Das Kraut der frühen Jahre – Herzberg, Freak City
Vor 40 Jahren ging es in der nordhessischen Provinz erstmals über die Bühne - ein Pop-Festival, das seitdem zum Mekka aller Kraut-Rock-Fans avancierte. Wobei „"Kraut" nicht nur die musikalische Dimension definiert: Ein süßlicher Geruch über dem Festival-Gelände erinnert daran, dass hier einmal ein „"Hauch von Woodstock" wehte. Zum Jubiläums-Konzert Ende Juli besuchte Frank Schäfer eins der letzten Hippie-Reservate.
An Tapeziertischen unter einem Zeltpavillon sitzt die am frühen Nachmittag schon mehr als gut gelaunte, zweiköpfige Akkreditierungscrew. Das Grinsen des einen ist so breit wie der Bong, den er heute schon eingeatmet hat, und entsprechend schwierig gestaltet sich dann auch die Suche nach meinem Namen. „Schäfer… Schäfer … Schäfer… Na, wo haben wir ihn denn?“ „Da unten, unter S!“ Zeit, das müssen wir erst wieder lernen, ist eine relative, nämlich relativ dehnbare Angelegenheit.
Der Mann vom Empfangskomitee verliert dann aber doch ein wenig von seiner sedativen Gelassenheit, als er uns empfiehlt, Wagen und Zelt hier im Artist-Bereich abzustellen, wir aber darauf bestehen, in der „Freak City“ campieren zu wollen, weil ein Kollege uns dort einen Platz freigehalten habe. Er sieht uns lange an, aber dann bricht es erstaunlich heftig aus ihm heraus. „Mensch, wollt ihr da jemand totfahren? Freak City ist dicht bis hierhin…“ Ein Schnitt mit der Handkante auf Höhe seiner Nase soll uns das unmißverständlich klarmachen. Dann überlegt er wieder eine Weile und gibt seinem Kollegen das Funkgerät („Ich weiß immer nicht, was ich da sagen muss“), und der fragt den dortigen Streckenposten, ob noch Platz sei im Paradies. Nach einem elektrischen Knacken kommt die frohe, erfreulich lakonische, ja, fast schon unerwartet präzise Botschaft aus dem Walkie-Talkie: „Ja!“ Trotzdem dauert es einen Moment, bis unser Gegenüber verstanden hat. Dann hebt er resignierend die Augen gen Himmel, der schon von ziemlich dunklen Wolken vergeigt ist, und setzt sich wieder in seinen Campingstuhl. „Mir ist das alles zu kompliziert heute…“
Man hatte mir eingeschärft, unbedingt in „Freak City“ zu nächtigen, weil man den Herzberg-Geist hier am ehesten atmen könne. Das ist nicht zuviel gesagt. Auf der Flaniermeile den Hang hinunter – die Querwege tragen die Namen der auftretenden Bands – tummelt sich buntes Volk: barfüßige Pilgertypen, Jesus-Freaks, eine Rothaut in vollem Federschmuck, überall freilaufende Hunde. „Ivanhoe, komm mal bitte!“ Ein Kind auf Stelzen macht umständlich kehrt und stakst zurück zum „Kinderland“ im Herzen der Stadt. Ein Gitarrenspieler sitzt im Kreise seiner Lieben und klampft für den Frieden oder eine andere gute Sache. Ein Weißzopf führt eine Bonsai-Sitar vor, im Näherkommen sehe ich den draufgeschraubten Humbucker-Pickup. „Selbstgebaut. Die müsstest du mal hören, wenn ich die über meinen Marshall jage, war mir aber zu viel Aufwand, den auch noch den Berg hinaufzuwuchten… Eigentlich will ich hier ja nur ein paar CDs verkaufen.“
Wenn man die vornehmlich in Zelten untergebrachte Angebotspalette abgeht, gewinnt man einen repräsentativen Überblick über die zeitgenössische Hippie-Subkultur. Hier findet man Coffee-Shops mit Biertischen, an denen man auch eine Tasse Kaffee trinken kann. Eine Bar wartet mit einer eigenen Bühne auf, wo während der Umbaupausen eine gar nicht unebene Amateur-Band ihre Blues-Standards abspult. In einer mit Teppichen ausgelegten Jurte wird an niedrigen Tischen Minztee serviert, bei einem mit Elefanten-Knüpfbildern verhängten Indien-Imbiss ist alles garantiert „ayurvedisch und vegan“. Ein Buddha-Zelt lädt zum Meditieren ein, auf der anderen Seite steht eine überlebensgroße hölzerne Indianerstatue, warum auch immer.
