Das gefundene Fressen
Ausgerechnet Berlin wird zur neuen Hochburg des Dancehall-Reggae - und das Trio Seeed ist stolz darauf, dass es zwar in Bob Marleys Tradition steht, inzwischen aber HipHopper wie Tanzwütige anzieht
Bei Pierre hat der Friseur rein gar nichts, bei Alessa und Demba nicht viel mehr zu tun. Hüftenlange Dreadlocks gibt es nirgends zu verstauen, Strickmützen trägt ergo keiner der drei, Pullover in rot-grün-gelb auch nicht.
Der Reggae ist nicht mehr das, was er einmal war, und das findet nicht nur das Trio aus Berlin ziemlich angenehm. Eine erkleckliche Menge anderer Liebhaber der karibischen Klänge stimmt ihnen inzwischen zu. „Es ist ja nun nicht etwa so“, sucht Pierre schön langsam nach den treffenden Worten, „dass wir Schlagbäume runterlassen, um uns gegen den Reggae a la Marley abzugrenzen. Wir legen nur Wert auf die Feststellung, keinen jamaikanischen Sound zu produzieren.“ Demba und Alessa nicken stumm. Genau so ist es, ja, und so war’s auch schon damals vor knapp zwei Jahren, als das Trio einen offenbar sehr netten Abend verbrachte und am nächsten Morgen mit hübschen Spitznamen aufwachte. Könnte jedenfalls so gewesen sein, wer weiß. Demba Nabe hörte fortan auf den Namen „Ear“, Pierre Baigorry hieß plötzlich „Enuff“, und „Eased“ lautete der neue Name für Alessa Delle. Aus den Versatzstücken ließ sich zudem vortrefflich ein Bandname konstruieren: Seeed, das klang originell, das würde fortan mindestens jedes zweite Mal falsch geschrieben werden. Und es konnte für „Sub Dub and three Es“ stehen, auch nicht übel. Was nun Henne und was Ei zu nennen wäre, ob also erst die Nicknames und dann das Kürzel erfunden wurden oder umgekehrt, das ist versunkene Historie.
Ein kühner Plan aber war jetzt Realität. Wenn es denn jemals ein Plan gewesen ist, daran kann sich auch kaum jemand noch so genau erinnern. Auf Berlins „Chillin‘ Area“ YAAM jedenfalls, über die Jahre zum erst bloß beliebten, dann berühmten Hang-out für Musikanten, DJs, MCs oder auch „nur“ Szene-Insider geworden, formierte sich um die drei Es allmählich das, „was wir am Reggae so klasse finden“, wie Pierre sagt: „Du kannst da ’ne richtig riesige Band aufziehen und mit der ’ne dicke Show abliefern. Genau das funktioniert im HipHop eben einfach nicht“
Und deshalb sind er und die zwei Kollegen mittlerweile halt auch nur noch die Vorhut von Seeed, die Texter und Komponisten und Vortänzer, hinter denen acht weitere Akteure stehen. Was sich eigentlich schon wieder nach den Traditionen anhört. „Denen aber“, das Veto kommt diesmal von Alessa, „haben wir nur das Vokal-Trio entliehen. Alles andere hat nicht mehr viel mit Jamaika zu tun. Wie sollte das auch gehen, in Berlin lebt man schließlich an einem anderen Puls als in Kingston.“ Was aber nun mal nicht gegen die drei Stimmen gesprochen habe – „ob bei den Ur-Wailers, den Heptones oder Israel Vibration, das hat immer vorzüglich geklungen.“ Und das tut es nun auch in Berlin. Nur anders eben.
