Das Haus, das Karl Marx baute
Man hat die Protagonisten der Linken noch nie so gelassen gesehen wie in den letzten Monaten. Die Geschichte zwar in den Augen vieler immer noch gegen sich, dafür aber die gegenwärtige Finanzkrise im Rücken, saßen Sarah Wagenknecht und Oskar Lafontaine lächelnd in Talkshows mit Titeln wie „Marx hatte Recht – Gebt uns den Sozialismus zurück“ oder „Banken in der Staatshand – Kapitalismus am Ende?“. Ihnen gegenüber hatten meist der gar nicht mehr so überhebliche Hans-Olaf Henkel, der sauerländische CDU-Halbstarke Friedrich Merz oder der ja tatsächlich aus Hoffenheim stammende und daher die Freuden der Kapitalakkumulation gerade erst entdeckende Volker Kauder Platz genommen. Quasi als laissez-fair-liberale Lichtdoubles des Kapitalismus. Früher mal wurde die herrschende Wirtschaftsordnung nur von ihren Gegnern mit dem K-Wort belegt, heute benutzt es selbst der Bundespräsident und frühere IWF-Chef Horst Köhler. Ja, der mit Dramatik sonst eher sparsame Schwabe erkannte in den internationalen Finanzmärkten sogar ein „Monster…, das in die Schranken gewiesen werden muss“.
Monster und Krisen gehörten im Kapitalismus ja schon immer zusammen. Auf den Schwarzen Freitag von 1929 antwortete Hollywood u.a. mit der Erfindung von „King Kong“, der das Finanzzentrum New York in Schutt legte. Zur Ölkrise kehrte der alte Affe in den Siebzigern zurück. Das Expeditionsteam eines – natürlich! – Ölmagnaten hatte ihn im Dschungel entdeckt und nach New York geschleift, wo er sich am World Trade Center zu schaffen machte. Gegenwärtig wartet man in den Kinos zwar noch vergeblich auf ein neues Monster – das „King Kong“-Remake kam zu früh oder Peter Jackson ist ein Prophet -, doch das liegt wohl daran, dass man in Hollywood noch die Kostüme der Superhelden verstauen muss, die im Sommer 2008 George W. Bush besiegten. Hierzulande gab es immerhin den Choleriker Andreas Baader, den Hochstapler Bendix Grünlich und Erwin Wagenhofers beängstigende Phänomenologie der globalisierten Gier „Let’s make money. Was macht die Bank eigentlich mit unserem Geld?“ Das kulturelle Klima hat sich erwärmt in den letzten Monaten. Ist nicht mehr eisig blau, sondern eher von rötlicher Wärme. Am Hamburger Schauspielhaus fragt Regisseur Volker Lösch, was aus der guten alten Revolution geworden ist, und die „Welt“ berichtet unter der Überschrift „Dank der Krise wird Pop wieder rebellisch“ über „Fundamental-Kritik“, „Visionen“ und „Utopien“ in den Songs von Peter Licht, Super 700, Ja. Panik, Trend und Deichkind. Vor der letzten Bundestagswahl hatte Ulf Poschardt (heute „Welt am Sonntag“) noch behauptet, die Linke habe auf die Fragen der Gegenwart keine Antworten mehr. „Versteht man Pop und seine Sehnsucht nach ungebremstem Freiheitsdrang essenzialistisch“, schrieb er in der „Zeit“, „dann gibt es für seine Anhänger nur eine Wahlempfehlung: die FDP.“ Wohl gemäß dem alten Schlager, in dem es heißt: „Freedom’s just another word for nothing left to lose.“ So gesehen könnte auch die FDP nach der Bundestagswahl 2009, falls sie möllemannmäßig im Erdboden versinken sollte, richtig frei sein.
Karl Marxens „Das Kapital“ verkauft derweil so gut wie wohl seit 1968 nicht mehr, und auch die Lektüre von Dietmar Daths historisch-materialistischer Evolutionsromanze „Die Abschaffung der Arten“ sowie seiner sozialistischen Streitschrift „Maschinenwinter“ war im letzten Jahr natürlich Pflicht. Dath ist es zudem auch, der in Alexander Kluges Film „Nachrichten aus der ideologischen Antike“ die originellsten und scharfsinnigsten Kommentare liefert.
Anhand einiger Notizen des russischen Regisseurs Sergej Eisenstein, in denen der sein (niemals verwirklichtes) Vorhaben schildert, „Das Kapital“ von Karl Marx zu verfilmen, sucht Kluge in dieser fast zehnstündigen Assoziationskette einen neuen Zugang zum auf den Uni-Bibliotheks-Regalen verstaubenden Klassiker. Gemeinsam mit Peter Sloterdijk, Oskar Negt, Hans Magnus Enzensberger, Helge Schneider, der wundervollen Sophie Rois und eben Dath schiebt er das durch den Zusammenbruch des Sozialismus stillgelegte Werk wieder an. Und indem er es aus dem historischen Kontext des Sowjetkommunismus in die ferne Vergangenheit zurücksetzt, macht der alte Dialektikfuchs es zugleich für die Zukunft urbar. „Wir können uns wie in einem Garten mit den fremden Gedanken von Marx und dem seltsamen Projekt von Eisenstein auseinandersetzen, weil sie Nachrichten aus der ideologischen Antike darstellen. So unbefangen, wie wir mit dem Altertum umgehen, das doch die besten Texte der Menschheit umfasst.“ Der mit dem großen Karl namensverwandte Bischof des Erzbistums München und Freising muss sich etwas sehr Ähnliches gedacht haben und hat ebenfalls ein Buch mit dem Titel „Das Kapital“ verfasst. Selbst in den Kirchen reden sie jetzt also mit Marx- und Engelszungen.