Das Köcheln der Volksseele

Die Fernsehsender haben telefonische Bürgerbefragungen als Einnahmequelle entdeckt

Es ist noch gar nicht so lange her, da diente die Pseudo-Demoskopie namens Videotext-TED den TV-Anstalten nur als willkommene Nebeneinnahme, die sie sich zwar mit Telefongesellschaften teilen mußten, die aber dennoch erkleckliche Summen abwarf. Immerhin 49 Pfennige kostete ein Votum via Anruf. Daran immerhin hat sich nichts geändert. Heute ist man mit 24 Cent dabei, da kann man nicht meckern. Was sich indes inflationär vervielfacht hat, ist die Menge der Umfragen: Kaum ein Sender mag darauf verzichten. Und die Art der Befragung, die sich nur noch selten an den selbstverständlichsten Regeln der Meinungsforscherei orientiert. Stattdessen setzt es Suggestiv-Fragen. Vom ZDF natürlich dezent: „Soll Außenminister Fischer wegen der Visa-Affäre zurücktreten?“, so die Erkundigung aus Mainz. Weniger zurückhaltend fragt VOX das gewünschte Ergebnis herbei: „Soll Joschka endlich die Konsequenzen ziehen und abtreten?“ Wer wäre dagegen, daß einer konsequent handelt? Klare Sache, über 90 Prozent stimmten für Rücktritt, beim ZDF nur wenig mehr als die Hälfte.

Wobei die Politik zunehmend ausgeklammert wird von den Meinungspflegern im Fernsehland. Entweder es wird diffuse Anti-Stimmung zu barer Münze gemacht, dergestalt, daß hintereinander gefragt wird, ob „die Alten“ oder „die Jungen von der Regierung abgezockt“ werden, was beide Mal von überwältigenden Mehrheiten bejaht wird. Oder man nützt das Köcheln der Volksseele, um eine ohnehin latent vorhandene Neigung zu Auge-um-Auge-Denken beim hirnlosen Fußvolk zu bedienen. Da ist es unerheblich, daß sich die TED-Ergebnisse eklatant widersprechen: „Verhungerte Jessica: Haben die Behörden versagt?“ bringt es auf 95 Prozent Ja-Stimmen, „Jessicas Eltern: Sind 15 Jahre Knast genug?“ schraubt den prozentualen Anteil der Nein-Stimmen gar auf fast 98.

Auf dem Vormarsch ist auch hier das Bild-Bunte-Boulevard-Einerlei aus Promiklatsch und Stammtischparolen. Nicht ohne Unterhaltungswert, wenn man vom Leben nicht mehr erwartet als Kichern und Kurzweil. So fragte neulich ein Sender seine Kunden per TED: „Hat der Papst recht: Sind Schwule pervers?“ Klingt nach Fangfrage. Jedenfalls schwierig, aber der Papst müßte es eigentlich schon wissen. Ist schließlich sein Beruf, das Moralisieren, Und im übrigen ist der Homosexuellen-Anteil bei Würdenträgern der katholischen Kirche überproportional hoch. Oder verwechsle ich jetzt homoerotisch mit autoerotisch? Egal, jedenfalls sah das Umfrage-Ergebnis den Popen klar vorn: 84 Prozent ja, 16 nein. Doch komischerweise hatte sich das Meinungsbild anderntags, keine 24 Stunden später, ins Gegenteil verkehrt. Nun glaubte plötzlich eine Zweidrittelmehrheit, daß gleichgeschlechtlicher Sex Privatsache und keineswegs pervers sei. Woher der jähe Stimmungsumschwung rührte, läßt sich nur mutmaßen. Wahrscheinlich wählten sich, alarmiert von Interessenverbänden, ein paar schwule Aktivisten über Nacht die Finger wund. So etwas geht ins Geld, aber es wird öffentliche Meinung gemacht mit diesen TEDs, und wer nicht wachsam ist, gerät — rubbeldenschwanz — ins Meinungsabseits. Als bestens organisiert erwies sich auch das Bevölkerungssegment sexuell vitaler Seniorinnen. „Udo Jürgens will keine über 40: Sind ältere Frauen schlecht im Bett?“, so begehrte TED Auskunft. Und wurde dermaßen mit Nein-Stimmen eingedeckt, daß der grüne Pro-Udo-Balken zum Zipfel schrumpfte und schließlich an der Fünfpotenz-Hürde scheiterte. Menopause, wo ist dein Stachel?

Volkes Stimme, ein Graus. Wer regelmäßig Busse und Bahnen nutzt anstatt sich im Individualverkehr zu isolieren, glaubt sie zur Genüge zu kennen. Und ist dann doch perplex, wenn sie zuschlägt. So im Falle des Fußballtrainers Hans Meyer, der nach jahrzehntelanger Erfahrung mit Kickern erklärte, daß es in jeder Mannschaft ein paar gebe, die nicht besonders helle seien. Aha! Fußballer sind keine Hirnakrobaten. Ein rührendes Understatement. Nein, widersprach TED hochprozentig, dumme Fußballer gibt es so gut wie nicht. Und auf die Frage, ob der Begriff Unterschichtenfernsehen eine Berechtigung habe, antworteten natürlich 99 Prozent ehrlich Entrüstete mit nein.

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