Vor einem Tipi läßt sich eine Dunkelhaarige mit indianischen Zöpfen eine Shiatsu-Massage „für Körper und Seele“ angedeihen. Drei hölzerne, oben wie zu einem Zelt gekreuzte Holzstangen, an denen Seilschlaufen baumeln, versprechen vergleichbar kurative Wirkung, nämlich einen „Hangab für Körper und Geist und Seele zum Entspannen“. Auf einem Teppichlager kann man „Chai Energiebällchen“ verdrücken und anschließend ein bisschen rumliegen, vermutlich um den energetischen Überschuss wieder abzubauen. Ein Zelt weiter wartet der „Bachblüten-Check“. Ah, und „Bienes Batik-Workshop“ beginnt auch gerade. Biene ist ausgefuchst, sie praktiziert ein duales Geschäftsmodell, bietet auch noch „Met (Honigwein) & mehr Keltisch-Germanisches“ feil. Diversifikation scheint ohnehin das Gebot der Stunde zu sein. Einer kocht Kaffee und Tee und hat dazu auch noch ein paar Kisten mit Platten herumstehen, ein anderer verkauft „Guarana-Kugeln, Feuer-Ketten, Henna-Tattoos und Lebensberatung“. Ein echter Allrounder.
Dann passiert man die Eintritts-Schleuse zur Festival-Wiese. Lächelnde Ordner, die erfreulicherweise mal nicht wie die sonst üblichen kurzgeschorenen, schwarzgewandeten Kampfzwuckel aussehen, begrüßen einen freundlich und fragen, ob sie mal in die mitgeführte Tasche sehen dürfen. Flaschen und Dosen sind nicht erlaubt – dass man auch etwas Schwerwiegenderes mit sich führen könnte, steht gar nicht zur Debatte. Und sie vergessen auch nicht, sich für die Bereitwilligkeit, mit der man mitgespielt hat, zu bedanken.
Auf dem Festival-Gelände dann ein ähnlich quietschvergnügtes, buntscheckiges Bild. Das ganze Areal ist gesäumt von Fress-Buden, Hippieklamottenständen, Sarasani-Zelten mit indischen Wandteppichen, Afghanentand, afrikanischem, südamerikanischem oder fernöstlichem Holz-, Leder- und Muschelschmuck. „Die Welt ist keine Ware“ steht warnend auf einem Attac-Banner, und Alice, ein „Drug- and Culture-Project“, fragt: „Lebst du schon oder kaufst du noch?“
Davor jonglieren Menschen mit Bällen oder Keulen, andere schleudern gekonnt, als hätten sie das bei den Maori gelernt, ihre bunten Bänder (Kiwidos), später, bei einsetzender Dunkelheit dann Feuerpois, die einen noch größeren Effekt machen. Die „Kommune Niederkaufungen“ vertickt bis früh in den Morgen Bohnen- und Getreidekaffee, Tee und selbstgebackenen Kuchen, und jedem Kunden schenkt die junge Frau im Oko-Casual-Look ihr herzlichstes Lächeln, auch noch nach drei Uhr früh. Sogar für einen astrologischen Notdienst ist gesorgt, wenn es die Sterne mal wieder gar nicht gut mit einem meinen.
