Das Hoch im Norden

Glasgow ist neben London, Manchester und Liverpool die wichtigste britische Pop-Stadt. Das liegt nicht zuletzt an Ghemikal Underground. Das stilprägende Indie-Label feiert in diesen Tagen sein 15. Jubiläum. Anlass für einen Streifzug durch eine besondere Stadt - mit prominenter Führung.

Die erste Überraschung am Flughafen: Während der kälteste Winter seit Menschengedenken die Heimat eisig umklammert, empfängt uns die drittgrößte britische Stadt mit Sonnenschein und erträglichen Temperaturen – Ende Januar. Überraschend schon deshalb, weil man Glasgow ja eher schwarzweiß und wolkenverhangen denkt. Täuschen lassen sollte man sich von der Sonne jedoch nicht: Natürlich hat sich diese Stadt – wie auch ganz Schottland – über Jahrhunderte in ihren schicksalhaften Grauschleier des ewigen Zweiten im Schatten Englands gefügt.

Aber stolz sind diese Menschen: So trotzig wie die Frauen in den Nächten auf der Sauchiehall Street den Winter ignorieren, weil die Kälte ja kein Grund sein kann, die knappen Sommerkleidchen im Schrank verkümmern zu lassen, so trotzig sind die Glasvegians auch in anderen Fragen. Die Bewohner dieser Stadt scheint eine seltsame Mischung aus Melancholie, sozialistisch geprägtem Gerechtigkeitssinn und enormer Arbeitsmoral zu einen. „Wir sind vollkommen anders als Engländer“, versucht sich Fran Healy von Travis an einer Einführung in die Besonderheiten der schottischen Seele. So sei ein aus Schottland stammender Rockstar eigentlich ein Oxymoron: „Ruhm passt nicht zu unserer Mentalität. Ein Widerspruch, mit dem ich jahrelang gekämpft habe. Bei uns sind die Menschen freundlich und interessiert, das hat uns geprägt. Keiner darf sich über den anderen erheben.“

Warum wir hier sind? Glasgow gilt zurecht als erdverbundener Gegenpol zu dauerhektischen Hot Spots popmusikalischer Eitelkeiten wie London und Los Angeles. Von Orange Juice, Joseph K und Teenage Fanclub über die Delgados, Mogwai und Travis bis zu aktuellen Bands wie Franz Ferdinand und Glasvegas gedieh in diesem Milieu immer wieder herausragende Musik von internationaler Relevanz.

Entsprechend reich ist Glasgow an Legenden. Eine von ihnen geht so: An einem Abend des Jahres 1993 besuchte der ehemalige Bahnangestellte Alan McGee ein Konzert von Sugar im Glasgower Club „King Tut s Wah Wah Huf, kurz King Tut s. Im Vorprogramm spielte eine neue Band aus Manchester. Der Konzertsaal – niedrige Decken, ein paar Lampen an der Decke, unprätentiös – bietet 300 Menschen Platz, doch an jenem Abend sind außer Mc-Gee gerade einmal zwölf andere Leute da, drei davon japanische Touristen. Der Rest der Geschichte ist ebenso bekannt wie schnell erzählt: Oasis, so der Name der Band aus Manchester, werden aus dem Stand von McGee engagiert – der Beginn einer der größten Karrieren der Neunziger.

17 Jahre später ist das Tut’s in der St. Vincent Street immer noch einer der besten Clubs der Welt. Neben Oasis haben hier auch The Verve, Radiohead, Travis, Coldplay und Franz Ferdinand in frühen Stadien ihrer Karrieren Konzerte gespielt. 2002 wurde das Tut’s von „Radio I“ zu Großbritanniens bestem Live-Club gewählt. Heute wird kein Konzert gegeben, aber der Schankraum ist voll und es gibt das gute Tut’s Lager, gebraut übrigens von einem deutschen Braumeister.

„In Glasgow dreht sich immer noch alles ums Tut’s“, versichert Alan McGee mit dem ihm eigenen, keinerlei Widerspruch duldenden Tonfall. Der Selfmade-Mann stammt aus den sozialen Randgebieten der Stadt. Wenn er Glasgow mit einem Satz beschreiben soll, reichen ihm zwei Worte, pardon, Wörter: „Rock’n’Roll.“ Im UK wird McGee verehrt, seit er in den 80er-Jahren das Label Creation gründete, für das er unter anderem Teenage Fanclub und The Jesus And Mary Chain unter Vertrag nahm. Sein bislang letzter Coup war die Entdeckung von Glasvegas – wieder im Tut’s.