Aber warum überhaupt gerade in Berlin? Die Begründung fällt dem Trio doch sichtlich schwer. „Stimmt, irgendwie scheint die Stadt zur Hochburg des Dancehall Reggae geworden zu sein“, sagt Pierre und sieht recht nachdenklich dabei aus, „keine Ahnung, warum das so ist. In Hamburg gab es ja auch mal das Silly Sound System, in Köln oder Detmold und überall sonst ist Dancehall keine große Unbekannte. Aber in Berlin ist momentan der Hype am größten.“ Und vielleicht ja, nachdem die Bundeshauptstadt in Sachen HipHop, Drum’n’Bass und Trip-Hop von den sehr erfolgreich konkurrierenden Metropolen Nord und Westdeutschlands abgehängt worden war, auch der Nachholbedarf am größten. „Dancehall war für nicht wenige sozusagen ein gefundenes Fressen“, so Pierre, „und deshalb sind unsere Parties auch die mit Abstand verlässlich vollsten, da kann bestenfalls die Techno-Szene noch manchmal mithalten.“
Die Leute aber, welche sich für Reggae auch zwanzig Jahre nach Marleys besten Tagen noch begeistern mögen, strömen nun nicht etwa aus dem gesamten Bundesgebiet an die Spree wie einst die jungen Männer ohne Lust auf eine Uniform. „Das sind vielmehr Musiker“, meint Demba, „die schon seit Jahren dabei sind, aber jetzt zum ersten Mal die Chance auf ein größeres Publikum wittern. Und das sind natürlich die Quereinsteiger aus anderen Genres, die nun auf den Zug springen wollen, bevor er noch schneller wird.“ „Die meisten Wechselwähler“, glaubt Pierre zu wissen, „kommen ganz klar aus dem HipHop, während der dem Reggae eigentlich ja näher stehende Drum’n’Bass so die Art von Szene ist, die sich nicht verändert.“ Keine mehrheitsfaähige Meinung offenbar im Trio, denn Alessa ortet nun die jüngsten Anhänger doch eher „unter denen, die noch vor sechs Jahren nach Acid Jazz getanzt haben und nun was Neues brauchen, weil’s ihre Musik ja nicht mehr gibt“ Und last but not least, gibt Pierre noch zu bedenken, ist der Erfolg des Dancehall „auch die Rückkehr einer alten Liebe für viele. Ich bin in den Achtzigern mit Bob Marley aufgewachsen, und das geht vielen so, die sich jetzt schon freuen, auch mit fortgeschrittenem Alter mal eine gute Party besuchen zu können.“ Von der sie notfalls – ohne rot zu werden am nächsten Morgen beim Frühstück sogar den eigenen Kindern berichten können. Wenn die nicht sowieso dabei waren.
Schön aber auf jeden Fall, dass die elf Musikanten auf der Bühne sich freuen dürfen über ein Auditorium, „das sich auf keine Altersgruppe oder so festlegen lässt. Die Leute kommen querbeet aus allen Ecken, lediglich ein wirklich hoher Frauenanteil fällt auf.“ Über Gründe hierfür schweigt sich Pierre nun aber leider aus. Für Teens und Twens gleich in der ersten Reihe hingegen weiß er sie zu nennen: „Die Kids bekommst du mit einem simplen Trick in die Halle. Du nennst einfach den Reggae auf Plakaten Dub und lässt dich um Gottes Willen bloß nie mit einer dicken Wollmütze oder ähnlichen Klischee-Attributen ablichten.“ Sind die Leute erst einmal eingefangen, darf zum Bass für die Magennerven sogar die schöne Melodie folgen, mit der „dann sogar manche Omi zum Lächeln gebracht werden kann.“ Auch dies ein Phänomen, welches bereits bei den Altvorderen vor zwei Dekaden zu beobachten und zu bestaunen war, wenn komplette Familien sich barfuß mit Joint im Kreise drehten.
Bevor nun aber der falsche Eindruck entsteht, Seeed baue im Wesentlichen dann doch auf den Retro-Effekt und nehme bloß hier und dort und ohnehin kaum hörbare Änderungen am alten Vehikel vor, muss gewarnt werden. Mit einem Grinsen im Gesicht allerdings. Dass sich ja auch die Jungs nicht immer und schon gar nicht jetzt, nach dieser ungemein wohlriechenden Zigarette, verkneifen können. Die Berliner Reggae-Bigband führt Novitäten im Programm, die sich, so Pierre, „nicht darin erschöpfen, kein Selassie-Blabla zu bieten“. Stattdessen mischen sich bei Seeed sehr wenige lupenrein englische Verse mit recht vielen in jamaikanischem Patwa („European dem a sing so, Reggae boyz kick balla, the world is now smalla – ya know?“) und deutschen Rhymes.