Man kann das alles belächeln, und viele der Anwesenden pflegen wohl ein eher ironisches Verhältnis zu dem hier so offensiv ausgestellten Quatsch, aber es gibt doch etwas, um das man die Alt-, Post- und Neo-Hippies beneiden kann: dieser kleine Vertrauensvorschuss dem Fremden gegenüber, diese gütige Arglosigkeit, an die man sich sehr schnell gewöhnen kann. Schon nach kurzer Zeit ist man assimiliert und macht da ganz gerne mit.
Ein Hauch von Woodstock“ sei spürbar gewesen auf dem ersten „Burg Herzberg“-Festival, sagen die Altvorderen. Und wenn man sich die Bilder von damals ansieht, muß man ihnen sofort zustimmen. Es war wirklich nur ein Hauch. Die Männer sind akkurat gestärkt und gebügelt, die Frauen haben sich eigens eine neue Dauerwelle betonieren lassen. Und „fleißige Helfer schmierten Schmalzbrote“…
Fast wäre es gar nicht dazu gekommen in diesem sprichwörtlichen heißen Sommer 1968. Nicht etwa weil die Behörden hier in der nordhessischen Provinz die Revolte hätten fürchten müssen – es ¿war schlicht scheißheiß. Wegen der wochenlangen Dürre befürchtete Graf Freiherr von Dörnberg, der hiesige Burgverweser, einen Waldbrand und wollte seine Erlaubnis nicht geben, aber dann regnete es doch noch. Die auch überregional halbwegs bekannte Beat-Band The Petards hatte das Festival selbst organisiert, das sich binnen zweier Jahre zu einem professionellen Open Air auswuchs, auf dem sich die einstige Krautrock-Prominenz -wie Guru Guru, Can, Amon Düül II, Jeronimo, Frumpy und Embryo – die Klinkenstecker in die Hand gab. 1972 jedoch lösten sich The Petards auf, und ohne Veranstalter kein Festival. Fast zwei Jahrzehnte war Ruhe in der Region, dann, 1991, erinnerte sich die Belegschaft des Fuldaer Plattenladens „Marken“ an Herzbergs Gloria und blies zum Revival, dem weitere Hippie-Tagungen, nun wieder im jährlichen Turnus, folgen sollten. Und so »kann die – mittlerweile auch schon mehrmals runderneuerte—Veranstaltercrew in diesem Jahr mit ein bisschen Augenzudrücken 40-jähriges Herzberg-Jubiläum feiern.
In den nächsten zwei bis drei Stunden wollen wir uns erinnern, was früher einmal gut war!“, droht Stefan Danielak, der sich „früher“ auch gern „Willi Wildschwein“ nannte und mit einigen alten Kombattanten und Söhnen im letzten Jahr Grobschnitt reformiert hat. Neben mir lachen dann auch ein paar, aber das ¿war kein Spaß. Ihr Auftritt, die gleiche großspurig-prätentiöse Nummer aus Fantasy-Rockoper, Kindertheater und Polit-Mummenschanz, die sich irgendwann in der Achtzigern überholt hatte, dauert wirklich so lange. Roadies in Polizistenkostümen mit Blaulicht auf dem Helm fingieren eine „Razzia“, ein Vogelmensch geht einmal flügellahm über die Bühne, zwei SciFi-Arbeiter in schwarzem Leder und futuristischen Hühnermasken lassen mit ihrer Flex die Funken sprühen – Billig-Theatralik, die andererseits ihre Musik recht adäquat abbildet. Aber Herzberg hat ihre Helden wieder. Nach einer dreiviertel Stunde schaue ich das erste Mal auf die Uhr.