Alan McGee ist aber auch ein Mann, der exemplarisch den ewigen Konflikt zwischen Arbeiterklasse und Mittelschicht verkörpert, den man hier immer mitdenken muss. Er hasst die elitäre Attitüde der Glasgower Indie-Szene, in der natürlich – wie überall – eine ganz spezielle Art von Arroganz liegt: „Diese scheinheilige Haltung, dass diese oder jene Band toll war, als sie noch keiner kannte, ist in Glasgow ziemlich verbreitet. Ich hasse Menschen, die sich vom Erfolg einschüchtern lassen. Ohne ein riesengroßes Ego bringst du es nirgendwo zu irgendwas – Glasgow ist da keine Ausnahme.“

„McGee hat recht“, sagt Ian Cook, und nimmt einen Schluck Bier. „Man braucht wahrscheinlich schon ein großes Ego. Das fehlt uns, vielleicht haben wir es deshalb nie zu was gebracht.“ Zusammen mit Craig B. stand Cook der in Indie-Kreisen beliebten Post-Rock-Band Aereogramme vor, aktuell haben die beiden ein – tolles! – neues Projekt ins Leben gerufen: The Unwinding Hours. Wir haben Standort und Szene gewechselt, sitzen jetzt im Nicensleazy, dem zweitem wichtigen Glasgower Pop-Pub.

Schnell wird klar: Ohne Vollbart kann man in der Szene, die McGee meint, gleich einpacken. Cook hat einen, Craig B. arbeitet hart an seinem, Andy Wake von der Glasgower Hoffnung Phantom Band trägt ein besonders eindrucksvolles Gestrüpp. Der Unterschied zwischen Mittelschicht und Arbeiterklasse lässt sich in Glasgow nicht zuletzt an der Fülle der Gesichtsbehaarung festmachen.

„Glasvegas haben sich vor einigen Jahren bei uns beworben, und ich habe sie nicht genommen“, sagt Stuart Henderson mit einer Spur trotzigem Stolz (und einem Augenzwinkern). Der ehemalige Delgados-Bassist (Facon-Schnitt, kein Vollbart!) steht gemeinsam mit den anderen alten Delgados-Kollegen einem der verdienstvollsten Indie-Labels der Welt vor: Chemikal Underground. Verdienstvoll ja, ertragreich eher nicht. Man hätte die Platin-Alben und „NME“-Cover von Glasvegas durchaus brauchen können. Aber: „Sie waren mir nicht gut genug. Außerdem kann die Frau nicht Schlagzeug spielen.“

Es geht noch eine Weile so weiter, doch irgendwann löst sich das Gespräch über gestern und heute, oben und unten, Glasgow und die Welt im Bierdunst

auf. Die immer voller werdende Kneipe lässt keine Unterhaltung mehr zu und natürlich stimmen auch sämtliche Klischees die schottischen Trinkgewohnheiten betreffend: „Scots wollen immer alles auf einmal“, raunt Craig. „Wozu nur Bier trinken, wenn man auch Wein, Kokain und Whiskey haben kann?“

Am nächsten Morgen hängt der stechende Geruch von Chlor in der Luft. Craig B. brät ein paar Eier zum Frühstück, halbvolle Biergläser werden entsorgt, während die Putzfrau die letzten Reste der vergangenen Nacht in schwarzer Brühe aufgelöst übers Trottoir gießt. Es ist ein Zwischenzustand, nach der letzten und vor der nächsten Party, wie auch die Musik der Unwinding Hours ein Dazwischen, eine Zerrissenheit illustriert, die im krassen Gegensatz zur vermeintlichen Bodenständigkeit der Männer steht, die sie machen. Der eher schweigsame und zurückhaltende Craig B. ist ein verschmitzter, hintergründiger Typ, bei dem man auf feinste Nuancen achten muss. Der rotwangige Cook indes ist ein bisschen schüchtern, aber hochsympathisch und warmherzig. Beide eint ein süperber Humor. Mit Aereogramme haben sie die Welt bereist, beste Kritiken eingeheimst und vier Alben veröffentlicht. Nur Geld haben sie kaum verdient. Als nach dem prophetisch betitelten Werk „My Heart Has A Wish That You WouldNot Go“ der kommerzielle Erfolg abermals ausblieb, zogen sie die Konsequenzen. Eine nüchterne Erwachsenenentscheidung.

Zwei Jahre haben sie danach keine eigene Musik gemacht. Craig B. verdient seinen Lebensunterhalt als Koch im Sleazy’s. Cook arbeitet im kleinen Heimstudio in der Souterrain-Wohnung eines Freundes als Miet-Komponist für Film und Werbung – der letzte Auftrag kam aus Saudi-Arabien.

