys Idee, Ex-Freundinnen aufzusuchen, in „Liegen lernen“. Hornbys Held Rob Fleming hatte diesen Einfall freilich auch nicht im Traum: Ihm gefiel es, wie sich Bruce Springsteen in „Bobby Jean“ wünscht, er könne noch einmal mit seiner Freundin sprechen, um sich richtig zu verabschieden. Kracht, Stuckrad, Goosen – das alles ist vielleicht Popliteratur, aber auch keines dieser Bücher stellt Popkultur und vor allem Popmusik derart ungeniert in den Mittelpunkt, wie Hornby das tat.
Natürlich gab es in Großbritannien noch Giles Smith, der seine Autobiografie „Lost In Music“ fast zeitgleich mit Hornby herausbrachte. Mit einem großen Unterschied allerdings: Smith war ein Teil der Musikindustrie, wenn auch ein sehr kleiner. Er glaubte einst kurzzeitig, er könnte mit seiner Band Cleaners From Venus ein Popstar werden, und darum dreht sich sein Roman: Warum das nichts wurde, wieso es trotzdem schön war und wohin das alles führen kann. „Flüssig, elegant, scharfsinnig und sehr, sehr komisch“ nannte Freund Hornby das und hatte Recht. Tony Parsons ernannte es zu „einem der besten Bücher über Popmusik“, und das stimmt auch. Aber Smith war eben ein Musikmacher, kein -hörer, und niemals wird man sich als bloßer Fan so sehr mit dem Musiker identifizieren wie mit dem armseligen Rob Fleming, der nicht viel kann, aber alles besser weiß, solange es um sein Metier geht. Der nur deshalb einen kleinen Plattenladen hat, weil es die einzige Chance zu sein scheint, um das exzessive Musikkaufen, Musikhören und Musikbeurteilen zu rechtfertigen. Er hätte freilich auch DJ bleiben können, aber dafür ist man irgendwann zu alt und taub.
Die anderen Karriere-Möglichkeiten geht er durch, als die Freundin ihn nach seinen fünf Traumjobs fragt. Nummer eins: Journalist beim „NME“, allerdings nurvon 1976 bis 79, danach war das auch nicht mehr dasselbe. Produzent? Nur in den 60er Jahren für Atlantic Records. Musiker? Wenn man nur Talent hätte! Regisseur? Dito. Zum Schluss fällt Rob nur noch „Architekt“ ein, aber dazu hat er eigentlich gar keine Lust. Er findet es nur ein wenig ärmlich, nicht mal auf fünf Alternativen zu kommen – und die Freundin, eine aufstrebende Anwältin, hält ihn sowieso schon für einen hoffnungslosen Fall. Wegen Geld und Erfolg hat sie ihn jedenfalls bestimmt nicht auserkoren.
Der „Independent On Sunday“ schrieb damals: „Wenn Sie ein Mann sind, bringen Sie Ihre Partnenn dazu, dieses Buch zu lesen, dann wird sie Sie nicht länger hassen, sondern stattdessen bemitleiden.“ Muss man einen Mann bedauern, der im Schlaf aufzählen kann, welche seine Lieblings-Episoden von „Cheers“ sind, was die besten ersten Stücke auf ersten LP-Seiten (LPs!) sind – und der sich längst genau überlegt hat, welche Songs bei seiner Beerdigung laufen könnten? Der, als er endlich einmal interviewt und dabei sogar ernstgenommen wird, durchdreht, weil die Reporterin seine fünf Lieblingsplatten wissen möchte? Die blanke Panik ergreift ihn da, er hat sein Leben lang auf diese Frage gewartet – und erinnert sich an keinen einzigen Song außer an Aretha Franklins „Respect“, und den mag er gar nicht so gern. Wer nie eine Top-Five-Liste erstellt hat, werfe den ersten Stein!
Man könnte diesen Mann auslachen, aber der Autor beschreibt ihn mit so viel Verständnis und Warmherzigkeit, dass man ihm nicht mal böse sein mag. Weil Hornby gute Musik und gute Bücher (und auch guten Fußball) so sehr liebt, und man das in jeder seiner Zeilen spürt, hat Zadie Smith ihn mal „the European Ambassador of Goodness“ genannt. Ein bisschen uncool ist so viel Gutherzigkeit freilich, und das ist der andere große Unterschied zu vielen sogenannten „Popliteraten“: Hornby ist kein Zyniker, sondern – unter der unterhaltsamen Schicht aus Selbstironie, Spaß und Spott – ein Erz-Romantiker. Seine Geschichten erschöpfen sich nicht in purem Hedonismus, sie forschen immer nach irgendeinem Sinn. Seine Helden benehmen sich vielleicht infantil, aber sie versuchen doch nur, ohne allzu große Schäden durchs Leben zu kommen und die Liebe zu finden. Das war schon bei seinem Debüt, der Fußball-Hymne „Fever Pitch“, so, und bei späteren Büchern wie „How To Be Good“ und „A Long Way Down“ wurde es etwas zu offensichtlich. In „High Fidelity“ lugt die Philantrophie nur immer wieder zwischen den Plattenregalen hindurch. Bei aller Lächerlichkeit, die Rob Fleming umgibt: Bemitleidenswert waren erst die Nachfolger, denen seine Seele fehlte und seine große Leidenschaft.
An der Spitze der Top-Five-Erkenntnisse in diesem Buch steht eine, die gar keine ist, weil Rob Fleming sich einfach nicht entscheiden kann: „Ich ertappe mich dabei, mir schon wieder den Kopf über Popmusik zu zerbrechen, ob ich sie mag, weil ich unglücklich bin, oder ob ich unglücklich bin, weil ich sie mag.“ Verderben einem Tausende von Liebesliedern den unverstellten Blick auf die Liebe? Versaut einem die Begeisterung für Musik das restliche Leben? Wer sich solche sinnlosen Fragen nie gestellt hat, kann über „High Fidelity“ trotzdem lachen. Wer weiß, wovon Nick Hornby da schreibt, der liebt das Buch. Immer noch, trotz allem.