Bei Bröselmaschine am Nachmittag hat es nicht mal so lange gedauert. Ihr Folk-Art-Jazz-Rock ist rund, absolut tight und sauber gespielt. Peter Bursch, im Programmheft angekündigt als „Gitarrenlehrer der Nation“, führt als musikalischer Direktor seine Band durch ein technisch astreines, anstrengend langweiliges Set, und sein Bühnengebaren hat dann auch tatsächlich Kreisvolkshochschul-Charme.“Wenn ihr mögt, könnt ihr euch jetzt etwas bewegen.“
Aber je später der Abend. Das Stoner-Rock-Trio Colour Haze verliert sich bisweilen im Fusion-Nirvana, aber man kommt dann doch immer weder zur Sache. Als mein Freund Jo die blonde, ältere Frau neben sich bemerkt, die engagiert ihre Fotos macht, bietet er ihr seinen Fotopass an. „Damit kommst du
direkt vor die Bühne.“ Aber die sublim gealterte Schönheit lehnt kopfschüttelnd ab, fragt ihn dann aber, wie er die Musik finde. „Ooch, ganz gut eigentlich!“ Da blickt sie ihn stolz lächelnd an. Sie sei nämlich die Mutter des Gitarristen mit den langen Haaren.
Jetzt müssen wir natürlich bis zum Schluss bleiben und verpassen so den Anfang der dynamischen, cleveren Garage-Psychs Magnificient Brotherhood, die ihre Farflsa hudeln und die Gitarre fuzzen lassen nach bewährter Sixties-Art. So muss ein Festival-Tag zu Ende gehen.
Schließlich schleppen wir uns geschafft den Berg hinauf, fallen in unsere Zelte und bemerken, daß wir noch die Luftmatratzen aufpusten müssen – und m der Dunkelheit natürlich nicht die Ventile finden. Die Konfirmandenfreizeit nebenan lässt einen All-Time-Lagerfeuer-Mix laufen, aber auch das spielt jetzt schon keine Rolle mehr.
Ich bin mit Günther Lorz verabredet, der seit 1991 mit dabei ist und seit ’94 zum Management gehört. Er kommt gerade von der „Freak Stage“, der kleineren der beiden Bühnen, mit den Aufnahmen von Björn Berge und ist noch ziemlich euphorisiert von dem norwegischen Bluesman, der nur mit einem Kupferslide und seiner 12-saitigen Akustikgitarre eine fulminant scheppernde, auf über zehn Minuten trickreich zerdehnte, dekonstruierte Version von Motörheads „Ace Of Spades“ dargebracht hat, die er unbedingt auf dem nächsten Herzberg-Sampler veröffentlichen will. Lorz ist Beat-Autor und hier beim Festival so etwas wie das Mädchen für alles. Er managt die Ticket-Hotline, macht die Pressearbeit, ist verantwortlich für das Festival-eigene Plattenlabel und bekommt als einziger ein monatliches Salär ausbezahlt. „Ich lebe davon, das sind 1050 Euro Netto“, er hebt grinsend die Schultern, „dafür ist es aber auch ein guter Job. Die denken ja immer alle, wir würden uns hier eine goldene Nase verdienen, dabei bleibt für die umliegenden Geschäfte hier viel mehr hängen als fürs Management. Nur ist das im Bewusstsein der Leute nicht so präsent. Der Edeka in Breitenbach zum Beispiel hat sein zweites Weihnachten, weil wir hier keinen Schnaps verkaufen und einige eben doch ihren Jim Beam brauchen.“
Er beschwert sich auch über die hohe Miete für die Wiese, die dem örtlichen Pferdezüchter gehört. „Der schröpft uns eigentlich am meisten, das ist unser heimlicher Headliner, der Mann von der Besamungsstation’…“ Ein entsprechendes Schild steht an der Hauptstraße — eigentlich eine ganz schöne Metapher für den Austragungsort dieser „Traditional Hippie Convention“.