Irgendwann hatte B. dann wieder ein paar Songs. Die eine Frau war nach langer Beziehung gegangen, eine neue gekommen – wie gesagt: Zwischenmusik. „Craig brachte ein Demo mit Akustik-Versionen, und bat mich, ihm ein bisschen zu helfen“, erinnert sich Cook. Eine neue Band war eigentlich gar nicht geplant, trotzdem gibt es ein Jahr später eine Platte und demnächst auch eine Tournee. „Erwartungen haben wir keine mehr, aber alles, was jetzt passiert, nehmen wir gerne mit“, sagt Cook. Was anders ist als früher? Die Musik der Unwinding Hours ersetzt Heaviness durch Raum, Rifflastigkeit durch ein psychedelisches Shoegazer-Moment. Eine epische und sehr gehaltvolle Musik, die immer wieder an Aereogramme erinnert, aber songorientierter ist. Mit „Tightrope“ gelang den Musikern sogar eine Art Hit – der vermutlich wieder keiner werden wird.

Später am Nachmittag: Brian Young betreibt das „CaVa Sound“-Studio seit 1974. Ein Veteran und Record-Man der alten Schule, wie man sie nur noch selten trifft. Früher, als Jones mit Leuten wie Vashti Bunyan arbeitete, war dem Studio noch die nebenan liegende Kirche angeschlossen. Nun ächzt Youngs Schreibtisch unter der Last von Akten, Rechnungen und Materialbestellungen aus Jahrzehnten, jeder Zettel eine andere Geschichte. An den Wänden hängen vergilbte goldene Schallplatten von Deacon Blue und anderen, in einer Ecke steht eine alte Gretsch-Gitarre, die früher Mick Jones von The Clash gehört haben soll. Zuletzt hat Isobel Campbell hier den schottischen Teil ihrer Kollaborationen mit Mark Lanegan eingespielt. Das Belle And Sebastian-Hauptquartier ist gleich um die Ecke, aber Stuart Murdoch ist leider nicht zuhause.

Nicht zuletzt war das Studio in den Neunzigern den Chemikal-Künstlern zu einer Heimstatt geworden. Mogwai, Aereogramme – beinahe sämtliche Bands aus diesem Kreis nahmen ihre ersten Sachen bei Young auf. Zentrale des Labels war zu jener Zeit die Wohnung der Delgados-Musiker Paul Savage und Emma Pollock. Drei Zimmer, das Büro bestand aus einem Fax-Gerät in der Küche.

„Während ich mit ,Top Of The Pops“ telefonierte, kochte Emma hinter mir Nudeln“, erinnert sich Stuart Henderson. Der symphonische Sound des Delgados-Albums „The Great Eastern“ wurde erzeugt, indem sie dieselbe Geige hundert Mal hintereinander aufnahmen – ein Streichorchester war zu teuer.

Es wird immer wieder behauptet, die Delgados hätten Chemikal Underground gegründet, um die Alben ihrer eigenen Band zu vertreiben. Tatsächlich, so Henderson, „war es aber von Anfang an fest geplant, auch andere Künstler unter Vertrag zu nehmen. Die Idee, Tapes zu irgendwelchen Firmen zu schicken und dann die Hände in den Schoß zu legen und zu warten, erschien uns naiv“, so der Labelmanager weiter. „Wir wollten unsere Geschicke selbst in die Hand nehmen. Das war immer das Problem in Glasgow: Es gab eine aktive Szene, aber keine Infrastruktur – von Postcard einmal abgesehen. Das führte dazu, dass man nach London ging, wenn man es zu etwas bringen wollte. Diese Tradition wollten wir durchbrechen.“

Nach dem Vorbild von 4AD schufen Henderson und die anderen ein weltweit agierendes Label mit einer klaren künstlerischen Identität. „Es sollte typisch für Glasgow sein, aber trotzdem international ausgerichtet. Von Anfang an war uns eine enge menschliche Bindung, ein familiärer Geist wichtig. Zum Glück hatten wir schnell Erfolg – die Basis für den langen Atem, der uns bis heute am Leben hält.“

Immer noch sind die einstigen Delgados Paul Savage, Emma Pollock, Alun Woodward und Henderson die treibenden Kräfte. Auch wenn die gemeinsame Band dem Erfolg der Firma zum Opfer fiel.

