Das Jahr danach
Nachdenkliche Werke bestimmen das erste Jahr nach 9/11. Wilco treffen den Nerv der Zeit.
Das Jahr nach dem Anschlag auf das World Trade Center war ein Jahr, dessen beste Alben durch Innerlichkeit und Nachdenklichkeit geprägt waren. Das melancholische Meisterwerk des Jahres wollte uns die Plattenfirma allerdings vorenthalten. Das Reprise-Label hatte Wilcos „Yankee Hotel Foxtrot“ abgelehnt, weil man nicht glaubte, damit einen Mainstream-Erfolg landen zu können. Jeff Tweedy kaufte die Aufnahmen für 50 000 Dollar zurück und brachte das Album schließlich bei Nonesuch unter, einem Label, das genauso wie Reprise zu Warner gehörte. Das Ergebnis war ein atmosphärisches, manchmal collagenartig Melodien und Geräusche zusammensetzendes, experimentierfreudiges Album, das zwischen der Nüchternheit von „I Am Trying To Break Your Heart“ und der Düsterkeit von „Ashes Of American Flags“ eigentlich nur großartige Songs auftut.
Auch wenn Chicagos Mariana-City-Türme, die das Cover von „Yankee Hotel Foxtrot“ zieren, Assoziationen zum World Trade Center nahe legten, war das nicht wirklich ein 9/ll-Album. Zumal die Band es schon vor dem Terrorangriff fertig gestellt hatte. Bruce Springsteens „Rising“ war dagegen genau die deutliche künstlerische Auseinandersetzung mit dem 11. September, die man auch von ihm erwartete. Die Platte schaffte es auf Platz eins der US-Charts – nicht nur weil Springsteens Bestandsaufnahme einen Nerv traf, sondern auch, weil er endlich wieder die E Street Band im Rücken hatte.
Wie auf Springsteen konnte man sich auf die stets Verlässlichen auch 2002 verlassen: Ryan Adams „Demolition“ blieb zwar etwas hinter den Erwartungen zurück, die der Vorgänger „Gold“ geweckt hatte, etablierte ihn aber weiter als einen der wichtigsten Songwriter der USA. Während Elvis Costello mit ,,When I Was Cruel“, Tom Waits mit „Alice“ und „Blood Money“, Johnny Cash mit „The Man Comes Around“ und Beck mit „Sea Change“ ihre Sache gut bis sehr gut machten, fiel Neil Youngs „Are You Passionate?“ durch, und über Peter Gabriels „Up“ wurde eifrig gestritten.
Doch es gab auch Entdeckungen zu machen – vor allem in England. Die größte hieß The Libertines: „Up The Bracket“, das aufgebrachte Debüt von Pete Doherty und Carl Barat, klang wie der Gegenentwurf zur gediegenen Melancholie von Coldplays „A Rush Of Blood In The Head“. Eine andere Entdeckung des Jahres 2002 war Mike Skinner, der als The Streets in „Original Pirate Material“ ‚mal eben den HipHop neu erfand.
Als Entdeckung durfte auch der damals 22-Jährige Conor Oberst gelten, der sich mit seinem Album „Lifted Or The Story Is In The Soil Keep Your Ear To The Ground“ in unsere Herzen spielte. Das gelang auch Beth Gibbons & Rustin Man mit „Out Of Season“.
Und in Deutschland? Während Herbert Grönemeyer mit „Mensch“ aus dem von Marius Müller-Westurnhagen („In den Wahnsinn“) angezettelten Kleinkrieg in den Charts souverän als Sieger hervorging, begeisterten sich die Indie-Rock-Hörer vor allem für die neuen großen Pop-Entwürfe aus Hamburg und Weilheim: Tocotronics „Tocotronic“ und „Neon Golden“ von The Notwist.