„Gewinn, Ertrag und Rendite, das sind drei Fremdwörter hier. Dieses Jahr legen wir sogar wieder drauf, das ist aber auch nicht so schlimm, wir machen ja noch reguläre Konzerte hinterher, mit Fury in the Slaughterhouse, Uriah Heep, Thin Lizzy. Und dann haben wir noch Sweet, Smokie, Slade und Rubettes an einem Abend, das ist natürlich das absolute Highlight“, er verzieht ironisch das Gesicht, „aber bei diesen Biertrinker-Bands kommt natürlich auch was rum. Da trinken die Leute und feiern sich sechs Stunden lang selbst, da haben wir an einem Abend 20 000 Euro allein an den Getränken verdient.“
Trotz dieser Zweitverwertung der Festival-Logistik ist der bisherige Eintrittspreis von 60 Euro – für immerhin vier Festivaltage mit über 40 Bands – im nächsten Jahr einfach nicht mehr zu halten. „Wir haben ja auch keine kommerziellen Sponsoren, weil das den Charakter des Festivals kaputt machen würde.“
Und als ich von Kulturförderung anfangen will, winkt er lachend ab. „Das ist ja gerade das Schöne. Wir kommen vom Land, wir sind ein paar Jungs aus der Pampa und sind völlig unabhängig. Es gibt keine Agentur, der wir verpflichtet sind, wir bekommen keine öffentlichen Gelder, also können wir hier wirklich tun und lassen, was wir wollen, und das ist natürlich auch ein Wert an sich – so unabhängig zu sein bei der Größe.“
Mehrfach ist in unserem Gespräch vom „Charakter des Festivals“ die Rede, der den Verantwortlichen heilig ist und insofern unbedingt gewahrt bleiben soll – dem man sich aber nur annähern kann, weil er von so vielen kleinen Faktoren bestimmt wird.
Das fängt bei den Ordnern an. „Man darf es eigentlich nicht öffentlich sagen, aber „wir haben hier nur vier Security-Mitarbeiter, das reicht vollkommen aus.“ Und dazu gehört auch das zurückhaltende Auftreten der Polizei. „Die wissen, daß wir hier kein Kokain, Speed oder dergleichen haben wollen, die ganze Goa-Szene ist uns ein Graus. Wenn einer von uns mitkriegt, daß da jemand Pillen und Pülverchen oder so etwas verkauft, dann sagen wir der Polizei Bescheid, und dann kommen die und stellen sich einfach nur 20 Minuten vor den Stand, und das spricht sich dann sehr schnell herum, und der kann dann einräumen, da kommt sowieso keiner mehr hin.
Außerdem haben wir keine Krawalle auf dem Gelände, und das honoriert die Polizei dann auch. Ich finde es immer sympathisch, -wenn die in voller Montur über das Gelände laufen, damit man sie schon von weitem erkennt. Dass die präsent sein müssen, gerade im Roland-Koch-Land, ist ja klar. Ich meine, die haben im letzten Jahr 30 Gramm Haschisch sichergestellt, weil man eben irgendwas finden muss, aber so richtig streng sind die Kontrollen nicht.
Es gibt hier auch einige Schlauberger, die Wochen vorher schon mal kurz hierher kommen, etwas im Wald vergraben – und dann später beim Beginn des Festivals ganz entspannt durch die Polizeikontrollen fahren.“
Es ist wohl das moderat Anarchohafte, die kalkulierte Einschränkung von Ordnung, Kontrolle, Hierarchie, die alte Hippie-Konzilianz also, die den Herzberg-Spirit vornehmlich ausmacht. So gibt es denn auch kein definiertes Festivalende am Sonntag. „Wenn die sich hier den Kopp zuhauen und dann anderntags nach Bremen fahren, das sind ja lebende Bomben. Deshalb geben wir denen die Möglichkeit, noch einen Tag länger zu bleiben und auszunüchtern. Aber das überstrapazieren dannauch einige.“ Er gibt seiner Stimme eine leichte Schlagseite. Ibinnonnichnüchtan.
Am Mittwoch danach müssen die aber mal so langsam verschwinden, wir müssen ja jede Kippe, jeden Kronkorken, wir müssen wirklich alles aufheben, denn danach kommen die Pferde wiederdrauf. Und vier Wochen später sieht die Wiese wieder so aus, als hätte hier nie etwas stattgefunden. Das ist FKPE3 SCORPIO
Hersberg, Freak, City erstaunlich, wie schnell sich die Natur hier wieder erholt, wenn man das nur einmal im Jahr macht.“ Die ganze große Sauerei bleibt dann auch aus, weil die meisten der Besucher schon so etwas wie ein ökologisches Bewusstsein mitbringen.