Glauben wir den Ausführungen des Referenten Ear, so trägt an dieser Mixtur auch die Company eine Mitschuld. „Die sind momentan ja total spitz auf alles deutsch Gesungene, und es war gar nicht so einfach, denen meine Vorliebe für das Englische zu erklären.“ Andererseits, gibt Kollege Eased zu bedenken, wäre ohne
den Druck der Firma „vielleicht dieses schöne Experiment gar nicht erst entstanden“. Das könnte sein. Eher aber doch nicht, denn der dritte im Bunde, Enuff, lehnt sich nun zurück und blättert seine Historie auf den Tisch. Er schließlich habe „immer schon deutsche Texte geschrieben. Vielleicht mit weniger Mut damals, als es noch nicht so viele funktionierende Beispiele gab.“ Das übrigens, nur so nebenbei, nötige ihm auch hohen Respekt vor den Vorreitern ab. „Die Fantastischen Vier hatten ja nicht etwa von Anfang an diesen Ami-Flow, aber die sind echt tapfer geblieben und haben’s immer wieder probiert. So wie ganz, ganz früher mal der Udo Lindenberg. Also, ich bin doch ehrlich froh, hier jetzt nich‘ als erster den Versuch zu starten, Black Music auf deutsch zu singen. Echt froh!“
Und weil der Pierre nun so schön ins Reden, in den „Flow“ gekommen ist, erzählt er auch gleich noch, worüber er sonst so froh ist. Zum Beispiel über seine Reiselust, die ihn als Einzigen der drei Freunde bisher tatsächlich bis an jamaikanische Gestade gefuhrt hat. „Also, ich sage jetzt nicht, dass man Jamaika in- und auswendig kennen muss, um guten Reggae spielen zu können.“ Das wäre ja Quatsch. „Aber wer da mal war, der hat auch bestimmt eine andere Beziehung zu der Musik. Die hörst du da in jedem Bus, an jeder Imbissbude, und die ist immer richtig laut! Also, wer Reggae nicht echt gerne mag, der sollte auf keinen Fall nach Jamaika fahren, da kotzt der ab.“ Eine Erkenntnis, die schon andere Menschen bestätigt haben, Pierre entging der angenehmen Erfahrung freilich: „Ich fand’s natürlich toll da, und das nicht bloß, weil ich den ganzen Tag stoned gewesen bin.“
Der Mann ist kaum noch zu bremsen, was aber vielleicht gar nicht daran liegt, dass nur noch ganz wenig Zigarettenpapier auf dem Tisch zu erspähen ist, wo vorhin noch viel, viel mehr davon lag. Also jedenfalls Jamaika, genau, ja. „Da haben Lyrics auch noch ’ne andere Bedeutung“, Pierres Kollegen liegen jetzt fast in ihren Stühlen und lächeln wissend ob des Redners ausdauernden Qualitäten, „da will jeder den noch geileren Text als der andere drüber toasten.“
Welche Rolle, kurze Zwischenfrage, spielt denn eigentlich das legendäre Weed, Ganja, also Gras für den Reggae, zumal jenen aus Berlin, bis heute? Ear drückt den Joint aus und hüstelt, Enuff grinst „Keinen!“ Das kam unisono. „Ich kiffe ja nicht“, fast klingen Alessas scheue Worte wie ein Geständnis, „aber ich glaub‘ auch, das is‘ nich‘ wichtig.“ Wie jetzt? „Na gut“, Pierre hat den Faden endlich wieder gefunden, „klar sind bei den Aufnahmen und auf der Bühne und eigentlich immer eigentlich alle stoned.“.Bis auf ihn hier halt“, ein freundlicher Blick zu Alessa, „aber das schließt ihn ja nicht aus!“ Und das Entstehen guter Musik sowieso nicht. Und hören kann man sie ja auch ganz unbekifft und sie trotzdem mögen und überhaupt, ach was, egal jetzt. Die Jungs sind gut, das kann ja jeder hören, und ab März oder so gibt es auch ein Album. Das war jetzt Chronistenpflicht. Und Schluss!