„Irgendwann war ein Punkt erreicht, an dem wir wählen mussten: Band oder Label, sonst wären beide untergegangen. Wir hatten eine Verantwortung unseren Künstlern gegenüber, also entschieden wir uns für Chemikal.“ Die erfolgreichsten Chemikal-Releases sind „ComeAndDie Young“ von Mogwai und „The Great Eastern“. Demnächst könnte „Checkmate Savage“ hinzukommen, jenes hypnotisch psychedelische Debüt der Phantom Band, das Joy Division ebensoviel verdankt wie walisischem Folk und der schlangenbeschwörerischen Stimme von Rick Anthony. Als wir die Band in Glasgow treffen, probt sie gerade für den nächsten Gang ins Studio: Abermals mit jenem „Checkmate Savage“ übrigens, der natürlich kein Geringerer als Tausendsassa Paul Savage ist.

Savage ist der Netzwerker, das verbindende Element der Glasgower Szene. Kennt jeden, wird als Musiker, Labelchefund Produzent geachtet. Unter anderem betreute er das letzte Franz Ferdinand-Album, die daraufhin der Phantom Band ihr Studio zum Selbstkostenpreis überließen – Amtshilfe a la Glasgow. Dass Chemikal in Zeiten der Krise immer noch relativ erfolgreich agiert, ist solchen Verbindungen zu verdanken – und einer ergebenen internationalen Gefolgschaft fanatischer Plattensammler.

„Keine Ahnung, ob wir in zwei Jahren noch da sind“, sagt Paul Savage. „Rezeption und Konsumverhalten haben sich massiv verändert. Die Identifikation der Leute mit unserer Arbeit macht es für uns vielleicht leichter als für manchen anonymen Großkonzern. Wir müssen keine Millionen Platten verkaufen. Wenn The Unwinding Hours oder die Phantom Band 10 bis 20000 Platten im UK verkaufen, reicht uns das.“

Heute ist von Krise eh nichts zu spüren. Chemikal feiert 15. Jubiläum. Unter anderem dabei: The Unwinding Hours. Seit zwei Jahren standen Craig B. und Ian Cook nicht mehr auf der Bühne. Für das erste Konzert haben sie viel geprobt, besonders aufgeregt sind sie angeblich nicht: „Ich habe niemals Lampenfieber“, erklärt Craig B. Wie zur Bestätigung spielen er und Cook eine entspannte Partie Schach hinter der Bühne. Eine durchaus bizarre Szene, denn der mit Sofas und Tischen ausgestattete Backstage-Raum ist der reinste Taubenschlag: Arab Strap-Gründer Aidan Moffat, Emma Pollock und all die anderen geben sich die Klinke in die Hand. Zum Geburtstag haben sich eine Menge Leute angemeldet, aber Henderson wird wenig Zeit haben, sie zu begrüßen. Während Paul Savage der Übervater dieser Szene ist, sind sein Bruder Andrew und Henderson eifrige Frontkämpfer. Verkaufen Merch, geben Interviews, koordinieren die Auftritte und Einsätze der Künstler, sorgen für Getränke – und sind bei aller Geschäftigkeit stets zuvorkommend und freundlich. „Eigentlich ist bei denen immer noch alles wie früher“, sagt Andy Wake. „Die Nudeln, das Chaos, alles.“

Überhaupt nicht chaotisch, sondern wohlkoordiniert geht der Konzertabend im ABC dann über die Bühne. Moffat, Pollock, Zoey Van Goey, eine Art Chemikal-Allstar-Band und zahlreiche andere spielen 25-minütige Sets, die die ganze Vielfalt des Label-Spektrums illustrieren. The Unwinding Hours setzen ein phänomenales Glanzlicht mit einer optimal eingespielten Band – Cook und Craig B. wirken, als hätten sie nicht einen Tag pausiert. Abgeschlossen wird der Abend schließlich von einem großartigen Konzert der Phantom Band.

Moderiert wird das Ereignis von Vic Galloway. Irgendwann braucht der Mann mal zwei Wochen Zeit, seine Plattensammlung zu sortieren. Geschätzte 20000 sind es inzwischen, ein Riesen-Chaos – aber es ist ja immer so viel zu tun! Jeden Montag spielt der DJ neue schottische Bands auf „Radio Scotland“, mittwochs tut er das Gleiche UK-weit auf „Radio 1“. Es gibt kaum einen besseren Kenner der Szene als ihn. „Alles hängt in Glasgow zusammen, der Stab wird immer weiter gereicht“, erklärt Galloway. „Die alte Garde um Joseph K und Orange Juice respektierte Teenage Fanclub, der Fanclub ist den Chemikal-Leuten ebenso verbunden wie Alan McGee und so weiter. Musik überwindet hier Klassengrenzen. Ein Beispiel: Franz Ferdinand sind middle dass, werden aber von Arbeitern gehört, Glasvegas eine von Bürgerkindern hofierte woTking-class-Band. Und an Abenden wie dem Chemikal-Jubiläum feiern dann alle zusammen.“ Es ist beinahe zu schön, um wahr zu sein.

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