Und noch etwas macht Herzberg so außergewöhnlich, und darauf ist Lorz besonders stolz. „Wir sind ja eins der wenigen Festivals, auf denen diese Jungfamilien sehr willkommen sind. Das ist mein ideales Publikum. Er hat noch einen richtigen Plattenspieler und kauft hier ein paar Vinyl-Platten ein, hört sich mit seiner Frau Musik an, und ihre Kinder spielen derweil im Kinderland. Das ist natürlich teuer, das ist ein weiterer Top Act, denn da sind immerhin 33 Mitarbeiter mehrere Tage beschäftigt.“ All das schlägt sich naturgemäß auch auf die Altersstruktur der Besucher nieder. Die sind entweder ganz jung oder bereits einigermaßen gesettled. Die Kids, die poprelevanten Jugendlichen zwischen 15 und 25 fehlen hier fast völlig. „Die trinken offenbar lieber ein mexikanisches Bier in einer Lounge Bar oder fahren gleich zu Rock am Ring.“ Das Festival leidet insofern schon etwas an einer schleichenden Gerontisierung. Lorz führt als Ursache dafür die quasi-prähistorische Öffentlichkeitsarbeit ins Feld. „Unsere Hauptwerbung ist eine handgeschriebene Postkarte, die wir Anfang September verschicken und auf der wir ankündigen, dass jetzt der Vorverkauf beginnt.“ So erreicht man immerhin 3500 Stammkunden, die als Multiplikatoren die restlichen Gäste anlocken. „Ich nenne das die Überlegenheit des persönlichen Elements.“
Die Überalterung ist aber wohl auch eine Folge des klar abgesteckten Programms, das ausschließlich die Musik der Endsechziger und Siebziger bzw. deren aktuelle Adaptionen und Derivate featuret, also vornehmlich Psychedelic-, Space-, Kraut- und Progrock, gelegentlich aufgelockert durch Folk, Blues und frühem Hardrock. Also wenn nicht gerade altgediente Bands auftreten – in diesem Jahr etwa The Petards, Birth Control, Ton Steine Scherben Family, Bröselmaschine, Grobschnitt, Louisiana Red, Focus, Steve Harley & Cockney Rebel und einmal mehr Guru Guru -, dann hört man hier doch zumindest Musik von vorgestern. Auch wenn Lorz und seine Kollegen drei Kreuze schlagen bei dem Wort „Oldie-Festival“, so ganz können auch die diesjährigen Headliner The Waterboys und Motorpsycho diese Assoziation nicht vergessen machen. „Die Leute wollen die alten Sachen hören“, räumt Lorz dann auch ein. „Mani Neumeier“, der Schlagzeuger von Guru Guru, „ist am Kotzen, weil er immer den ,Elektroluren spielen muss. Aber so ist das nun mal – Birth Control leben von ,Gamma Ray‘.“
Die musikalischen Präferenzen des Publikums spiegeln sich naturgemäß auch im Angebot des Herzberg-Labels wider. „Was da läuft, das ist vor allem die Psychedelic-Schiene, also Hidria Spacefolk, Quantum Fantay, Hawkwind und solche Sachen. Aber auch die neue Bröselmaschine verkauft sich sehr gut.“ So richtig rechnet sich der Verlag jedoch nicht. „Das ist mehr eine Unterabteilung der Herzberg Promotion“, die sich aber schon bewährt hat. Als das Festival 2003 ausfiel, „weil jemand in die eigene Tasche gewirtschaft hat anstatt die Rechnungen zu bezahlen, und deshalb aus dem Management entfernt werden musste, haben wir 2004 wieder bei 3 500 Besuchern angefangen. Aber weil ich mit dem Verlag kontinuierlich Werbung machen konnte, waren wir dann ratzfatz wieder bei 10 000.“ Und mehr Karten sollen ohnehin nicht verkauft werden, weil das die „familiäre Atmosphäre“ zerstören würde.
Das Label ist offenbar Lorz‘ Steckenpferd, darauf angesprochen, redet er sich warm. „Die Konzerte werden alle auf 48 Spuren digital mitgeschnitten. Danach sitze ich zu Hause, höre mir alles an, was ich verpasst habe, und mache mir erstmal einen schönen Mix. Cubase ist ja mein liebstes Computerspiel. Die Tonqualität der Live-Alben, die ich da veröffentliche, ist aber auch sehr gut. Eine Colosseum-Aufnahme zum Beispiel habe ich von Joachim Irmler von Faust mischen lassen, das war ein echter Spaß. Ich habe dem John Hiseman den Mix rübergeschickt, und da kam sofort der Telefonanruf: ,We are not a Heavy Metal group.‘ Und ich habe dann gesagt, Irmler würde sie schon seit Jahrzehnten kennen, und er war der Meinung, daß sie kraftvoller sind denn je, und das wollte er auch, zum Ausdruck bringen. ,Aber doch nicht sooo!‘ Das macht mir einfach Spaß, auch wenn sich das nicht unbedingt rentiert, weil Irmler auch nicht billig ist, aber es sind eben super Aufnahmen. Kraan hat er auch gemischt, und das ist mal ein Kraan-Mix, den man sonst nicht hört. Helmut Hattler will ja schon immer eher das Weiche haben, während Irmler dann im Grunde ohne irgendeinen Effekt die Instrumente abmischt.“
Und dann erzählt er mir noch etwas internen Klatsch — etwa über Mike Scott, den Kopf der Waterboys. „Das ist die größte Diva, die wir hier haben. Extremste Vorgaben, wann, was, wie zu sein oder zu laufen hat. Und dann wollte er ‚ auch noch ein beheiztes Zelt. Sogar Chris Farlowe hat sich schließlich damit abgefunden, daß wir hier keine dir condition haben. Aber eine Heizung wollte noch keiner.“ Wie? Dann schlafen die hier vor Ort im Zelt? „Nein, pennen müssen die hier nicht. Die haben natürlich ein Hotel. Es geht nur um die paar Stunden vor und nach dem Auftritt. Gerade die schwierigen Kandidaten fahren wir gerne bald wieder nach Fulda ins Hotel, damit die hier auch wirklich weg sind. Gut, wenn die das erste Mal zu uns kommen, schlucken viele über unsere eingeschränkten Möglichkeiten, Manfred Mann zum Beispiel oder auch Uriah Heep im letzten Jahr, aber dann tauen die relativ schnell auf. Das ist auch schön zu sehen, dann fühlen die sich hier auf einmal pudelwohl. Die haben eben auch nicht jeden Tag so ein Publikum, das ihre Musikalität auch mal entsprechend würdigt, vor dem sie nicht nur ihre Hits auspacken müssen.“
Louisiana Red, 76 Jahre alter Südstaaten-Blueser im weißen Leinenanzug, hat es sich auf seinem Hocker bequem gemacht, greift zur aufpolierten weißen Telecaster und spielt anderthalb Stunden tiefschwarzen Blues’n’Boogie. Es ist Mittag, und noch scheint die Sonne. Die Sympathien wehen ihn an, obwohl seine Improvisationen mitunter leicht fahrig
wirken. Später sieht man ihn mit zitternden Händen neben der Bühne Autogramme verteilen.
Vermutlich waren Focus auch mit Jan Akkerman an der Gitarre live nicht wesentlich suggestiver, denn die neue Besetzung bringt die melodiösen Jazz-Rock-Instrumentals konzis über die Rampe. Es ist vermutlich das Genre selbst, das auf der Bühnen nicht mehr richtig zünden will, aber „Hocus Pocus“ kann man immer noch hören. HypnosÖ9 sind viel esoterischer, und trotzdem: hier auf einmal funktioniert es. Diese drei jungen Typen spielen einen sehr improvisationssicheren, inspirierten, energetischen Stoner Rock mit gelegentlichen Jazz-Inklinationen, der ungeachtet seiner ausgedehnten Exkurse nicht in die Summe seiner Teile zerfällt. Der simple, gut geschmierte Pub Rock von Steve Harley Es“ Cockney Rebel wirkt dagegen tast unlauter kommerziell, aber als Kontrast zum inflationären psychedelischen Gewese hier vor Ort hört man ihm gern zu, auch wenn er ein übler Choleriker zu sein scheint und Monitormixer, Lead-Gitarristen, Gott und die Welt beschimpft.
Dann regnet es sich langsam ein, wir laufen zurück zum Zelt und rücken unserer Dosenbierreserve zu Leibe. Blitz und Donner erschrecken die Konfirmandenfreizeit nebenan. Kollege Behlert erzählt Schauergeschichten von seinem letzten Ostsee-Urlaub: „Überall Bäume um ihn herum, aber der Blitz schlägt ausgerechnet in seinen Regenschirm ein, ich stand mindestens 200 Meter entfernt, und sogar mich hat er noch von den Beinen geholt…“
The Waterboys zögern ihren Soundcheck so lange hinaus, bis auch wirklich alle Wolken abgeregnet sind, um nicht vor halbleeren Rängen spielen zu müssen. Schnell füllt sich jetzt die Wiese, und als eine weitere Dreiviertel Stunde nichts passiert, scheint für einen Moment die Stimmung zu kippen, so dass der Conferencier sich einschalten muss: „Hey, kommt, jetzt seid nicht sauer, ist doch alles gut, der Regen hat aufgehört und gleich spielen die Waterboys …“ Und als sie schließlich auf die Bühne kommen, ist wirklich alles gut. Als hätte Mike Scott einen geheimen Schalter umgelegt, verwandelt sich schon nach dem Opener das lautstarke Ressentiment in noch lautere Enthusiasmiertheit. Es wird ein kompakter, verviger, zupackender, streckenweise fast schon harter Auftritt. Scott quengelt und nölt wie Bob Dylan, aber anders als der kann er sogar ganz passabel Gitarre spielen.
Dann kommen noch Motorpsycho, und die klingen wie die frühen Black Sabbath, nur verfrickelter und auf diversen Pulsbeschleunigern. Zu Beginn haben sie leichte Probleme mit ihrer infernalischen Lautstärke, aber beim zweiten Song sind sie voll da, machen mächtig Druck, pappen den Klangraum vollständig mit diabolischer Verzerrungzu, ziehen dem nichtsahnenden Hippie-Auditorium eine robuste, handgeschmiedete Brechstange über die Weichbirne, die ihm jegliche Lust auf den einschlägigen Ausdruckstanz nimmt und sie nur noch stumpf mit dem Kopf nicken lässt wie nur je ein dummer Headbanger. So muss ein Festival-Tag zu Ende gehen.
Mit der freien Liebe ist das ja nicht so doll hier“, sagt mein Freund Jo und bricht deshalb am frühen Nachmittag des zweiten Tages auf, um sich ein „Love-in“ zu suchen. Unser Gelächter folgt ihm noch lange. Aber als wir dann die nächsten Stunden nichts mehr von ihm hören, er weder zum verabredeten Grillen erscheint noch telefonisch zu erreichen ist und sogar beim einsetzenden Gewitter nicht zum Zelt zurückkehrt, gibt es schon ein paar Spekulationen über seinen Verbleib. Im Vollrausch habe er nicht mehr den Weg zurück ins Zelt gefunden, gibt er anderntags zu Protokoll. Er sei völlig durchgeregnet und offenbar so traurig-derangiert herumgetorkelt, dass sich schließlich „Sibylle aus Northeim“ seiner erbarmt habe. Die habe ihn mit ins Zelt genommen, ihm warme Kleidung, zu essen, zu trinken, zu kiffen gegeben. „Und danach hat sie mich noch richtig durchgetröstet.“ Er wisse ja nicht, wie es uns gehe, aber „ich fahre hier nächstes Jahr wieder her“.